BVerwG Urteil v. - 1 C 28/20

Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch langjährige Behandlung als Deutscher und Erstreckung auf Abkömmlinge

Leitsatz

1. Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch langjährige Behandlung als deutscher Staatsangehöriger nach § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG erstreckt sich gemäß § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG kraft Gesetzes auf Abkömmlinge, die seither ihre Staatsangehörigkeit von dem Begünstigten ableiten, ohne dass es darauf ankommt, ob diese ihrerseits die Behandlung des Begünstigten als deutscher Staatsangehöriger zu vertreten haben.

2. Der Erstreckungserwerb der Abkömmlinge nach § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG wirkt auf den Zeitpunkt ihrer Geburt zurück. Sein Fortbestand hängt nicht davon ab, dass der Abkömmling in dem Zeitraum, auf den sich die Rückwirkung bezieht, keinen staatsangehörigkeitsrechtlichen Verlusttatbestand erfüllt hat.

Gesetze: Art 16 Abs 1 GG, § 21 RuStAG 1870, § 28 RuStAG, § 3 Abs 2 RuStAG, § 30 RuStAG, § 37 RuStAG, § 4 Abs 4 RuStAG, § 4 Abs 1 RuStAG, § 137 Abs 2 VwGO, § 137 Abs 1 VwGO

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: 19 A 169/19 Beschlussvorgehend Az: 10 K 11698/16 Urteil

Tatbestand

1Die Kläger begehren die Feststellung, dass sie deutsche Staatsangehörige sind, und die Ausstellung von Staatsangehörigkeitsausweisen.

2Der im April ... in M./Brasilien ehelich geborene Kläger und seine nichteheliche Tochter, die im September 2011 in C./Brasilien geborene Klägerin, sind (jedenfalls) brasilianische Staatsangehörige. Beide sind in einer ununterbrochenen väterlichen Linie Nachfahren des im August 1832 in .../preußische Provinz Sachsen geborenen H. F. M., der 1853 nach B./Brasilien ausgewandert war (Ururgroßvater des Klägers). Der Kläger hat nach eigenen Angaben von 2000 bis 2001 in Brasilien Militärdienst geleistet.

3Am stellte das Bundesverwaltungsamt dem Kläger und seinem Vater, dem 1947 in Brasilien geborenen T. V. M., bis zum gültige Staatsangehörigkeitsausweise aus. Dabei nahm es an, der Kläger und sein Vater hätten die deutsche Staatsangehörigkeit jeweils mit ihrer ehelichen Geburt durch Abstammung väterlicherseits erworben.

4Aus Anlass eines Staatsangehörigkeitsfeststellungsverfahrens der Schwester des Vaters des Klägers vermerkte das Bundesverwaltungsamt am in der Akte des Klägers, der Staatsangehörigkeitsausweis sei rechtswidrig ausgestellt worden. Diesem Vermerk lag eine Änderung seiner Rechtsauffassung zum Fortbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit bei Nachfahren deutscher Einwanderer in Brasilien zugrunde. Sie beruhte auf der Feststellung des Berufungsgerichts in einem anderen Verfahren, wonach die im 19. Jahrhundert nach Brasilien ausgewanderten deutschen Reichsangehörigen während der Geltung des StAG 1870 nur in sehr geringem Umfang von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, einen Staatsangehörigkeitsverlust durch Eintragung in das Matrikelbuch eines Reichskonsulats in Brasilien abzuwenden ( - juris Rn. 6).

5Im Dezember 2011 beantragte die Klägerin, vertreten durch den Kläger und ihre Mutter, beim Bundesverwaltungsamt die Ausstellung eines Staatsangehörigkeitsausweises. Das Bundesverwaltungsamt verstand diesen Antrag zugleich auch als Antrag des Klägers in eigenem Namen. Es teilte dem Generalkonsulat ... im April 2012 per E-Mail mit, dass es die Ausstellung der Staatsangehörigkeitsausweise an den Kläger und seinen Vater im Jahr 2003 seit dem Jahr 2009 als rechtswidrig ansehe, und bat, "für die genannten Personen zunächst keine weiteren Pässe auszustellen". Bei einem erneuten Antrag sei zu prüfen, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit durch Ersitzung erworben hätten.

6Mit Bescheid vom , dem Kläger ausgehändigt im Honorarkonsulat C./Brasilien am , stellte das Bundesverwaltungsamt in Bezug auf beide Kläger fest, dass sie nicht deutsche Staatsangehörige seien.

7Den dagegen erhobenen Widerspruch wies das Bundesverwaltungsamt zurück. Es führte aus, der 1853 ausgewanderte Ururgroßvater des Klägers habe seine Eigenschaft als Preuße nach § 15 Abs. 3 i.V.m. § 23 des Gesetzes vom 31. Dezember 1842 über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als preußischer Untertan sowie über den Eintritt in fremde Staatsdienste durch zehnjährigen Aufenthalt im Ausland verloren. Eine dadurch etwa eintretende Staatenlosigkeit habe dieses Gesetz in Kauf genommen. Selbst wenn der Ururgroßvater aber bei Gründung des deutschen Reiches 1871 noch im Besitz der preußischen Untertaneneigenschaft gewesen wäre, wäre ein Verlust sowohl bei diesem als auch bei dem 1877 geborenen Urgroßvater jedenfalls im Jahr 1881 nach § 21 StAG 1870 durch zehnjährigen legitimationslosen Auslandsaufenthalt eingetreten. Ein Matrikelschein, mit dem der Verlust habe abgewendet werden können, sei nicht vorgelegt worden; ebenso fehle es an anderweitigen aussagekräftigen Indizien dafür, dass die die Staatsangehörigkeit erhaltenden Maßnahmen tatsächlich ergriffen worden seien.

