NWB Nr. 35 vom Seite 2561

Verfassungswidrigkeit kein Dauerzustand

Prof. Dr. Matthias Hiller | Steuerberater | Professor für Rechnungswesen und Steuerlehre an der SRH Fernhochschule – The Mobile University

BVerfG: Verzinsung von Steuernachzahlungen und -erstattungen ab dem Jahr 2014 verfassungswidrig

Die Zinsfestsetzung gem. § 238 Abs. 1 AO zielt darauf ab, die Liquiditätsvor- und -nachteile, die aus einer von der tatsächlich festzusetzenden Steuer bisher abweichend entrichteten Steuer resultieren, auszugleichen. Die Zinsfestsetzung kann dabei sowohl für den Steuerpflichtigen (Verzinsung von Steuererstattungen) wie für den Fiskus (Verzinsung von Steuernachzahlungen) wirken und soll keinen „Strafcharakter“ haben. Soweit jedenfalls die konzeptionelle Theorie. In den letzten Jahren wurde die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe – für jeden Monat 0,5 %, somit 6 % pro Jahr – zunehmend kritisch diskutiert.

Der BFH ging in seinem Urteil v.  - III R 10/16 (BStBl 2018 II S. 255) noch von der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes für in das Jahr 2013 fallende Zinsen aus, meldete dann später aber ebenfalls „jedenfalls ab dem Verzinsungszeitraum 2015 schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel“ an (, BStBl 2018 II S. 415, hier Leitsatz). Die Bundesregierung war von der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes überzeugt (vgl. BT-Drucks. 19/20836 S. 3), obwohl die Höhe dieses Zinssatzes seit Jahrzehnten unverändert geblieben ist. Nunmehr hat das BVerfG die Verfassungswidrigkeit der Zinsregelung für Verzinsungszeiträume ab dem festgestellt und dennoch eine Fortgeltung der Regelung bis zum ermöglicht. Hierüber dürfte sich der Fiskus außerordentlich freuen, denn in den Jahren 2015 ff. verblieb in der Staatskasse jährlich in der Regel ein hoher dreistelliger Millionenbetrag an Zinseinnahmen (vgl. BT-Drucks. 19/20836 S. 2 f.). Erst für in das Jahr 2019 fallende Verzinsungszeiträume muss der Gesetzgeber bis zum eine Neuregelung schaffen (vgl. , 1 BvR 2422/17; s. hierzu Baum auf Seite 2580). Eine dynamische Regelung nach BGB-Vorbild könnte hier eine Reformalternative sein.

Bedenkt man, dass ein moderner Steuerstaat seine Legitimation insbesondere durch die verfassungskonforme Ausgestaltung des Steuerrechts erlangt, dann muss der Steuergesetzgeber aktiver an die Beseitigung nicht verfassungskonformer Regelungen herangehen. So hat sich die Feststellung der Verfassungswidrigkeit bei der Grundsteuer und Rentenbesteuerung seit Jahren abgezeichnet, dennoch wurden die Regelungen nicht proaktiv angepasst. Auch die Verfassungswidrigkeit bei der Steuerverzinsung kann für niemanden überraschend gewesen sein. Das BVerfG hat daher in seinem Beschluss die Regelung zur Zinshöhe als „evident realitätsfern“ bewertet. Offenbar benötigt die Anpassung von steuerlichen Regelungen zunehmend den judikativen Druck. Hierunter beginnt allerdings die Akzeptanz des Steuersystems zu leiden. Der Steuergesetzgeber muss daher die Reform des Steuerrechts angehen, damit dessen punktuelle Verfassungswidrigkeit nicht zum Dauerzustand wird.

Matthias Hiller

Fundstelle(n):
NWB 2021 Seite 2561
NWB LAAAH-88088