BSG Beschluss v. - B 13 R 29/21 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - rechtliches Gehör - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss - Erfordernis erneuter Anhörungsmitteilung

Gesetze: § 62 SGG, § 103 S 1 Halbs 1 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG, § 128 Abs 1 S 1 SGG, § 128 Abs 1 S 2 SGG, § 136 Abs 1 Nr 6 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: SG Magdeburg Az: S 10 R 1018/18 Urteilvorgehend Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Az: L 3 R 9/20 Beschluss

Gründe

1I. Mit Beschluss vom hat das LSG Sachsen-Anhalt einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung verneint.

2Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt, die sie mit Schriftsatz vom begründet hat.

3II. 1. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen. Die Beschwerdebegründung genügt nicht der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form. Die Klägerin hat darin die ausschließlich geltend gemachten Verfahrensmängel (Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG) nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Weise bezeichnet.

4Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass iS von § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels zunächst die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des Berufungsgerichts ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht (stRspr; zB - juris RdNr 5; jüngst - juris RdNr 4). Zu beachten ist, dass der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden kann, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Berufungsgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG). Den daraus abgeleiteten Darlegungsanforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.

5a) Die Klägerin rügt eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG), indem das LSG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG über ihre Berufung entschieden habe. Nach dieser Vorschrift kann das Berufungsgericht, außer in den Fällen, in denen erstinstanzlich durch Gerichtsbescheid entschieden worden ist, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die vom Berufungsgericht danach zu treffende Ermessensentscheidung für ein Vorgehen nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG wird vom Revisionsgericht lediglich darauf geprüft, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe erkennbar fehlerhaften Gebrauch gemacht hat, etwa wenn der Beurteilung sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zugrunde liegen (vgl zB - juris RdNr 10 mwN; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 499 mwN). Eine solche Ermessensüberschreitung durch das LSG ist nicht anforderungsgerecht dargetan.

6Die Klägerin bringt vor, im Rahmen der Anhörung zu der vom LSG beabsichtigten Entscheidung im vereinfachten Beschlusswege habe sie mit Schriftsatz vom als neue Tatsache die Aufnahme einer ambulanten Schmerztherapie mittels Schmerzmittelinjektion mitgeteilt. Zugleich habe sie verschiedene Beweisanträge gestellt bzw zuvor gestellte Beweisanträge aufrechterhalten. Insgesamt sei die Beurteilung ihres Leistungsvermögens äußerst komplex, weil sich orthopädische, schmerztherapeutische und psychiatrische Einflüsse überlagern würden. Damit ist nicht schlüssig dargetan, das LSG sei einer groben Fehleinschätzung erlegen oder habe aus anderen Gründen sein Ermessen bei der Entscheidung für ein Vorgehen nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG überschritten. Denn im Kern macht die Klägerin geltend, das LSG habe die Berufung nicht aufgrund der vorliegenden Ermittlungsergebnisse treffen dürfen, und erhebt damit letztlich eine Sachaufklärungsrüge. Deren Darlegungsanforderungen (hierzu unter d) können nicht durch eine Rüge in anderer Gestalt umgangen werden, weil andernfalls die Beschränkungen, die § 160 Abs 2 Nr 3 SGG für die Sachaufklärungsrüge normiert, im Ergebnis ins Leere liefen (vgl - SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 7; - juris RdNr 15; - juris RdNr 11).

7b) Die Klägerin rügt in diesem Zusammenhang einen Verstoß gegen § 153 Abs 4 Satz 2 SGG, indem das LSG sie nicht darauf hingewiesen habe, trotz ihres Vorbringens im Schriftsatz vom an einer Entscheidung im vereinfachten Beschlusswege festzuhalten. Nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG sind die Beteiligten zu hören, bevor das Gericht einen Beschluss nach Satz 1 fasst. Das BSG hält in ständiger Rechtsprechung eine erneute Anhörung für erforderlich, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert (vgl - juris RdNr 9; - SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 13; aus jüngerer Zeit zB - juris RdNr 6). Eine neue Anhörung ist daher zB dann erforderlich, wenn ein Beteiligter nach der Anhörungsmitteilung substantiiert neue Tatsachen vorträgt, die eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen erfordern, oder wenn er einen Beweisantrag stellt oder die Erhebung weiterer Beweise anregt, sofern diese entscheidungserheblich sind, das Berufungsgericht aber gleichwohl dem neuen Vorbringen, insbesondere Beweisanträgen, nicht zu folgen beabsichtigt, sondern am Verfahren nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG festhalten will ( - juris RdNr 8 mwN). Eine solche neue Prozesssituation wird in der Beschwerdebegründung nicht hinreichend dargetan.