8Mit Urteil vom wies das Verwaltungsgericht Köln die dagegen erhobene Klage ab. Zur Begründung führte es aus, die Kläger hätten die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt erworben, weil ihre Vorfahren väterlicherseits, von denen sie ihre deutsche Staatsangehörigkeit ableiteten, bereits keine deutsche Staatsangehörigkeit (mehr) besessen hätten. Die Kläger hätten die deutsche Staatsangehörigkeit auch nicht durch Ersitzung erworben. Es sei nichts dafür ersichtlich, dass der Vater des Klägers nach Ablauf seines bis gültig gewesenen Staatsangehörigkeitsausweises weiterhin als deutscher Staatsangehöriger behandelt worden sei.

9Im Berufungsverfahren haben die Kläger unter Vorlage entsprechender Kopien erstmals vorgetragen, dem Vater des Klägers (T. V. M.) sei noch im August 2014 vom Generalkonsulat ... ein bis August 2024 gültiger neuer Reisepass ausgestellt worden. Auch die Kläger hätten im Juni 2017 vom Generalkonsulat ... Reisepässe erhalten, gültig bis Juni 2027 (Kläger) bzw. bis Juni 2023 (Klägerin). Sie haben zudem eine im Juli 2014 vom Standesamt I in Berlin ausgestellte Geburtsurkunde der Klägerin in Kopie eingereicht.

10Das Oberverwaltungsgericht hat durch Beschluss vom die (Negativ-)Feststellung, dass die Kläger nicht deutsche Staatsangehörige seien, aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Klägern Staatsangehörigkeitsausweise auszustellen. Die Kläger hätten die deutsche Staatsangehörigkeit am nach § 3 Abs. 2 Satz 1 und 4 StAG dadurch erworben, dass das Bundesverwaltungsamt und das Generalkonsulat ... den Vater des Klägers, der zuvor ausschließlich brasilianischer Staatsangehöriger gewesen sei, seit dem - und damit zwölf Jahre lang - durchgängig als deutschen Staatsangehörigen behandelt hätten. Ihm sei im April 2003 ein Staatsangehörigkeitsausweis und im August 2014 ein Reisepass ausgestellt worden. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei die amtliche Behandlung des Vaters des Klägers als deutscher Staatsangehöriger nicht vor dem dadurch beendet worden, dass das Generalkonsulat dem Kläger am im Honorarkonsulat C./Brasilien den ausschließlich an ihn selbst und die Klägerin gerichteten, hier streitgegenständlichen Bescheid vom habe aushändigen lassen. Es sei schon nicht feststellbar, dass der Vater zwischen der Aushändigung an den Kläger am und dem Ablauf des Zwölf-Jahres-Zeitraums am überhaupt Kenntnis vom Inhalt des Bescheides erlangt habe. Der Vater des Klägers habe diese Behandlung als deutscher Staatsangehöriger in der Zeit von April 2003 bis April 2015 nicht zu vertreten. Eine etwaige Obliegenheitsverletzung des Klägers sei seinem Vater als staatsangehörigkeitsrechtlich eigenständig handlungsfähiger Person nicht zuzurechnen. Der damit rückwirkend eingetretene Staatsangehörigkeitserwerb des Vaters des Klägers erstrecke sich nach § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG auch auf die Kläger als Abkömmlinge, die seither ihre Staatsangehörigkeit von dem Vater ableiteten. Dem Wortlaut und dem Zweck des Satzes 4 ließen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der dort geregelte Erstreckungserwerb des Abkömmlings ebenso wie der Vertrauensschutzerwerb des Stammberechtigten nach Satz 1 von dem ausschließlich dort erwähnten negativen Tatbestandsmerkmal des Nichtvertretenmüssens abhänge. Ebenso wenig stehe es dem gesetzlichen Erstreckungserwerb entgegen, wenn der Kläger in der Zeit bis zum - etwa mit dem Eintritt in die Streitkräfte eines ausländischen Staates - Verlusttatbestände verwirklicht hätte, mit der Folge, dass eine mit Geburt erworbene deutsche Staatsangehörigkeit bei hypothetisch-rückschauender Betrachtung vor dem verloren gegangen wäre.

11Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 3 StAG. Die Auslegung dieser Vorschrift durch das Berufungsgericht unterlaufe das Gesetzesziel, Ersitzungstatbestände auf Gutglaubensfälle zu beschränken. Es fehle beim Vater des Klägers bereits an einer zwölfjährigen durchgängigen Behandlung als deutscher Staatsangehöriger. Der ihm erteilte Staatsangehörigkeitsausweis habe weder bindende noch über den hinausreichende Wirkung gehabt. Erst am sei dem Vater ein deutscher Reisepass ausgestellt worden. Selbst wenn aber beim Vater des Klägers von einer Ersitzung der deutschen Staatsangehörigkeit infolge einer durchgehenden "Deutschenbehandlung" auszugehen wäre, habe einer Erstreckung dieses Erwerbs auf die Kläger jedenfalls deren böser Glaube entgegengestanden. Dass dies den Erstreckungserwerb nicht hindere, entspreche weder der Intention des Gesetzgebers noch sei diese Auslegung aufgrund des Wortlauts der Norm geboten.

12Die Kläger verteidigen den angegriffenen Beschluss.

13Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren und schließt sich der Rechtsauffassung der Beklagten an.

Gründe

14Die Revision ist nicht begründet. Das Oberverwaltungsgericht hat die Beklagte zu Recht unter Aufhebung der gegenteiligen (Negativ-)Feststellung verpflichtet festzustellen, dass die Kläger deutsche Staatsangehörige sind, bzw. ihnen Staatsangehörigkeitsausweise auszustellen. Seine Rechtsauffassung, die Kläger hätten die deutsche Staatsangehörigkeit nach § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG erworben, steht im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO).

