BVerwG Urteil v. - 8 C 21/19

Härteausgleich zwischen kreisangehörigen Gemeinden für Aufwendungen im Zusammenhang mit übertragenen Aufgaben nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch

Leitsatz

Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot schützt das Vertrauen in ein auf der Grundlage der Rechtsordnung erworbenes Recht. Dies setzt eine dem Berechtigten individuell verliehene Rechtsposition voraus. Ein Anspruch auf Einräumung eines solchen Rechts oder das Bestehen einer für den Betroffenen günstigen Rechtslage genügt dafür nicht.

Gesetze: Art 20 Abs 3 GG, § 111 SGB 10, § 137 Abs 1 Nr 1 VwGO, § 144 Abs 4 VwGO

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: 12 A 2440/16 Urteilvorgehend VG Minden Az: 2 K 783/14 Urteil

Tatbestand

1Die Klägerin, eine kreisangehörige Gemeinde des Beklagten, wendet sich gegen die Heranziehung zur Zahlung eines Härteausgleichs zwischen kreisangehörigen Gemeinden im Zusammenhang mit den ihnen übertragenen Aufgaben nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.

2Der Beklagte übertrug durch Satzung über die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch im Kreis Minden-Lübbecke vom (Durchführungssatzung 2004) der Klägerin und den anderen kreisangehörigen Städten und Gemeinden die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende zur Entscheidung im eigenen Namen. Für diesen Fall regelte § 5 Abs. 5 Satz 1 des Gesetzes zur Ausführung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für das Land Nordrhein-Westfalen vom in der am in Kraft getretenen Fassung vom (GV. NRW. S. 292, nachfolgend: AG SGB II NRW), dass die Gemeinden 50 vom Hundert der entsprechenden Aufwendungen zu tragen hatten. Zudem sah Satz 2 dieser Vorschrift vor, dass die Kreise durch Satzung einen Härteausgleich festlegen konnten, wenn infolge erheblicher struktureller Unterschiede im Kreisgebiet die Beteiligung kreisangehöriger Gemeinden an den Aufwendungen für diese zu einer erheblichen Härte führte. Eine solche Ausgleichsregelung traf der Beklagte zunächst nicht.

3Auf Klage der Beigeladenen stellte das Oberverwaltungsgericht mit rechtskräftigem Beschluss vom (12 A 958/10) fest, dass der Beklagte verpflichtet sei, in die Durchführungssatzung 2004 eine finanzielle Härteausgleichsregelung für das Jahr 2006 zum Ausgleich bestehender erheblicher struktureller Unterschiede im Kreisgebiet aufzunehmen. Daraufhin beschloss der Kreistag des Beklagten am eine neue Satzung über die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Durchführungssatzung 2013). Sie trat am in Kraft und enthielt in § 8 Abs. 2 eine Regelung über den Härteausgleich zwischen den kreisangehörigen Städten und Gemeinden. Nach Absatz 3 dieser Vorschrift sollte der Härteausgleich rückwirkend ab dem berechnet werden. Auf dieser Grundlage zog der Beklagte die Klägerin mit Bescheid vom zum Härteausgleich für die Jahre 2006 (ab ) und 2007 heran.

4Die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat den Bescheid vom aufgehoben. Die Heranziehung der Klägerin zum Härteausgleich sei rechtswidrig. Die dem Bescheid zugrunde liegende Satzungsregelung des § 8 Abs. 2 und 3 der Durchführungssatzung 2013 verstoße aufgrund ihrer Rückwirkungsbestimmung gegen das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG und sei daher unwirksam. § 5 Abs. 5 Satz 2 AG SGB II NRW vermittle der Klägerin ein subjektiv-öffentliches, Vertrauensschutz begründendes Recht gegenüber dem Beklagten. In dieses greife der Erlass der Härteausgleichsregelung im Sinne echter Rückwirkung unzulässig belastend ein. Die Klägerin sei zwar als juristische Person des öffentlichen Rechts nicht grundrechtsfähig, könne sich aber gleichwohl auf Vertrauensschutz und damit auf das Rückwirkungsverbot berufen.

5Zur Begründung der Revision macht der Beklagte geltend, das Berufungsgericht nehme zu Unrecht die Voraussetzungen einer echten Rückwirkung an. § 5 Abs. 5 Satz 2 AG SGB II NRW vermittle der Klägerin kein subjektiv-öffentliches Recht, das Vertrauensschutz begründe. Sie habe nicht damit rechnen können, vom Härteausgleich verschont zu bleiben. Das Berufungsgericht verneine auch zu Unrecht einen Ausnahmetatbestand, dessen Vorliegen eine Durchbrechung des Rückwirkungsverbots rechtfertige. Zudem könne sich die Klägerin als juristische Person des öffentlichen Rechts nicht auf das Rückwirkungsverbot berufen.

6Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom zu ändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom zurückzuweisen.

7Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

8Die Klägerin verteidigt das Berufungsurteil und führt ergänzend aus, der Anspruch auf Härteausgleich sei auch in entsprechender Anwendung des § 111 SGB X ausgeschlossen.

9Der Vertreter des Bundesinteresses und die Beigeladene unterstützen das Vorbringen des Beklagten und tragen ergänzend vor, das Berufungsgericht leite zu Unrecht aus der Möglichkeit einer Rechtsverletzung das Bestehen einer vom Rückwirkungsverbot geschützten Rechtsposition ab.

Gründe

10Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Das Berufungsurteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht und erweist sich nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 137 Abs. 1 Nr. 1, § 144 Abs. 4 VwGO).

111. Das Berufungsurteil misst der Härteausgleichsreglung des § 8 Abs. 2 und 3 Durchführungssatzung 2013 eine verfassungsrechtlich unzulässige echte Rückwirkung bei, weil der Klägerin gegenüber dem Beklagten eine geschützte Rechtsposition im Sinne eines subjektiv-öffentlichen Rechts aus § 5 Abs. 5 Satz 2 AG SGB II NRW zustehe und der Erlass der Härteausgleichsregelung in diese Rechtsposition belastend eingreife. Diese Annahme geht von einem unzutreffenden Verständnis des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots aus und ist mit Art. 20 Abs. 3 GG nicht vereinbar.

12a) Das grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze beruht auf den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Es schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte. Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert, bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des Grundgesetzes, unter deren Schutz Sachverhalte "ins Werk gesetzt" worden sind (stRspr, vgl. - BVerfGE 132, 302 Rn. 41; - BVerfGE 148, 217 Rn. 134, jeweils m.w.N.). Das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze (stRspr, vgl. nur - BVerfGE 101, 239 <266 m.w.N.).

13Danach setzt die Anwendung des Rückwirkungsverbots einen belastenden Eingriff in ein vom Berechtigten auf der Grundlage der Rechtsordnung erworbenes Recht voraus (vgl. - BVerfGE 148, 217 Rn. 134 m.w.N.; auch 9 C 2.18 - BVerwGE 164, 212 Rn. 35). Das Rückwirkungsverbot schützt das Vertrauen in eine dem Normadressaten zugewiesene, individuell verliehene Rechtsposition. Der von Art. 20 Abs. 3 GG verbürgte Vertrauensschutz greift hingegen nicht schon ein, wenn dem Betroffenen lediglich ein Anspruch auf Einräumung eines solchen Rechts zusteht. Ebenso wenig genügt das Bestehen einer für den Betroffenen günstigen Rechtslage sowie die bloße Erwartung, von einer ihm nachteiligen Ermächtigung werde kein Gebrauch gemacht.

14b) Das Berufungsurteil wird diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht. Es lässt den begünstigenden Reflex einer abstrakt-generellen Regelung für die Annahme eines erworbenen Rechts genügen, ohne die Verleihung einer individuellen Rechtsposition zu verlangen. Die gesetzliche Ermächtigung des Beklagten, unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 5 Satz 2 AG SGB II NRW eine Härteausgleichsregelung zu erlassen, begründet kein individuelles Recht der Klägerin, von einer solchen Regelung für zurückliegende, von der Ermächtigung umfasste Ausgleichszeiträume verschont zu bleiben. Selbst wenn von einer solchen Ermächtigung nur verzögert Gebrauch gemacht wird, folgt daraus nur ein die - vorerst - nicht Herangezogenen begünstigender Rechtsreflex und nicht die Verleihung einer individuellen Rechtsposition.

152. Das Berufungsurteil beruht auf der aufgezeigten Verletzung revisiblen Rechts und erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO).