8Die Klägerin bringt vor, dem LSG im Schriftsatz vom mitgeteilt zu haben, wegen ihrer Schmerzen, der bestehenden körperlichen Beeinträchtigungen und einer Unverträglichkeit der bisherigen Schmerzmedikation an die Neurochirurgin P1 überwiesen worden zu sein, die eine Behandlung mittels Schmerzmittelinjektion ab Januar 2021 plane. Ausgehend von ihrem Gesamtvorbringen ist die Schmerzerkrankung der Klägerin zuvor von ihrer Hausärztin Frau S "mit starken Medikamenten" behandelt worden; Befundberichte von Frau S haben dem LSG vorgelegen. Vor diesem Hintergrund erschließt sich nicht ohne Weiteres, unter welchem Gesichtspunkt der von der Klägerin mitgeteilte und ua mit einer Medikamentenunverträglichkeit begründete Therapiewechsel dem LSG Anlass zu weiteren Ermittlungen hätte geben müssen, wenn, wie die Klägerin selbst vorbringt, nach dessen Überzeugung bei ihr vordergründig ambulante Behandlungsmaßnahmen angezeigt seien, die auch durchgeführt würden. Der Klägerin hätte es daher oblegen näher darzulegen, inwiefern nach ihrem Dafürhalten im Zusammenhang mit dem Behandlungsbeginn bei P1 eine veränderte, weitere Sachverhaltsermittlungen erfordernde Prozesssituation eingetreten sei, zB, weil der von ihr geschilderte Wechsel der Therapie mit einer wesentlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands und Leistungsvermögens zusammenhing. Ihr pauschales Vorbringen, damit seien neue Tatsachen vorgetragen worden, reicht insoweit nicht aus.

9Ebenso wenig wird das Erfordernis weiterer Sachverhaltsermittlungen anforderungsgerecht dargelegt, indem die Klägerin sich auf ihre im Schriftsatz vom enthaltenen Beweisanregungen bezieht. Sie bringt hierzu vor, gegenüber dem LSG eine Fortsetzung der Sachverhaltsermittlung durch Einholung eines (weiteren) Sachverständigengutachtens sowie der Vernehmung von P1 zumindest angeregt zu haben. Es habe weiter dazu ermittelt werden sollen, dass sie nicht wegefähig sei, nicht im Umfang von mindestens sechs Stunden arbeitstäglich leichte Arbeiten ausüben zu können, eine Hüftoperation von ärztlicher Seite nicht empfohlen werde und sie keine Einlagen tragen könne. Die Klägerin versäumt es jedoch schlüssig darzulegen, dass es sich dabei um einen substanziell neuen Vortrag gehandelt habe, der nach ihrem Dafürhalten zu einer entscheidungserheblichen Änderung der bisherigen Prozesssituation geführt habe. Sie führt im Gegenteil selbst aus, bereits im Klageverfahren insbesondere vorgetragen zu haben, nicht viermal täglich eine Wegstrecke von mehr als 500 m innerhalb von 20 Minuten bewältigen zu können. Ua auf ein Vorbringen, mit dem ein früherer Vortrag lediglich wiederholt wird, braucht nicht mit einer erneuten Anhörungsmitteilung reagiert zu werden ( - juris RdNr 9).

10c) Indem die Klägerin vorbringt, das LSG habe sich in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Beschlusses weder mit ihren Einwänden gegen die vorliegenden Sachverständigengutachten noch mit der inzwischen aufgenommenen ambulanten Behandlung durch P1 auseinandergesetzt, rügt sie zumindest sinngemäß einen Verstoß gegen die Begründungspflicht (§ 128 Abs 1 Satz 2 SGG iVm § 136 Abs 1 Nr 6 SGG). Auch ein solcher Verfahrensmangel wird nicht anforderungsgerecht dargelegt (vgl zu den diesbezüglichen Darlegungsanforderungen zuletzt etwa - juris RdNr 13 mwN). Die Klägerin zeigt nicht auf, dass sich der Berufungsentscheidung die für die Entscheidung maßgeblichen Erwägungen des LSG nicht entnehmen lassen. Sie gibt diese vielmehr bei Mitteilung des Inhalts der angefochtenen Entscheidung wieder.