15Die Klage ist - wie im Berufungsurteil ausgeführt - als kombinierte Verpflichtungs- und Anfechtungsklage statthaft. Sie ist primär auf die in § 30 Abs. 1 Satz 1 und 2 StAG vorgesehene verbindliche behördliche Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit gerichtet; zugleich begehren die Kläger zulässigerweise die Aufhebung der von Amts wegen möglichen (§ 30 Abs. 1 Satz 3 StAG), hier vom Bundesverwaltungsamt ausdrücklich getroffenen, selbstständig belastenden Feststellung, dass sie nicht deutsche Staatsangehörige sind. Die Klage ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere fehlt dem Kläger nicht deshalb das Rechtsschutzinteresse, weil ihm das Bundesverwaltungsamt bereits am einen für zehn Jahre gültigen Staatsangehörigkeitsausweis ausgestellt hatte. Denn dieser Staatsangehörigkeitsausweis hatte nach der seinerzeit geltenden Rechtslage nur den Charakter einer widerlegbaren Vermutung (vgl. 1 C 17.14 - BVerwGE 151, 245 Rn. 13 f.). Ein verbindliches behördliches Staatsangehörigkeitsfeststellungsverfahren hat der Gesetzgeber erst mit § 30 StAG in der Fassung von Art. 5 Nr. 19 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom (BGBl. I S. 1970) geschaffen.

16Die Klage ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat zutreffend entschieden, dass die Kläger am die deutsche Staatsangehörigkeit nach § 3 Abs. 2 Satz 4 i.V.m. Satz 1 StAG mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt ihrer Geburt dadurch erworben haben, dass deutsche Stellen den Vater des Klägers seit dem - und damit zwölf Jahre lang - als deutschen Staatsangehörigen behandelt haben, ohne dass dieser seine Behandlung als Deutscher zu vertreten hatte. Die Kläger haben die deutsche Staatsangehörigkeit nicht schon im Wege des (regulären) Abstammungserwerbs nach § 4 Abs. 1 StAG bei Geburt erworben (dazu 1.). Der Vater des Klägers, der zuvor ausschließlich brasilianischer Staatsangehöriger war, ist aber durch die langjährige irrtümliche Behandlung als Deutscher nach § 3 Abs. 2 Satz 1 und 3 StAG rückwirkend zum Zeitpunkt seiner Geburt im Jahr 1947 deutscher Staatsangehöriger geworden (dazu 2.). Dessen Staatsangehörigkeitserwerb erstreckt sich gemäß § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG kraft Gesetzes auf die Kläger als Abkömmlinge, die seither ihre Staatsangehörigkeit von ihm ableiten (dazu 3. und 4.).

17Maßgeblich für die Prüfung des Anspruchs auf behördliche Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit ist die gegenwärtige Rechtslage ( 1 C 16.16 - NVwZ 2017, 1312 Rn. 10). Die rechtliche Beurteilung richtet sich damit nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz - StAG - in der aktuell geltenden Fassung, zuletzt geändert durch Art. 4 der Elften Zuständigkeitsanpassungsverordnung vom (BGBl. I S. 1328), soweit sich aus dem anzuwendenden materiellen Recht nichts Abweichendes ergibt.

181. Einem Staatsangehörigkeitserwerb der Kläger durch Geburt nach § 4 Abs. 1 StAG steht entgegen, dass schon der Vater des Klägers die deutsche Staatsangehörigkeit nicht im Wege des Abstammungserwerbs durch eheliche Geburt nach § 4 Abs. 1 RuStAG 1913 in der zum Zeitpunkt seiner Geburt im August 1947 geltenden Fassung erworben hat. Nach dieser Vorschrift erwarb das eheliche Kind eines Deutschen durch die Geburt die Staatsangehörigkeit des Vaters. Hiernach hat der Vater des Klägers die deutsche Staatsangehörigkeit nicht erworben, weil bereits der Großvater väterlicherseits des Klägers, der 1910 in Brasilien geborene F. M., die preußische Staatsangehörigkeit (die als "Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaate" gemäß § 1 des Gesetzes über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870 - StAG 1870 - die Bundeszugehörigkeit vermittelte), nicht mehr durch Geburt nach § 3 StAG 1870 erwerben konnte. Auch nach dieser Regelung erwarben durch die Geburt, auch wenn diese im Ausland erfolgte, eheliche Kinder eines (Nord-)Deutschen die Staatsangehörigkeit des Vaters. Der Großvater des Klägers, F. M., konnte indes bei seiner Geburt im Jahr 1910 von seinem Vater, dem im März 1877 in B./Brasilien geborenen F. M., die preußische Staatsangehörigkeit nicht ableiten, weil dieser im Geburtszeitpunkt seines Sohnes jedenfalls nicht mehr preußischer Staatsangehöriger war.

19Der Senat lässt mit dem Berufungsgericht offen, ob der 1853 ausgewanderte Ururgroßvater des Klägers, H. F. M., seine Eigenschaft als "preußischer Untertan" bereits nach § 23 des Gesetzes über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als preußischer Untertan sowie über den Eintritt in fremde Staatsdienste vom 31. Dezember 1842 infolge seines mehr als zehnjährigen Aufenthalts im Ausland verloren hatte, mit der Folge, dass sein 1877 geborener Sohn F. M. die preußische Staatsangehörigkeit schon nicht durch Abstammung erworben hätte. Denn selbst wenn F. M. mit seiner Geburt im Jahr 1877 die preußische Staatsangehörigkeit bzw. Bundeszugehörigkeit noch erworben haben sollte, so hätte er diese nach § 21 Abs. 2 StAG 1870, jedenfalls aber nach § 21 Abs. 1 Satz 1 StAG 1870 spätestens zehn Jahre nach Erreichen der Volljährigkeit mit damals noch 21 Jahren, also im März 1908 - und damit vor der Geburt seines Sohnes F. im Jahr 1910 - verloren.

