BAG Urteil v. - 2 AZR 193/21

Nicht rechtskräftige Aufhebung der Zustimmung des Integrationsamts zur außerordentlichen Kündigung

Gesetze: § 168 SGB 9 2018, § 171 Abs 4 SGB 9 2018, § 174 Abs 1 SGB 9 2018, § 174 Abs 3 SGB 9 2018, § 134 BGB

Instanzenzug: ArbG Frankfurt Az: 5 Ca 6363/18 Urteilvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 8 Sa 450/19 Urteilnachgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 8 Sa 959/21 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen Kündigung sowie einer außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist.

2Die einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellte Klägerin arbeitete seit dem Jahr 2002 bei der Beklagten. Diese beantragte mit Schreiben vom die Zustimmung des Integrationsamts zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung und (vorsorglichen) außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist. Das Integrationsamt eröffnete der Beklagten am , dass wegen Fristablaufs nach § 174 Abs. 3 SGB IX die Zustimmung als erteilt gelte.

3Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit zwei am selben Tag zugegangenen Schreiben vom unter Berufung auf verhaltensbedingte Gründe außerordentlich fristlos sowie vorsorglich außerordentlich mit Auslauffrist zum .

4Die Klägerin legte gegen die Zustimmung des Integrationsamts zu den Kündigungen Widerspruch ein. Mit einem Abhilfebescheid vom hob das Integrationsamt den „Bescheid … vom “ auf und versagte die Zustimmung zu den Kündigungen, da die Beklagte die Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX nicht eingehalten habe. Hiergegen brachte die Beklagte eine Klage vor dem Verwaltungsgericht an, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht noch rechtshängig war.

5Mit ihrer rechtzeitig beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat sich die Klägerin gegen die Rechtswirksamkeit der Kündigungen vom gewandt und behauptet, ein dienstliches Fehlverhalten liege nicht vor. Der Personalrat und die Schwerbehindertenvertretung seien nicht ordnungsgemäß angehört worden. Die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB und des § 174 Abs. 2 SGB IX sei nicht gewahrt.

6Die Klägerin hat beantragt

7Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt.

8Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Gründe

9Die zulässige Revision hat Erfolg. Mit der gegebenen Begründung durfte das Landesarbeitsgericht die Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende erstinstanzliche Urteil nicht zurückweisen. Ob das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigungen vom aufgelöst worden ist, kann der Senat nicht selbst entscheiden. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

10I. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Kündigungen seien schon deshalb nach § 134 BGB iVm. § 168 SGB IX nichtig, da der „Bescheid vom “ auf den Widerspruch der Klägerin aufgehoben wurde, auch wenn dieser Abhilfebescheid noch nicht rechtskräftig, sondern mit einer verwaltungsgerichtlichen Klage von der Beklagten angefochten worden ist, erweist sich als rechtsfehlerhaft.

111. Allerdings bedarf die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin durch die Beklagte gemäß §§ 168, 174 Abs. 1 SGB IX der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts, da sie einem schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellt ist. Auf gleichgestellte behinderte Menschen werden nach § 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen des Teils 3 des SGB IX - mit Ausnahme des § 208 SGB IX (Zusatzurlaub) und des Kapitels 13 des SGB IX (Unentgeltliche Beförderung) - angewendet. Dazu zählen auch die Kündigungsschutzbestimmungen in Kapitel 4 (§§ 168 bis 175 SGB IX; vgl. auch  - Rn. 18).

122. Die Zustimmung des Integrationsamts zu den beabsichtigten Kündigungen der Beklagten gilt gemäß § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX als erteilt, da das Integrationsamt auf den entsprechenden Antrag der Beklagten vom bis zum Ablauf des keine Entscheidung getroffen hat.

133. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts spielt es keine Rolle, dass das Integrationsamt auf den Widerspruch der Klägerin mit Abhilfebescheid vom den Ausgangsbescheid aufgehoben und die Zustimmung zu den außerordentlichen Kündigungen versagt hat, da der Abhilfebescheid noch nicht rechtskräftig ist.

14a) Liegt eine Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung vor, haben die Arbeitsgerichte dies ihren Entscheidungen zugrunde zu legen. Das gilt sowohl für ausdrückliche Entscheidungen des Integrationsamts nach § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX als auch für die Zustimmungsfiktion des § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX (vgl. auch zum Folgenden  - Rn. 31).

