Strafverfahren: Anfechtbarkeit der erstinstanzlichen Kostenentscheidung eines Oberlandesgerichts nach Revisionsrücknahme
Gesetze: § 304 Abs 4 S 2 Halbs 1 StPO, § 304 Abs 4 S 2 Halbs 2 StPO, § 464 Abs 3 S 3 StPO
Gründe
I.
1Das Oberlandesgericht hat den zur Tatzeit heranwachsenden Verurteilten der Beihilfe zu neun Fällen des Mordes schuldig gesprochen und deswegen auf eine Jugendstrafe von drei Jahren erkannt. Zugleich hat es ihm die Kosten des Verfahrens, die wegen der Taten angefallen sind, derentwegen er als Gehilfe verurteilt worden ist, sowie die notwendigen Auslagen auferlegt, die im Tenor namentlich benannten - von diesen Taten betroffenen - Nebenklägern entstanden sind. Das Oberlandesgericht hat es abgelehnt, nach § 109 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 74 JGG von der Auferlegung der Kosten und Auslagen und nach § 472 Abs. 1 Satz 3 StPO von der Auferlegung der notwendigen Auslagen der Nebenkläger abzusehen.
2Der Verurteilte hat fristgerecht Revision gegen das Urteil eingelegt und sofortige Beschwerde gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung erhoben. Seine Revision hat er zwischenzeitlich zurückgenommen, bevor sie dem Bundesgerichtshof vorgelegen hat. Seine Kostenbeschwerde erhält der Verurteilte aufrecht. Er hat sie mit Verteidigerschriftsätzen vom und vom begründet.
II.
3Die sofortige Beschwerde ist nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 1 StPO nicht statthaft und damit unzulässig.
41. Zwar eröffnet § 464 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 StPO grundsätzlich die sofortige Beschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen. Hat jedoch ein Oberlandesgericht die Entscheidung in erster Instanz getroffen, kann sie nicht isoliert angefochten werden. Dem steht § 304 Abs. 4 Satz 2 StPO entgegen; da der in dessen zweitem Halbsatz normierte Katalog die Kosten- oder Auslagenentscheidung nicht beinhaltet, findet nach seinem ersten Halbsatz die sofortige Beschwerde nicht statt. Eine Anfechtungsmöglichkeit ist gemäß § 464 Abs. 3 Satz 3 StPO nur dann vorgesehen, wenn und solange der Bundesgerichtshof mit der Revision des Beschwerdeführers befasst ist. In diesem Fall ist der Bundesgerichtshof kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung aufgrund seiner Zuständigkeit für die Revisionsentscheidung ebenso zur Entscheidung über die damit eng und unmittelbar zusammenhängende Kosten- und Auslagenfolge berufen; eine originäre Kompetenz als Beschwerdegericht hat er dagegen nicht (s. BGH, Beschlüsse vom - StB 28/75, BGHSt 26, 250, 252 ff.; vom - 3 StR 433/76, BGHSt 27, 96, 97).
5Die Kostenbeschwerde ist nicht nur dann unzulässig, wenn der Beschwerdeführer gegen das Urteil keine Revision eingelegt hat, sondern insbesondere auch dann, wenn er sie zurückgenommen hat. Dies gilt zumindest für den Fall, dass sie dem Bundesgerichtshof noch nicht vorgelegt worden ist (s. , BGHR StPO § 304 Abs. 4 Kostenbeschwerde 1). Ob über die Kostenbeschwerde in der Sache zu entscheiden ist, wenn die Rücknahme der Revision erst nach deren Vorlage erklärt worden ist (vgl. , aaO unter Verweis auf , juris, wonach bei erstinstanzlichen landgerichtlichen Entscheidungen von einer fortbestehenden Annexkompetenz auszugehen ist; gegen eine solche Kompetenz BGH, Beschlüsse vom - 1 StR 61/09, juris; vom - 4 StR 406/18, juris mwN), kann hier dahinstehen. Ebenso wenig kommt es darauf an, inwieweit andere Verfahrensbeteiligte das Urteil in der Hauptsache angefochten haben (vgl. LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., § 464 Rn. 67 mwN).