20Nach § 21 Abs. 1 StAG 1870 verloren "(Nord-)Deutsche, welche das Bundesgebiet verlassen und sich zehn Jahre lang ununterbrochen im Ausland aufhalten", dadurch ihre Staatsangehörigkeit. Die Frist wurde "von dem Zeitpunkte des Austritts aus dem Bundesgebiete oder, wenn der Austretende sich im Besitz eines Reisepapieres oder Heimatscheines befindet, von dem Zeitpunkte des Ablaufs dieser Papiere an gerechnet." Sie wurde unterbrochen durch die Eintragung in die Matrikel eines Bundeskonsulats. Bei Minderjährigen, die sich ohne ihre Eltern im Ausland aufhielten, wurde nach damaliger Praxis von einem Fristlauf erst ab erreichter Volljährigkeit ausgegangen (vgl. etwa Grill, Die Reichsgesetze über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit und über die Freizügigkeit, 2. Aufl. 1901, S. 57). Zutreffend hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass § 21 Abs. 1 StAG 1870 auch auf im Ausland geborene Kinder von Auswanderern Anwendung fand (dazu näher - OVGE MüLü 55, 93 ff. = juris Rn. 33-41). § 21 Abs. 2 StAG 1870 bestimmte zudem, dass sich der nach Abs. 1 eingetretene Verlust der Staatsangehörigkeit zugleich auf die Ehefrau und auf diejenigen Kinder erstreckte, deren gesetzliche Vertretung dem Ausgetretenen kraft elterlicher Gewalt zustand, soweit sich die Ehefrau oder die Kinder bei dem Ausgetretenen befanden.

21Nach diesen Regelungen hat der 1877 geborene Urgroßvater des Klägers F. M. eine bis dahin in der Generationenkette etwa erhalten gebliebene preußische Staatsangehörigkeit bzw. Bundeszugehörigkeit wahrscheinlich schon gemäß § 21 Abs. 2 StAG 1870 aufgrund Erstreckung eines bei seinem Vater, dem 1853 ausgewanderten H. F. M., nach § 21 Abs. 1 StAG eingetretenen Verlusts verloren; spätestens wäre der Verlust aber zehn Jahre nach Erreichen der eigenen Volljährigkeit, also im März 1908 gemäß § 21 Abs. 1 StAG 1870 eingetreten. Denn nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ist nicht davon auszugehen, dass namentlich der 1877 geborene F. M. von den Möglichkeiten zur Abwendung des Staatsangehörigkeitsverlusts Gebrauch gemacht hatte; insbesondere hat eine - nach § 21 Abs. 1 Satz 3 StAG 1870 fristunterbrechende - Eintragung in die Matrikel eines Bundeskonsulats, für die die Kläger die Beweislast tragen, nicht festgestellt werden können (vgl. näher BA S. 11).

222. Der Vater des Klägers hat die deutsche Staatsangehörigkeit jedoch nach § 3 Abs. 2 Satz 1 und 3 StAG dadurch erworben, dass deutsche Stellen ihn irrtümlich zwölf Jahre lang als deutschen Staatsangehörigen behandelt haben (2.1.), ohne dass er dies zu vertreten hatte (2.2.). Er ist dadurch rückwirkend zum Zeitpunkt seiner Geburt deutscher Staatsangehöriger geworden (2.3.).

23Diese Regelung, nach der die deutsche Staatsangehörigkeit gewissermaßen durch "Ersitzung" erworben werden kann, ist mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom (BGBl. I S. 1970) in das Staatsangehörigkeitsgesetz aufgenommen worden. Sie dient dem Vertrauensschutz des Einzelnen und der Gewährleistung von Rechtssicherheit, vor allem in den Bereichen, in denen die deutsche Staatsangehörigkeit Voraussetzung weiterer Rechte ist, etwa beim Wahlrecht oder im Beamtenrecht (siehe auch BT-Drs. 16/5065, S. 227). Der Staatsangehörigkeitserwerb nach § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG setzt voraus, dass der Betroffene seit zwölf Jahren von deutschen Stellen als deutscher Staatsangehöriger behandelt worden ist und dies nicht zu vertreten hat. Er findet nur auf Personen Anwendung, die - wie der Vater des Klägers - nicht ohnehin bereits die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, die also zu Unrecht als deutsche Staatsangehörige behandelt werden. Nicht erforderlich ist, dass der Betroffene einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat; die Regelung kommt auch Auslandsdeutschen zugute (vgl. etwa Kau, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Aufl. 2017, § 3 Rn. 7).

242.1. Der Vater des Klägers ist zwölf Jahre lang von deutschen Stellen als deutscher Staatsangehöriger behandelt worden.

25a) Deutsche Stellen im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG sind Verwaltungsbehörden oder Selbstverwaltungsorgane, die unmittelbar oder mittelbar mit der Prüfung der Staatsangehörigkeit des Betroffenen befasst sind. Dazu zählen neben den Staatsangehörigkeitsbehörden und den mit konsularischen Angelegenheiten befassten Stellen des Auswärtigen Amtes vor allem die Pass-, Ausweis- und Meldebehörden und die Standesämter. Eine Behandlung als deutscher Staatsangehöriger liegt insbesondere in der Ausstellung eines Staatsangehörigkeitsausweises, Reisepasses oder Personalausweises (§ 3 Abs. 2 Satz 2 StAG). Die Behandlung als Deutscher muss "seit zwölf Jahren" andauern. Sie darf demnach keine Unterbrechung aufweisen und muss bei Inkrafttreten der Norm am noch fortdauern (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 227; Berlit, in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 2 Rn. 39). Eine Behandlung als deutscher Staatsangehöriger endet, wenn dem Betroffenen von einer deutschen Stelle im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG Zweifel am Bestehen seiner deutschen Staatsangehörigkeit mitgeteilt werden. Das gilt insbesondere, wenn ihm ein Bescheid dieser Stellen bekannt gegeben wird, in dem vom Nichtbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit ausgegangen wird, aber auch schon dann, wenn ihm eine zuständige deutsche Stelle Umstände zur Kenntnis bringt, die zu einer anderweitigen staatsangehörigkeitsrechtlichen Bewertung führen (können) und/oder ein Staatsangehörigkeitsprüfungsverfahren offenen Ausgangs eingeleitet wird (vgl. Berlit, in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 2 Rn. 38; - juris Rn. 25). Die fortdauernde Gültigkeit eines der in § 3 Abs. 2 Satz 2 StAG aufgeführten Dokumente steht der Beendigungswirkung in derartigen Fällen jedenfalls dann nicht entgegen, wenn diesen nur Indizwirkung für das Bestehen der deutschen Staatsangehörigkeit zukommt, wie dies bei Personalausweisen, Reisepässen und vor dem Inkrafttreten des § 30 StAG in der Fassung von Art. 5 Nr. 19 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom (BGBl. I S. 1970) ausgestellten Staatsangehörigkeitsausweisen der Fall ist.