11d) Die Klägerin rügt einen Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 103 Satz 1 Halbsatz 1 SGG), indem das LSG verschiedenen, in der Berufungsbegründung und mit Schriftsatz vom gestellten bzw aufrechterhaltenen Beweisanträgen nicht gefolgt sei. Für den Vorhalt, das Berufungsgericht habe seine Verpflichtung zur Amtsermittlung verletzt, bestehen spezifische Darlegungsanforderungen. Diese Verfahrensrüge muss folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das Berufungsgericht nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, aufgrund derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen und zu weiterer Sachaufklärung drängen müssen, (3) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (4) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des Berufungsgerichts auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das Berufungsgericht mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der Beweisaufnahme von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigen Ergebnis hätte gelangen können (stRspr; vgl zB B 5a/5 R 382/06 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 5; - juris RdNr 6 mwN; jüngst - juris RdNr 4). Hierzu gehört nach ständiger Rechtsprechung des BSG ferner die Darlegung, dass ein - wie die Klägerin - bereits in der Berufungsinstanz anwaltlich vertretener Beteiligter einen Beweisantrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt und noch zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat (vgl B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN; , B 13 R 285/17 B - juris RdNr 14 mwN). Wird die Berufung - wie vorliegend - ohne mündliche Verhandlung durch einen Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG zurückgewiesen, tritt an die Stelle des Schlusses der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt des Zugangs der Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG. Diesen Darlegungsanforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Soweit die Klägerin sich auf Beweisanträge in der Berufungsbegründung bezieht, ergibt sich aus ihrem Vorbringen schon nicht, dass sie diese nach Erhalt der Anhörungsmitteilung gegenüber dem LSG aufrechterhalten habe. Ausgehend von ihren Ausführungen hat sie vielmehr mit Schriftsatz vom eigenständige, wenngleich teilweise inhaltsgleiche Beweisanträge gestellt. Auch in Bezug auf diese ist die Sachaufklärungsrüge nicht anforderungsgerecht erhoben.

12Soweit die Klägerin die unterlassene Einholung eines (weiteren) Sachverständigengutachtens rügt, sei dahingestellt, ob sie insoweit das Stellen formwirksamer Beweisanträge iS von § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 403 ZPO darlegt. Es fehlt jedenfalls an einer hinreichenden Darlegung, was eine neuerliche Begutachtung insbesondere zur ausreichenden endoprothetischen Versorgung voraussichtlich ergeben hätte. Wie die Klägerin selbst anführt, hätten das SG und das LSG Beweis zu den medizinischen Tatbestandsvoraussetzungen des § 43 SGB VI erhoben und habe dem LSG neben dem im Verwaltungsverfahren erstellten Gutachten das im erstinstanzlichen Verfahren von Amts wegen eingeholte Sachverständigengutachten des Orthopäden P2 vorgelegen. Dieser habe sich auch mit dem Sitz der bei der Klägerin vorhandenen Endoprothese befasst sowie mit den Auswirkungen der bestehenden Schmerzerkrankung und mit der Wegefähigkeit. Vor diesem Hintergrund hätte es der Klägerin oblegen darzutun, welche zusätzlichen Erkenntnisse von einem weiteren Sachverständigengutachten zu erwarten gewesen wären. Hieran fehlt es. Die pauschale Behauptung, das Gutachten des Sachverständigen P2 sei unergiebig und im Ergebnis unzutreffend, genügt insoweit nicht. Mit ihrem Vorbringen, die Fragen nach ihrer Erwerbsminderung sowie der nach ihrem Dafürhalten fehlenden Wegefähigkeit seien offengeblieben und bei einer "ordnungsgemäßen Sachaufklärung" hätten sich die Vorrausetzungen der begehrten Rente erweisen lassen, rügt die Klägerin letztlich eine Verletzung der Grenzen der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Hierauf kann aber eine Nichtzulassungsbeschwerde - anders als die Revision selbst - von vornherein nicht gestützt werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG). Dass die Klägerin die Entscheidung des LSG offensichtlich für unzutreffend hält, kann ebenfalls nicht zur Revisionszulassung führen (stRspr; vgl zuletzt etwa - juris RdNr 13 mwN).

13Gleiches gilt, soweit die Klägerin die unterbliebene Vernehmung ihrer neuen Behandlerin P1 zu den behaupteten quantitativen Einschränkungen ihres Leistungsvermögens und der behaupteten aufgehobenen Wegefähigkeit rügt. Soweit die Klägerin darüber hinaus rügt, P1 sei nicht zu der dort geplanten Schmerztherapie vernommen worden, fehlt es jedenfalls an einer schlüssigen Darlegung, dass und inwiefern sich das LSG hierzu von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt sehen müssen. Die Klägerin setzt sich insbesondere nicht damit auseinander, dass das LSG, wie sie selbst angeführt hat, von einer fortwährenden ambulanten Behandlung ihrer Schmerzerkrankung ausgegangen ist.

14Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

152. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2021:220621BB13R2921B0

Fundstelle(n):
JAAAH-87954