Strafverfahren wegen schwerem sexuellen Missbrauch eines Kindes: Unterrichtung des Angeklagten über eine Zeugenvernehmung
Gesetze: § 247 S 4 StPO
Instanzenzug: LG Oldenburg (Oldenburg) Az: 6 KLs 34/19
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten der "Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch eines Kindes, tatmehrheitlich des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit einem sexuellen Übergriff in 2 Fällen, tatmehrheitlich des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in einem weiteren Fall sowie tatmehrheitlich der sexuellen Nötigung" für schuldig befunden und ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete und auf Verfahrensrügen sowie die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2Der Erörterung bedarf allein die Verfahrensrüge, mit der der Angeklagte einen Verstoß gegen die Pflicht zur Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO geltend macht.
31. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:
4Die Strafkammer beschloss in der Hauptverhandlung vor der Zeugenvernehmung eines geschädigten Kindes gemäß § 247 Satz 1 StPO die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal und ordnete zugleich an, dass die Vernehmung dieser Zeugin über eine Videoanlage in einen Nebenraum übertragen wurde, von dem aus der Angeklagte die Vernehmung audiovisuell verfolgen konnte. Im Rahmen der Vernehmung des Kindes wurde mit diesem eine Grundrisszeichnung der Wohnräume des Angeklagten erörtert; ferner wurde dem Kind ein Chatverkehr durch Verlesung vorgehalten. Nach der Vernehmung wurde der Angeklagte in den Sitzungssaal zurückgerufen und erklärte, dass er der Vernehmung von dem Nebenraum aus habe folgen können, allerdings Nachfragen an die Zeugin habe. Seinem Wunsch entsprechend wurde die Zeugin dann in seiner erneuten Abwesenheit ergänzend befragt; auch diese Befragung konnte der Angeklagte im Wege der Videoübertragung von dem Nebenraum aus verfolgen. Der Angeklagte wurde anschließend wiederum in den Sitzungssaal gerufen und gefragt, ob er noch weitere Fragen an die Zeugin habe, woraufhin er erklärte, dass er der Vernehmung habe folgen können und keine Nachfragen mehr habe. Daraufhin wurde die Zeugin entlassen. Dieser Geschehensablauf wiederholte sich am darauffolgenden Hauptverhandlungstag bei der Zeugenvernehmung eines weiteren geschädigten Kindes, wobei dieser Zeugin während ihrer Vernehmung neben der Grundrisszeichnung als weiterer Vernehmungsbehelf ein Foto vorgelegt wurde.
52. Der Angeklagte macht geltend, mit dieser Vorgehensweise habe die Strafkammer jeweils gegen § 247 Satz 4 StPO verstoßen. Zum einen sei der Angeklagte entgegen § 247 Satz 4 StPO nach seiner Rückkehr in den Sitzungssaal nicht vom Vorsitzenden von dem wesentlichen Inhalt dessen unterrichtet worden, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt wurde. Die Videoübertragung habe den Bericht des Vorsitzenden nicht ersetzen können, weil die Unterrichtung nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut vorzunehmen sei, sobald der Angeklagte wieder anwesend ist, also erst nach seiner Rückkehr in den Sitzungssaal. Zum anderen hätte der Vorsitzende im Rahmen einer Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO angesichts der den Zeuginnen als Vernehmungsbehelfe vorgelegten Unterlagen abklären müssen, ob der Angeklagte auch insofern die Vernehmungsinhalte vollständig erfassen konnte.
63. Soweit die Verfahrensrüge mit der Stoßrichtung erhoben worden ist, die nach § 247 Satz 4 StPO gebotene Unterrichtung sei unterblieben, ist sie unbegründet.