26b) Nach diesen Maßstäben ist das Oberverwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass der Vater des Klägers am seit zwölf Jahren durchgehend irrtümlich von deutschen Stellen als deutscher Staatsangehöriger behandelt worden ist. Denn ihm ist nach den für das Revisionsgericht bindenden Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts am vom Bundesverwaltungsamt ein bis gültiger Staatsangehörigkeitsausweis und am vom Generalkonsulat ... ein bis zum gültiger Reisepass ausgestellt worden. Beide Behörden sind zuständige deutsche Stellen im Sinne des Erwerbstatbestands, wie sich bereits aus § 3 Abs. 2 Satz 2 StAG rückschließen lässt. Sie dürfen Staatsangehörigkeitsausweise und Reisepässe nur deutschen Staatsangehörigen ausstellen und haben das Bestehen der deutschen Staatsangehörigkeit vor der Ausstellung derartiger Dokumente folglich in geeigneter Weise zu prüfen.

27Entgegen der Auffassung der Beklagten fehlt es an einer durchgängigen Behandlung als Deutscher nicht deshalb, weil der dem Vater des Klägers erteilte Staatsangehörigkeitsausweis im April 2013 seine Gültigkeit verloren hat und ihm erst im August 2014 ein Reisepass ausgestellt worden ist. Diese zeitliche Lücke begründet jedenfalls hier keine anspruchsschädliche Unterbrechung. Das Berufungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass der Ausstellung des Reisepasses durch das Generalkonsulat ... im August 2014 erneut derselbe Rechtsirrtum zugrunde lag, auf dem bereits die Ausstellung des Staatsangehörigkeitsausweises beruhte. Mangels zwischenzeitlicher Änderung der staatsangehörigkeitsrechtlich relevanten Verhältnisse musste hiervon auch der Vater des Klägers ausgehen, auf dessen Sicht im Hinblick auf den Vertrauensschutzcharakter des § 3 Abs. 2 StAG maßgeblich abzustellen ist. Fehlt es aber an tatsächlichen Umständen, die die Möglichkeit eines Staatsangehörigkeitserwerbs erst in der Zeit zwischen den beiden "Behandlungen" als Deutscher begründen könnten, darf der Betroffene aus einer erneuten Behandlung als deutscher Staatsangehöriger schließen, dass ihn die zuständigen deutschen Stellen auch weiterhin als deutschen Staatsangehörigen betrachten. Damit wird eine zeitliche Lücke, in der sich dieser nicht im Besitz eines Deutschen vorbehaltenen Dokuments befindet, jedenfalls geschlossen. Ob bereits die einmalige Ausstellung eines solchen Dokuments mit einer Gültigkeit von weniger als zwölf Jahren ausreichen kann, um nach Ablauf von zwölf Jahren den Erwerbstatbestand zu erfüllen (dagegen etwa BeckOK MigR/Schöninger, 7. Ed. , § 3 StAG Rn. 46a), bedarf hier keiner Entscheidung.

28Im Einklang mit Bundesrecht steht auch die Würdigung des Berufungsgerichts, die Behandlung des Vaters des Klägers als deutscher Staatsangehöriger sei nicht vor dem Ablauf von zwölf Jahren Anfang April 2015 dadurch beendet worden, dass das Generalkonsulat dem Kläger am im Honorarkonsulat C./Brasilien den ausschließlich an die beiden Kläger gerichteten Bescheid vom hat zustellen lassen. Eine - vertrauensbegründende - Behandlung als deutscher Staatsangehöriger durch eine deutsche Stelle kann schon grundsätzlich nicht durch eine Amtshandlung beendet werden, die gegenüber einem Dritten ergeht, ohne dass die genannte Stelle (auch) den Betroffenen darüber in Kenntnis setzt. Dass die Beklagte auch den Vater des Klägers vom Inhalt des Bescheides informiert hätte, hat das Berufungsgericht indes weder festgestellt noch wird dies von der Beklagten geltend gemacht.

292.2. Rechtsfehlerfrei ist das Berufungsgericht auch zu dem Ergebnis gekommen, dass der Vater des Klägers seine zwölfjährige Behandlung als deutscher Staatsangehöriger nicht zu vertreten hat (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz StAG). Diese Voraussetzung bezieht sich auf den Grund für die rechtsirrige Behandlung als Deutscher. Dieser Grund darf - wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend ausführt - nicht in unzutreffenden oder unvollständigen Angaben des Ausländers über tatsächliche Umstände aus seinem persönlichen Lebensbereich liegen, die Gegenstand seiner staatsangehörigkeitsrechtlichen Mitwirkungspflicht nach § 37 Abs. 1 StAG i.V.m. § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG sind (vgl. auch Kau, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Aufl. 2017, § 3 Rn. 8 sowie BT-Drs. 16/5065, S. 227).