6Hinsichtlich der Kosten- und Auslagenentscheidung ist kein Raum für eine Analogie zu den in § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO geregelten Ausnahmetatbeständen (st. Rspr.; vgl. , BGHR StPO § 304 Abs. 4 Kostenbeschwerde 2): Nur in den im dortigen Katalog aufgeführten typischerweise schwerwiegenden Fällen hat der Gesetzgeber wegen des Rechtsschutzinteresses des Betroffenen, des öffentlichen Interesses an einer Überprüfung im Einzelfall oder des allgemeinen Interesses an der Einheitlichkeit der Rechtsprechung die Zulässigkeit der Beschwerde für geboten angesehen. Die Vorschrift ist deshalb eine den Grundsatz der Unanfechtbarkeit oberlandesgerichtlicher Entscheidungen durchbrechende, die Anfechtungsmöglichkeit abschließend regelnde Ausnahmevorschrift, die restriktiv auszulegen ist. Mit denjenigen Fallgruppen, für die der Senat eine analoge Anwendung bislang im engsten Rahmen für möglich erachtet hat, weil sie besonders nachteilig in die Rechtssphäre des Betroffenen, namentlich das Grundrecht auf die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), eingreifen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - StB 31/81, BGHSt 30, 168, 171: Strafaussetzung zur Bewährung bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung; vom - StB 15 u. 16/89, BGHSt 36, 192, 195: Anordnung der Erzwingungshaft [zu § 304 Abs. 5 StPO]; vom - StB 46/95, BGHR StPO § 304 Abs. 4 Untersuchung 1: mit längerdauernder Unterbringung verbundene Anordnung nach § 81a StPO), ist die Kosten- und Auslagenfolge nicht vergleichbar (s. , aaO; ferner - zur Kostenauferlegung nach § 145 Abs. 4 StPO - , juris Rn. 4). Für die Frage einer fallgruppenbezogenen Analogie ist dabei - entgegen dem Beschwerdevorbringen - eine generalisierende Betrachtung unabhängig von der Höhe der Zahlungsverpflichtung im Einzelfall geboten.
7Die Ansicht des Beschwerdeführers, es bestehe deshalb eine planwidrige Regelungslücke, weil die Regelung des § 74 JGG anders als die Kostenvorschriften der Strafprozessordnung dem erkennenden Gericht ein Ermessen einräumte, trifft nicht zu. Denn etwa § 467 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 sowie § 472 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 1 StPO sehen ebenfalls eine gerichtliche Ermessensausübung vor. Für den Gesetzgeber des in § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO normierten Katalogs war dies ersichtlich nicht maßgebend.
8Ohne Erfolg beruft sich der Beschwerdeführer auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Weder gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG oder das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) einen Instanzenzug, noch handelt es sich bei § 304 Abs. 4 Satz 2 StPO um eine systemwidrige gesetzliche Regelung. Diese Vorschrift fügt sich nahtlos in das strafprozessuale Gefüge der Bestimmungen über die Anfechtbarkeit obergerichtlicher Entscheidungen ein; sie trägt einerseits dem Rang, der den Oberlandesgerichten und ihren Entscheidungen zukommt, andererseits dem Bedürfnis nach einer Entlastung des Bundesgerichtshofs Rechnung (zum Ganzen , BVerfGE 45, 363, 375). Dass die Vorschrift auch im Fall der Anwendung von Jugendstrafrecht gilt, führt nicht zu ihrer Systemwidrigkeit.
92. Nach den aufgezeigten rechtlichen Maßstäben ist die sofortige Beschwerde nicht statthaft. Der Verurteilte hat die Revision zurückgenommen, noch bevor sie dem Bundesgerichtshof vorgelegen hat.
10Der Senat hat erwogen, ob im Fall eines Grundrechtsverstoßes eine ausdehnende Interpretation des § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO möglich wäre (vgl. - für den Fall einer Verletzung der Unschuldsvermutung - , NJW 2000, 1427, 1429 [in BGHR StPO § 304 Abs. 4 Kostenbeschwerde 2 nicht abgedruckt]; ferner , NJW 2015, 2175, 2176; , NJW 2020, 3331 Rn. 11). Ein solcher Verstoß könnte hier nur in Betracht kommen, wenn die Kosten- und Auslagenentscheidung des Oberlandesgerichts als objektiv willkürlich zu beurteilen wäre. Dann könnte der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Ausprägung als Willkürverbot betroffen sein (vgl. , NJW 2011, 3217 Rn. 9; Hömig/Wolff, GG, 12. Aufl., Art. 3 Rn. 5, jeweils mwN).
11Indes hat die Nachprüfung der Kosten- und Auslagenentscheidung auf der Grundlage des Urteils eine solche grob fehlerhafte Rechtsanwendung nicht ergeben. Insbesondere erweist es sich jedenfalls nicht als rechtlich unvertretbar, dass das Oberlandesgericht im Rahmen seines Ermessens das - durch die Urteilsfeststellungen belegte (s. UA S. 254 ff.) - Gewicht der abgeurteilten Tat und ihrer Folgen mitberücksichtigt hat (vgl. Brunner/Dölling, JGG, 13. Aufl., § 74 Rn. 4 mwN). Demgegenüber kann der Erziehungsgedanke, dessen Missachtung die Beschwerde beanstandet, für den zum Urteilszeitpunkt 38-jährigen Verurteilten allenfalls eine geringe Bedeutung haben (vgl. - für die Sanktionsbemessung - , NStZ 2016, 101 f. mwN; Urteil vom - 3 StR 189/18, NStZ 2018, 660, 661); dies hat das Oberlandesgericht ersichtlich im Blick gehabt (vgl. UA S. 3024).
Schäfer Berg Anstötz
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:100321BSTB32.20.0
Fundstelle(n):
YAAAH-79943