7Nach vielfach vertretener Auffassung kann die Unterrichtung auch in Form einer Videosimultanübertragung der Vernehmung in einen Nebenraum erfolgen, in dem sich der Angeklagte aufhält; einer weiteren Information des Angeklagten nach dessen Rückkehr in den Sitzungssaal durch einen Bericht des Vorsitzenden bedarf es dann nicht (, NJW 2019, 692 Rn. 15; Urteil vom - 1 StR 216/17, NJW 2017, 3397 Rn. 18; Beschluss vom - 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180 Rn. 15; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 247 Rn. 48; BeckOK StPO/Berg, 39. Ed., § 247 Rn. 16; KK-StPO/Diemer, 8. Aufl., § 247 Rn. 15; SK-StPO/Frister, 5. Aufl., § 247 Rn. 67; SSW-StPO/Tsambikakis, 4. Aufl., § 247 Rn. 36; ablehnend in einem Fall einer von technischen Störungen begleiteten Videoübertragung , NStZ 2006, 116 sowie generell MüKoStPO/Cierniak/Niehaus, § 247 Rn. 17; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 247 Rn. 14a, 16a). Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs sieht eine solche Videoübertragung sogar als die regelmäßig rechtlich vorrangig gebotene Form der Unterrichtung an (, NJW 2017, 3397 Rn. 20 ff.; aA , NStZ 2009, 582; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 247 Rn. 48; BeckOK StPO/Berg, 39. Ed., § 247 Rn. 16; Mosbacher, JuS 2018, 129, 133; Schneider, NStZ 2018, 128, 129 ff.).
8Im vorliegenden Fall hat eine Unterrichtung durch den Vorsitzenden im Sinne des § 247 Satz 4 StPO im Anschluss an die Rückkehr des Angeklagten in den Sitzungssaal stattgefunden, so dass es nicht darauf ankommt, ob ungeachtet des Wortlauts von § 247 Satz 4 StPO schon die Videoübertragung als solche eine ausreichende Unterrichtung darstellt. Denn die Art und Weise der Unterrichtung ist im Rahmen der Verhandlungsleitung (§ 238 Abs. 1 StPO) vom Vorsitzenden zu bestimmen (, NJW 2017, 3397 Rn. 15; Beschluss vom - 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180 Rn. 15; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 247 Rn. 43; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 247 Rn. 16). Sie kann deshalb in der Gestalt erfolgen, dass der Vorsitzende den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, fragt, ob er durch die Videoübertragung den Aussageinhalt habe erfassen und der Vernehmung auch im Übrigen habe folgen können (vgl. zum Erfordernis der Abklärung einer störungsfreien Übertragung , BGHSt 51, 180 Rn. 16). Teilt der Angeklagte daraufhin - wie hier geschehen - mit, dass er das Verhandlungsgeschehen audiovisuell habe wahrnehmen können, und macht er keine technischen Störungen oder Ausfälle bei der Übertragung geltend, ist dem Unterrichtungserfordernis Genüge getan.
94. Soweit die Verfahrensrüge mit der Angriffsrichtung erhoben worden ist, die Unterrichtung durch den Vorsitzenden sei unzureichend gewesen, weil dieser nicht mit dem Angeklagten gesondert erörtert habe, ob er der Vernehmung auch insoweit folgen konnte, als der Zeugin eine Grundrisszeichnung beziehungsweise ein Foto vorgelegt wurde (vgl. insofern , BGHSt 51, 180 Rn. 23), ist die Rüge unzulässig. Denn insofern rügt der Angeklagte nicht das Unterlassen einer gesetzlich vorgeschriebenen Handlung, sondern die Art und Weise ihrer Vornahme durch den Vorsitzenden, also eine ermessensfehlerhafte Ausgestaltung der Unterrichtung. Daher wäre für die Zulässigkeit der hierauf bezogenen Verfahrensrüge eine Beanstandung der Art und Weise der Unterrichtung des Angeklagten durch den Vorsitzenden in der Hauptverhandlung nach § 238 Abs. 2 StPO erforderlich gewesen (vgl. , NJW 2017, 3397 Rn. 26; Beschlüsse vom - 5 StR 118/06, juris Rn. 2; vom - 5 StR 341/05, NJW 2006, 1008, 1009; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 247 Rn. 56; MüKoStPO/Cierniak/Niehaus, § 247 Rn. 26; Schneider, NStZ 2018, 128, 133 f.; aA SK-StPO/Frister, 5. Aufl., § 247 Rn. 90). Eine solche Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO bringt die Revision jedoch nicht vor.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:230321B3STR60.21.0
Fundstelle(n):
OAAAH-80774