30Auf der Grundlage der im Berufungsbeschluss getroffenen, für das Bundesverwaltungsgericht nach § 137 Abs. 2 VwGO grundsätzlich bindenden Tatsachenfeststellungen ist die Würdigung des Berufungsgerichts, der Vater des Klägers habe seine Behandlung als deutscher Staatsangehöriger nicht zu vertreten, nicht zu beanstanden. Danach ist der maßgebende Grund für dessen irrtümliche Behandlung als deutscher Staatsangehöriger die früher vertretene Rechtsauffassung der Beklagten gewesen, dass sich die Beweisnot vieler Nachfahren von deutschen Einwanderern in Brasilien (in Bezug auf die Vornahme einer Matrikeleintragung im Sinne von § 21 StAG 1870) nicht zu deren Lasten auswirken dürfe. Diese - später revidierte - Rechtsauffassung hat der Vater des Klägers nicht veranlasst; sie ist ausschließlich der Verantwortungssphäre der Beklagten zuzurechnen, zumal vom betroffenen Ausländer regelmäßig keine besseren Kenntnisse des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts und der historischen Tatsachengrundlagen erwartet werden können als von den mit der Prüfung staatsangehörigkeitsrechtlicher Fragen befassten Behörden. Ob Bösgläubigkeit automatisch ein Vertretenmüssen begründet und insbesondere eine allgemeine Hinweisobliegenheit auch auf rechtserhebliche Umstände besteht, die den zuständigen staatlichen Stellen bereits verfügbar sind (verneinend Kau, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Aufl. 2017, § 3 Rn. 8; BeckOK MigR/Schöninger, § 3 StAG Rn. 55; VG Stade, Urteil vom - 1 A 560/09 -, StAZ 2010, 115 ff. = juris Rn. 29), bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung. Denn das Berufungsgericht ist in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen, es sei nicht feststellbar, dass der Vater des Klägers in dem kurzen Zeitraum vom (Zustellung des Bescheides vom an die Kläger) bis zum (Ablauf des Zwölfjahreszeitraums) vom Inhalt des Bescheides Kenntnis erlangt hätte. An diese Feststellung, gegen die die Beklagte keine Verfahrensrüge erhoben hat, ist der Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden.

31Ob der Kläger selbst die zwölfjährige Behandlung seines Vaters als Deutscher zu vertreten hat, kann an dieser Stelle offenbleiben, weil dies der Ersitzung der deutschen Staatsangehörigkeit durch seinen Vater nicht entgegenstünde. Einer staatsangehörigkeitsrechtlich eigenständig handlungsfähigen Person (vgl. § 37 Abs. 1 Satz 1 StAG) kann das Verhalten eines nicht ausdrücklich zur Vertretung ermächtigten Familienangehörigen nicht zugerechnet werden. Dass der Kläger zur Vertretung seines Vaters ermächtigt gewesen wäre, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt und macht die Beklagte auch nicht geltend.

322.3. Erfüllte der Vater des Klägers damit am die Voraussetzungen für eine Ersitzung der deutschen Staatsangehörigkeit nach § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG, ist er damit rückwirkend auf den Zeitpunkt seiner Geburt im Jahr 1947 deutscher Staatsangehöriger geworden. Denn nach § 3 Abs. 2 Satz 3 StAG wirkt der Erwerb der Staatsangehörigkeit auf den irrig angenommenen Erwerbszeitpunkt - hier also den Zeitpunkt der Geburt des Vaters des Klägers - zurück.

333. Der Staatsangehörigkeitserwerb des Vaters des Klägers erstreckt sich gemäß § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG auf den Kläger als Abkömmling, der seither seine Staatsangehörigkeit von jenem ableitet. Auch bei dem Erstreckungserwerb handelt es sich um einen rückwirkenden Staatsangehörigkeitserwerb (3.1.). Dieser hängt nicht davon ab, dass der Abkömmling seinerseits die Behandlung als deutscher Staatsangehöriger nicht zu vertreten hat (3.2.). Der Staatsangehörigkeitserwerb aufgrund Erstreckung besteht in dem für die begehrte Feststellung in tatsächlicher Hinsicht maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts (vgl. 1 C 16.16 - NVwZ 2017, 1312 Rn. 10) unabhängig davon fort, ob der Kläger vor dem Eintreten der Erstreckungswirkung im April 2015 durch einen freiwilligen Eintritt in die brasilianischen Streitkräfte einen Verlusttatbestand verwirklicht hat (3.3.).

343.1. § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG stellt ausdrücklich klar, dass sich ein Staatsangehörigkeitserwerb nach § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG kraft Gesetzes auf Abkömmlinge erstreckt, die seither - also seit dem Zeitpunkt, auf den der Erwerb der Staatsangehörigkeit zurückwirkt - ihre Staatsangehörigkeit von dem nach Satz 1 Begünstigten ableiten. Diese Regelung überlagert einen schon aufgrund der Rückwirkung des Ersitzungserwerbs des Stammberechtigten etwa eintretenden Abstammungserwerb der Staatsangehörigkeit durch die seither geborenen Abkömmlinge. Damit wird der nach Satz 1 Begünstigte auch hinsichtlich seiner Abkömmlinge zumindest so gestellt, wie er stünde, wenn die irrige Annahme der Behörden, er sei deutscher Staatsangehöriger, von Beginn an zugetroffen hätte. Auch der Erstreckungserwerb der Abkömmlinge wirkt mithin auf den Zeitpunkt von deren Geburt zurück. Nach verbreiteter Auffassung geht der Zweck des in § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG vorgesehenen Erstreckungserwerbs noch darüber hinaus und sollen generell sämtliche Abkömmlinge, die nach dem Zeitpunkt, auf den die Staatsangehörigkeit des Ersitzenden zurückwirkt, geboren wurden, deutsche Staatsangehörige werden. Darauf, ob diese nach der allgemeinen Regelung des Abstammungserwerbs in der im Geburtszeitpunkt des Abkömmlings geltenden Fassung die Staatsangehörigkeit von jenem ableiten könnten, soll es nicht ankommen (vgl. etwa Marx, GK-StAR, Stand: September 2020, § 3 Rn. 63-67; Geyer, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3 StAG Rn. 11; BeckOK MigR/Schöninger, 7. Ed. , § 3 StAG Rn. 59). Mit dieser - überkompensierenden - Auslegung soll die fortdauernde Anwendung gleichheitswidriger früherer Fassungen des heute in § 4 Abs. 1 StAG geregelten Abstammungserwerbs vermieden werden. Anlässlich des Streitfalles bedarf keiner Entscheidung, inwieweit dem zu folgen ist (zur Problematik der "hypothetischen Betrachtung" auch in Anwendung gleichheitswidrigen Staatsangehörigkeitsrechts s. -, InfAuslR 2020, 285). Denn als eheliches Kind von T. V. M., das bei Erfüllung der Erwerbsvoraussetzungen durch seinen Vater am bereits geboren war, ist der Kläger dessen Abkömmling und leitet seither seine Staatsangehörigkeit von seinem Vater ab, ohne dass es darauf ankommt, auf welche Fassung des § 4 Abs. 1 (Ru)StAG für diese Frage abzustellen ist.

