Ausgleichsleistungsanspruch eines Fluggastes wegen Flugverspätung: Internationale Zuständigkeit für den vertraglichen Anspruch des Fluggastes
Gesetze: Art 7 Abs 1 S 1 Buchst b EGV 261/2004, Art 5 Nr 1 Buchst b Ss 2 EGV 44/2001
Instanzenzug: Az: C-274/16 C-447/16 und C-448/16 Urteilvorgehend Az: X ZR 92/15 EuGH-Vorlagevorgehend LG Frankfurt Az: 2-24 S 31/15 Urteilvorgehend AG Frankfurt Az: 29 C 258/14 (40)
Tatbestand
1Die Parteien streiten darum, ob die Beklagte zur Leistung von Ausgleichszahlungen nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b und Erstattung von Auslagen für Betreuungsleistungen nach Art. 9 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 296/91 (im Folgenden: FluggastrechteVO) verpflichtet ist.
2Der Kläger schloss über ein Reisebüro mit der IBERIA Lineas Aéreas de España (im Folgenden: IBERIA) für sich, seine Frau und seine drei Kinder einen Beförderungsvertrag, der Flüge von Frankfurt am Main nach Madrid und von Madrid nach Melilla am sowie Rückflüge von Melilla nach Madrid und von Madrid nach Frankfurt am Main am umfasste. Sämtliche Flüge führten eine Flugnummer der IBERIA; die Flüge von Madrid nach Melilla und von Melilla nach Madrid wurden jedoch, wie in den Buchungsunterlagen vorgesehen, von der Beklagten ausgeführt. Der Abflug des Fluges von Melilla nach Madrid verzögerte sich um 20 Minuten mit der Folge, dass die Kläger den Anschlussflug nach Frankfurt nicht mehr erreichten und an ihrem Endziel mit vierstündiger Verspätung eintrafen.
3Die Kläger haben vor dem für den Flughafen Frankfurt am Main zuständigen Amtsgericht, soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse, Klage auf Ausgleichszahlungen von jeweils 250 € sowie auf Erstattung weiterer 100 € für Mahlzeiten, Erfrischungen und Telefonate erhoben. Das Amtsgericht hat die Beklagte insoweit antragsgemäß verurteilt. Das Landgericht hat die Klage auf die Berufung der Beklagten mit der Begründung als unzulässig abgewiesen, die deutschen Gerichte seien international nicht zuständig; im Inland liege kein Erfüllungsort im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. EG 2001 Nr. L 12 S. 1), weil die Klageforderungen an die Verspätung auf der Teilstrecke von Melilla nach Madrid anknüpften und insoweit nur diese beiden Orte als Erfüllungsort infrage kämen.
4Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren mit Beschluss vom (RRa 2016, 229) ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union zwei Fragen zur Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vorgelegt. Der Gerichtshof hat das Verfahren mit zwei anderen Verfahren verbunden und mit Urteil vom (C-274/16, C-447/16 und C-448/16, NJW 2018, 2105-2108) wie folgt entschieden:
1. Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass er auf einen Beklagten mit (Wohn-)Sitz in einem Drittstaat wie die Beklagte des Ausgangsverfahrens keine Anwendung findet.
2. Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne dieser Bestimmung auch eine von Fluggästen auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 erhobene Klage auf Ausgleichszahlung wegen einer großen Verspätung bei einer aus mehreren Teilstrecken bestehenden Flugreise umfasst, die sich gegen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen richtet, das nicht Vertragspartner des betroffenen Fluggasts ist.
3. Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 44/2001 und Art. 7 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sind dahin auszulegen, dass bei einer aus zwei Teilstrecken bestehenden Flugreise „Erfüllungsort“ im Sinne dieser Bestimmungen der Ankunftsort der zweiten Teilstrecke ist, wenn die Beförderungen auf den beiden Teilstrecken von verschiedenen Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden und die Klage gemäß der Verordnung Nr. 261/2004 auf Ausgleichszahlung wegen einer großen Verspätung bei dieser aus zwei Teilstrecken bestehenden Flugreise auf eine Störung gestützt wird, die auf dem ersten Flug eingetreten ist, der von dem Luftfahrtunternehmen durchgeführt wurde, das nicht Vertragspartner der betreffenden Fluggäste ist.
Gründe
5Die zulässige Revision ist begründet und führt zur Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils.