16a) Bei zutreffender Anwendung der Voraussetzungen des Rückwirkungsverbots liegt kein belastender Eingriff in ein erworbenes Recht der Klägerin vor. Das vom Berufungsgericht aus § 5 Abs. 5 Satz 1 und 2 AG SGB II NRW abgeleitete subjektiv-öffentliche Recht der Klägerin erfüllt die Anforderungen an ein erworbenes Recht nicht. Der Senat hat bei dieser Beurteilung das irrevisible Landesrecht in der durch das Berufungsgericht vorgenommenen Auslegung zugrunde zu legen (§ 173 Satz 1 VwGO, § 560 ZPO). Danach geht das Berufungsurteil davon aus, dass § 5 Abs. 5 Satz 1 und 2 AG SGB II NRW der Klägerin einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Erlass einer Härteausgleichssatzung vermittelt. Darüber hinaus entnimmt es der Vorschrift im Falle des Erlasses einer Härteausgleichssatzung die Verpflichtung zu einem zeitnahen Erlass, ohne die zeitlichen Grenzen näher zu bestimmen. Bei diesem Verständnis der Norm begründet das Unterbleiben einer zeitnahen Satzungsregelung lediglich eine für die Klägerin günstige Rechtslage, auf deren Fortbestand sie nicht vertrauen darf. Dagegen folgt daraus kein ihr individuell zuerkanntes Recht, eine nachträgliche Härteausgleichssatzung auch dann abzuwehren, wenn diese materiell-rechtlich gerechtfertigt ist.

17Liegen danach die Voraussetzungen eines erworbenen Rechts nicht vor, kann offenbleiben, ob das Berufungsurteil die weiteren Voraussetzungen einer echten Rückwirkung sowie die Ausnahmetatbestände, die eine Durchbrechung des Rückwirkungsverbots rechtfertigen könnten, zutreffend konkretisiert hat. Ebenso wenig bedarf der Erörterung, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen sich die Klägerin als nicht grundrechtsberechtigte Körperschaft des öffentlichen Rechts auf das Rückwirkungsverbot berufen könnte (vgl. hierzu 9 C 2.18 - BVerwGE 164, 212 Rn. 34 ff.; - BSGE 117, 149 Rn. 34 ff.).

18b) Auch sonstige Gründe stehen der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids nicht entgegen.

19aa) Die damit verfügte Heranziehung der Klägerin beruht auf einer hinreichend bestimmten Rechtsgrundlage. § 8 Abs. 2 Durchführungssatzung 2013 genügt den bundesverfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen. Das Bestimmtheitsgebot ist erst dann verletzt, wenn es wegen der Unbestimmtheit einer Vorschrift auch mit Hilfe der anerkannten Auslegungsmethoden nicht mehr möglich ist, objektive Kriterien zu gewinnen, die eine willkürliche Handhabung durch die Behörden ausschließen; im Übrigen genügt eine dem jeweiligen Sachzusammenhang angemessene Bestimmtheit. Dem Bestimmtheitsgebot kann auch keine Pflicht entnommen werden, die Bemessung einer Abgabe so auszugestalten, dass sie möglichst einfach zu ermitteln ist (vgl. 9 B 66.13 - juris Rn. 2 m.w.N.). Die in § 8 Abs. 2 Durchführungssatzung 2013 festgelegten Modalitäten für die Berechnung der Höhe des Härteausgleichs sowie für die Neuverteilung des Finanzierungsanteils der Kommunen sind danach hinreichend bestimmt.

20bb) Die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Heranziehungsbescheids folgt auch nicht aus § 111 Satz 1 SGB X. Die Vorschrift ist weder unmittelbar noch entsprechend anzuwenden. Wegen ihrer Zuordnung zum zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuchs betrifft sie die Zusammenarbeit der Leistungsträger und deren Erstattungsansprüche untereinander. Sie schließt einen solchen Anspruch aus, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages geltend macht, für den die Leistung erbracht wurde. § 111 SGB X regelt Erstattungsansprüche zwischen Sozialbehörden und damit einen Tatbestand, der mit dem hier zu beurteilenden Sachverhalt des interkommunalen Finanzausgleichs nicht vergleichbar ist; für eine Analogie bleibt daher kein Raum (vgl. 4 C 6.16 - BVerwGE 161, 99 Rn. 15). Abgesehen davon fehlt es schon an Anhaltspunkten für eine planwidrige Lücke der gesetzlichen Regelung, die im Wege einer analogen Anwendung des § 111 SGB X zu schließen wäre.

21cc) Die geltend gemachte Ausgleichsforderung ist schließlich nicht verjährt. Die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren (vgl. § 195 BGB) - ihre Anwendbarkeit unterstellt - beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist (vgl. § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB) und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Danach ist auf den Schluss des Jahres abzustellen, in dem die Härteausgleichsregelung in die Durchführungssatzung eingefügt wurde und in Kraft getreten ist. Das war im Januar 2013 der Fall, so dass die Verjährungsfrist erst mit dem Schluss dieses Jahres zu laufen begann und der mit Bescheid vom geltend gemachte Härteausgleich nicht verjährt war.

22Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2020:251120U8C21.19.0

Fundstelle(n):
SAAAH-85822