353.2. Im Einklang mit Bundesrecht steht auch die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, die Erstreckung des Staatsangehörigkeitserwerbs auf Abkömmlinge nach § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG hänge nicht von der zusätzlichen Voraussetzung ab, dass (auch) der Abkömmling die Behandlung (des Vorfahren) als deutscher Staatsangehöriger nicht zu vertreten hat. Der Einwand der Revision, die "Bösgläubigkeit" des Klägers im Zeitpunkt des Ersitzungserwerbs seines Vaters stehe der Erstreckung dieses Erwerbs auf ihn selbst entgegen, greift daher schon aus diesem Grund nicht durch.

36Für die Unerheblichkeit eines Vertretenmüssens des Abkömmlings streitet mit erheblichem Gewicht schon der Wortlaut der Vorschrift. Danach "erstreckt sich" der Staatsangehörigkeitserwerb "auf Abkömmlinge, die seither ihre Staatsangehörigkeit von dem nach Satz 1 Begünstigten ableiten." Dies legt nahe, dass der Erstreckungserwerb von keinen weiteren Voraussetzungen abhängig sein soll. Die systematische Auslegung bestätigt diesen Befund. Zum einen ist das Tatbestandsmerkmal des "Nichtvertretenmüssens" ausdrücklich nur in § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG als den Ersitzungserwerb hindernd erwähnt und hat der Gesetzgeber von einer solchen Voraussetzung bei der in § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG geregelten Erstreckung auf Abkömmlinge gerade abgesehen. Zum anderen meint "Erstreckung" des Staatsangehörigkeitserwerbs auf Abkömmlinge auch in anderen Vorschriften deren automatischen Staatsangehörigkeitserwerb, ohne dass auch in ihrer Person die Voraussetzungen für den Staatsangehörigkeitserwerb des Stammberechtigten ganz oder teilweise vorliegen müssten (vgl. etwa § 6 Satz 2 StAG; siehe auch 5 C 21.05 - Buchholz 130.0 RuStAÄndG Nr. 5 Rn. 16 mit weiteren Beispielen).

37Weder die Begründung des Gesetzentwurfs noch die teleologische Auslegung führen mit hinreichender Klarheit zu einem anderen Ergebnis. Zwar heißt es in der Gesetzesbegründung: "Soweit jemand jedoch wissentlich auf die Umstände eingewirkt hat, die deutsche Stellen dazu veranlasst haben, ihn bisher als deutschen Staatsangehörigen zu behandeln, ist der Erwerb nach § 3 Abs. 2 ausgeschlossen" (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 227). Daraus ergibt sich - auch unter Berücksichtigung der unmittelbar zuvor erwähnten Erstreckung auf Abkömmlinge - indes nicht eindeutig, dass der Gesetzgeber diesen Satz trotz Fehlens eines entsprechenden Hinweises im Gesetzestext auch auf die Abkömmlinge bezogen wissen wollte. Da die Formulierung auf eine eigene Behandlung als deutscher Staatsangehöriger abhebt, erfasst sie ausdrücklich nur den "Betroffenen", also denjenigen, der die Staatsangehörigkeit nach § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG durch langjährige Behandlung als Deutscher erwirbt. Die Erstreckung des Erwerbs auf Abkömmlinge setzt nach Wortlaut und Zweck des § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG nicht voraus, dass der Abkömmling jemals selbst als deutscher Staatsangehöriger behandelt worden ist. Der Sinn und Zweck des Erstreckungserwerbs ist mangels anderweitiger klarer Angaben in der Gesetzesbegründung darin zu sehen, durch ausdrückliche Anordnung sicherzustellen, dass sich der rückwirkende Staatsangehörigkeitserwerb des Ersitzenden auch bei den Abkömmlingen im Wesentlichen so fortsetzt, wie dies der Fall gewesen wäre, wenn die der Behandlung als Deutscher zugrundeliegenden irrtümlichen Annahmen von vornherein zugetroffen hätten. Dann aber kann ohne ausdrückliche Anordnung im Gesetz nicht davon ausgegangen werden, dass die Erstreckung auf Abkömmlinge weiteren ungeschriebenen Einschränkungen unterliegt. Der vorliegende Fall gibt dabei keinen Anlass zu erörtern, ob der Erstreckungserwerb auch gegen den zuvor erklärten Willen des Abkömmlings erfolgt oder hierauf in entsprechender Anwendung des § 26 StAG bereits für den Erwerbszeitpunkt verzichtet werden kann.