6I. Die Verneinung der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
71. Bei den geltend gemachten Ausgleichsansprüchen nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b FluggastrechteVO handelt es sich, wie die Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bestätigt, ungeachtet des Umstands um Ansprüche aus einem Vertrag i. S. v. Art. 5 Abs. 1 VO (EG) Nr. 44/2001 (Brüssel I), dass die Beklagte nicht Vertragspartner des von den Klägern geschlossenen Beförderungsvertrages ist, sondern (nur) ausführendes Luftfahrtunternehmen. Für die Zuständigkeitsregeln ist unionsrechtlich in Fällen der vorliegenden Art nicht die Identität der Vertragsparteien und der Parteien des jeweiligen Rechtsstreits maßgeblich, sondern vielmehr, dass die geltend gemachte Verpflichtung eine vertragliche Grundlage hat. Dafür reicht aus, dass eine vertragliche Beziehung zwischen dem Vertragspartner der Fluggäste und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen besteht, die, worauf der Gerichtshof hingewiesen hat, im Streitfall gemäß Art. 3 Abs. 5 Satz 2 FluggastrechteVO anzunehmen ist. Nach dieser Bestimmung wird, wenn ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das in keiner Vertragsbeziehung mit dem Fluggast steht, Verpflichtungen im Rahmen der Fluggastrechteverordnung erfüllt, davon ausgegangen, dass es im Namen der Person handelt, die in einer Vertragsbeziehung mit dem betreffenden Fluggast steht (EuGH, NJW 2018, 2105 Rn. 58 ff.).
82. Bei dem für den Flughafen Frankfurt am Main örtlich zuständigen Gericht ist der Gerichtsstand des Erfüllungsortes nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. b, 2. Spiegelstrich VO (EG) Nr. 44/2001 begründet. Wie der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom ausgesprochen hat, ist bei einer aus zwei Teilstrecken bestehenden Flugreise Erfüllungsort im Sinne dieser Bestimmung (auch) der Ankunftsort der zweiten Teilstrecke, wenn die Beförderungen auf den beiden Teilstrecken von verschiedenen Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden und die Klage auf Leistung einer Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung wegen einer großen Verspätung bei dieser aus zwei Teilstrecken bestehenden Flugreise auf eine Störung gestützt wird, die auf dem ersten Teilflug eingetreten ist, der von dem Luftfahrtunternehmen durchgeführt wurde, das nicht Vertragspartner der betreffenden Fluggäste ist (EuGH, NJW 2018, 2105 Rn. 71 f.).
93. Für den vom Kläger zu 1 des Weiteren geltend gemachten Anspruch auf Erstattung der Ausgaben für Erfrischungen, Mahlzeiten und Telefonkosten gilt das vorstehend Ausgeführte sinngemäß. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind die Reisenden, wenn das Luftfahrtunternehmen seine Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 1, Art. 9 FluggastrechteVO verletzt, berechtigt, insoweit einen Aufwendungsersatzanspruch geltend zu machen ( - Sousa Rodriguez u.a.). Da dieser Anspruch in gleicher Weise auf den vertraglichen Beziehungen zwischen dem Vertragspartner der Kläger und der Beklagten beruht, wie ein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung, handelt es sich dabei ebenfalls um einen Anspruch auf vertraglicher Grundlage i. S. v. Art. 5 Abs. 1 Buchst. b VO (EG) Nr. 44/2001, für den dementsprechend auch der Gerichtsstand des Erfüllungsortes am Ankunftsort des zweiten Teilflugs gegeben ist.
10II. Das Amtsgericht hat die Voraussetzungen für Ansprüche der Kläger auf Ausgleichszahlungen nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a FluggastrechteVO bejaht. Einwendungen dagegen hat die Beklagte weder in der Berufungs- noch in der Revisionsinstanz erhoben, und solche sind auch nicht ersichtlich.
11Soweit in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat die Frage der Verjährung angesprochen wurde, weisen der vom Berufungsgericht in Bezug genommene Tatbestand des amtsgerichtlichen Urteils und das Berufungsurteil selbst die Erhebung der Einrede der Verjährung als Verteidigungsmittel nicht aus. Es ist auch kein dazu in den Tatsacheninstanzen gehaltener Vortrag aufgezeigt worden. Nach Lage des Sachverhalts käme ein Eintritt der Verjährung nur unter dem Gesichtspunkt in Betracht, dass die Zustellung der Klageschrift i. S. v. § 167 ZPO nicht mehr "demnächst" erfolgt ist und den Eintritt der Verjährung deshalb nicht gehemmt hat. Die Zustellung der Klageschrift hat sich nach Zugang beim Amtsgericht am zwar geraume Zeit verzögert. Das hing aber ersichtlich mit der gerichtlichen Anforderung von Vorschüssen für Übersetzungen zusammen. Dass den Klägern Versäumnisse bei deren Einzahlung zur Last fielen, ist aber weder geltend gemacht noch ersichtlich.
12III. Die Kosten beider Rechtsmittelverfahren fallen der Beklagten nach § 97 Abs. 1 ZPO zur Last.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2018:110918UXZR92.15.0
Fundstelle(n):
WAAAH-81081