15aa) Die Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten hat zur Folge, dass die Gerichte aller Rechtszweige an ihr Bestehen und ihren Inhalt gebunden sind, selbst wenn sie rechtswidrig sind, soweit dem Gericht nicht die Kontrollkompetenz eingeräumt ist ( - Rn. 33; - 10 AZR 466/10 - Rn. 19). Das folgt aus Art. 20 Abs. 3 GG und § 43 VwVfG bzw. § 39 SGB X. Ein (rechtswirksamer) Verwaltungsakt ist daher grundsätzlich von allen Staatsorganen zu beachten und ihren Entscheidungen als gegeben zugrunde zu legen (st. Rspr., vgl.  - aaO;  4 CN 14.01 - zu 1 der Gründe, BVerwGE 117, 351). Die Tatbestandswirkung entfällt nur, wenn der Verwaltungsakt nichtig ist ( - aaO; - 10 AZR 466/10 - aaO).

16bb) Gemäß § 171 Abs. 4 SGB IX haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung des Integrationsamts keine aufschiebende Wirkung, worauf im Übrigen schon das Schreiben des Integrationsamts vom hinweist. Das bedeutet, dass die durch das Integrationsamt einmal erteilte Zustimmung zur Kündigung - vorbehaltlich ihrer Nichtigkeit - so lange Wirksamkeit entfaltet, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben ist. Für die Berechtigung des Arbeitgebers, auf der Grundlage des Zustimmungsbescheids die Kündigung zunächst zu erklären, ist es folglich ohne Bedeutung, ob die Zustimmung vom Widerspruchsausschuss oder einem Gericht aufgehoben wird, solange die betreffende Entscheidung nicht bestands- bzw. rechtskräftig ist (vgl.  - Rn. 22 f., 25, BAGE 145, 199; APS/Vossen 6. Aufl. SGB IX § 168 Rn. 37 und § 171 Rn. 11; ErfK/Rolfs 21. Aufl. SGB IX § 168 Rn. 14 und § 171 Rn. 4; LSSW/Löwisch 11. Aufl. Vor § 1 Rn. 213; KR/Gallner 12. Aufl. §§ 168 - 173 SGB IX Rn. 122 und 124, anders hingegen Rn. 123 am Ende). Wird die Zustimmungsentscheidung erst nach rechtskräftiger Abweisung der Kündigungsschutzklage bestands- oder rechtskräftig aufgehoben, steht dem Arbeitnehmer ggf. die Restitutionsklage nach § 580 ZPO offen ( - Rn. 24, aaO).

17cc) Diese Grundsätze hat das Landesarbeitsgericht nicht beachtet. Es übersieht, dass sich die Beklagte nach § 171 Abs. 4 SGB IX bis zu einer bestands- bzw. rechtskräftigen Aufhebung der durch Fristablauf eingetretenen Zustimmung des Integrationsamts auf diese berufen kann. Zu Unrecht hat sich das Landesarbeitsgericht zur Begründung seiner gegenteiligen Auffassung auf ein Urteil des Sechsten Senats des - 6 AZR 210/80 - BAGE 34, 275) berufen. In diesem wird gerade im Einklang mit den vorstehend wiedergegebenen Rechtssätzen ausgeführt, dass (nur) der Arbeitnehmer nach rechtskräftiger Abweisung seiner Kündigungsschutzklage und einer nachfolgenden bestands- oder rechtskräftigen Aufhebung der Zustimmungsentscheidung die Möglichkeit zur Erhebung einer Restitutionsklage hat.

18b) Die Zustimmung des Integrationsamts zu den Kündigungen ist (bisher) nicht rechtskräftig aufgehoben. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat die Beklagte gegen den aufhebenden Abhilfebescheid Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben, die zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung noch anhängig war.

19II. Die Sache ist an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO), da der Senat nicht selbst entscheiden kann.

201. Im fortgesetzten Berufungsverfahren wird das Landesarbeitsgericht insbesondere zu prüfen haben, ob ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung vorliegt und der Personalrat sowie die Schwerbehindertenvertretung vor deren Ausspruch ordnungsgemäß beteiligt wurden, was es bisher - nach seiner Begründungslinie konsequent - unterlassen hat. Ferner hat es auch über die Kosten des Revisions- und des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens zu entscheiden.

212. Dagegen bedarf die Einhaltung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB keiner Prüfung durch das Landesarbeitsgericht, sondern nur die des § 174 Abs. 5 SGB IX ( - Rn. 26, 32). Ebenso wenig besteht eine Prüfungskompetenz des Landesarbeitsgerichts, ob die Beklagte die Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX eingehalten hat ( -Rn. 31).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2021:220721.U.2AZR193.21.0

Fundstelle(n):
BB 2021 S. 1971 Nr. 33
NJW 2021 S. 10 Nr. 34
NJW 2021 S. 3069 Nr. 41
YAAAH-86134