383.3. Dem Fortbestand des rückwirkenden Staatsangehörigkeitserwerbs des Klägers bis zum maßgeblichen Zeitpunkt steht auch nicht entgegen, dass dieser nach eigenen Angaben von 2000 bis 2001 in Brasilien Militärdienst geleistet hat. Ob er damit den Verlustgrund des § 17 Nr. 5 i.V.m. § 28 StAG (freiwilliger Eintritt in fremde Streitkräfte) verwirklicht hat, ist auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen nicht zu beurteilen. Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, ob es sich bei der Militärdienstleistung des Klägers um einen freiwilligen Eintritt in die brasilianischen Streitkräfte gehandelt hat oder er nur einer Wehrpflicht nachgekommen ist. Dies bedarf aber auch keiner weiteren Klärung. Denn das Berufungsgericht hat im Ergebnis zutreffend entschieden, dass die Verwirklichung eines derartigen Verlustgrundes in dem Zeitraum, in dem der Abkömmling infolge der Erstreckung lediglich rückwirkend in den Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit gelangt, deren weiteren Fortbestand nicht hindert. Zwar liegt darin eine gewisse "Überkompensation", weil der Abkömmling bessergestellt wird, als er stünde, wenn der Stammberechtigte die deutsche Staatsangehörigkeit bereits auf der Grundlage des irrig angenommenen Erwerbstatbestandes tatsächlich erworben hätte. Gegen die Anwendbarkeit von Verlustgründen in einem Zeitraum, in dem der Abkömmling erst nachträglich rückwirkend deutscher Staatsangehöriger wird, dies aber während des tatsächlichen Erlebens dieses Zeitraums noch nicht war, bestehen hier aber durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken.

39Der nach Art. 16 Abs. 1 GG aufgrund eines Gesetzes mögliche Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit setzt voraus, dass der deutsche Staatsangehörige den Eintritt der gesetzlichen Rechtsfolge in zumutbarer Weise beeinflussen kann (vgl. - BVerfGE 116, 24 <44>). Daraus hat das Bundesverwaltungsgericht für den Verlusttatbestand des § 25 (Ru)StAG gefolgert, dieser sei einschränkend dahin auszulegen, dass bei Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit auf Antrag die deutsche Staatsangehörigkeit nur verloren geht, wenn der Erwerber seine deutsche Staatsangehörigkeit kannte oder sie hätte kennen müssen. Denn nur dann hat dieser objektiv Anlass, von der ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch zu machen, die Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung zu beantragen und bis zu deren Erhalt auf den Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit zu verzichten oder seinen Schritt noch einmal zu überdenken (vgl. 5 C 5.09 - NVwZ-RR 2010, 658 und - 5 C 4.09 - juris Rn. 9, sowie Urteil vom - 5 C 20.09 - Buchholz 130 § 25 StAG Nr. 15 = juris Rn. 14 f.). Diese Erwägungen sind auf den Verlustgrund des § 28 StAG übertragbar. Auch hier hat nur Anlass, bei seiner Entscheidung über den Eintritt in fremde Streitkräfte seine deutsche Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen und sich gegebenenfalls um eine die Verlustfolge abwendende Zustimmung des Bundesministeriums der Verteidigung zu bemühen, wer um seine deutsche Staatsangehörigkeit weiß. Diese Voraussetzung kann aber nicht erfüllt sein, wenn der Betroffene - wie hier - im Zeitpunkt seines den Verlusttatbestand erfüllenden Verhaltens noch nicht einmal objektiv deutscher Staatsangehöriger ist.

40Unabhängig davon bedürfte die Berücksichtigung von Verlustgründen während einer nur rückwirkenden Besitzzeit der deutschen Staatsangehörigkeit zumindest einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung. Eine solche wäre aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, denen im Bereich der staatsangehörigkeitsrechtlichen Verlustregelungen erhebliche Bedeutung zukommt (vgl. zuletzt - InfAuslR 2019, 390 Rn. 33; ebenso - BVerfGE 116, 24 <45>), erforderlich. Eine derartige Regelung, wie sie etwa in § 3 Abs. 4 des Zweiten Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit vom (BGBl. I S. 431) - 2. StAngRegG - vorgesehen war, enthält § 3 Abs. 2 StAG aber nicht.

414. Auch die Klägerin hat als Abkömmling ihres Großvaters nach § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG rückwirkend auf den Zeitpunkt ihrer Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erworben.

42Der Begriff der "Abkömmlinge" erfasst auch die Kindeskinder (vgl. etwa zu Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG 1 C 35.93 - BVerwGE 95, 36 = juris Rn. 10 ff.). Die Klägerin ist damit Abkömmling ihres Großvaters; sie leitet auch seither ihre Staatsangehörigkeit - über das vermittelnde Glied ihres Vaters - von diesem ab, ohne dass es darauf ankommt, welche Fassung des § 4 Abs. 1 (Ru)StAG dafür gegebenenfalls jeweils heranzuziehen ist. Mit Blick auf ihre nichteheliche Geburt bedarf es allerdings zur Geltendmachung des Staatsangehörigkeitserwerbs einer nach den deutschen Gesetzen wirksamen Anerkennung oder Feststellung der Vaterschaft (§ 4 Abs. 1 Satz 2 StAG). Die Inbezugnahme der "deutschen Gesetze" umfasst hierbei auch das Kollisionsrecht. Nach deutschem internationalen Privatrecht richtet sich die Abstammung primär nach dem Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes (Art. 19 Abs. 1 Satz 1 EGBGB; vgl. näher Kau, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Aufl. 2017, § 4 Rn. 10). Nach dem damit primär maßgeblichen brasilianischen Recht ist die Klägerin Tochter des Klägers. Dies hat das Berufungsgericht zwar nicht ausdrücklich festgestellt. Nach Aktenlage ist dies aber hinreichend belegt und wird, wie sich auch aus der Revisionsbegründung der Beklagten und ihrem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung ergibt, von dieser nicht bezweifelt.

43Der in § 4 Abs. 4 StAG vorgesehene "Generationenschnitt" bei im Ausland geborenen Kindern steht der Ableitung der Staatsangehörigkeit der Klägerin von ihrem Vater hier schon deshalb nicht entgegen, weil dieser vor dem geboren worden ist. Damit kann dahinstehen, ob diese Norm im Rahmen von § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG überhaupt anwendbar ist.

445. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2021:300321U1C28.20.0

Fundstelle(n):
NJW 2021 S. 10 Nr. 30
NJW 2021 S. 2669 Nr. 36
CAAAH-82414