BGH Beschluss v. - 2 StR 384/20

Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung: Kompensationsentscheidung des Revisionsgerichts; Kriterien für die Entscheidung

Gesetze: Art 6 Abs 1 S 1 MRK, § 354 Abs 1a StPO

Instanzenzug: Az: 111 Ks 3/16

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Ferner hat es ihm die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und eine Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis von drei Monaten ausgesprochen. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten, die er mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet, hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

21. Die Überprüfung des angefochtenen Urteils lässt zum Schuld- und Strafausspruch sowie der angeordneten Maßregel keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen.

32. Das Urteil war indes wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung um eine Kompensation für einen Konventionsverstoß (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) zu ergänzen.

4a) Nach den Feststellungen beging der Angeklagte am eine gefährliche Körperverletzung zum Nachteil des Geschädigten, indem er diesen mit einem Kraftfahrzeug auf einer an den Bürgersteig angrenzenden Wiesenfläche gezielt anfuhr und hierdurch verletzte. Durch Beschluss vom wurde ihm vorläufig die Fahrerlaubnis entzogen und sein Führerschein beschlagnahmt. Die Sicherstellung des Führerscheins erfolgte anlässlich seiner Festnahme in dieser Sache am . Die anschließende Untersuchungshaft währte bis zum . Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis hob das Amtsgericht Köln auf die Beschwerde des Angeklagten durch Beschluss vom auf. Zum Zeitpunkt der verfahrensgegenständlichen Tat stand der Angeklagte aufgrund einer Verurteilung vom zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten sowie einer Verurteilung vom zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten unter zwei laufenden Bewährungen. Die Bewährungszeiten liefen bis zum bzw. bis zum . Beide Strafen wurden im Juli 2017 erlassen. Am verurteilte ihn das Amtsgericht Köln wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer − in die hier gebildete Gesamtfreiheitsstrafe einbezogenen − Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu 10 €.

5Das Landgericht hat in dem angefochtenen Urteil vom bei der Zumessung der Einzelstrafe für die gefährliche Körperverletzung unter anderem zu Gunsten des Angeklagten die ungewöhnliche lange Verfahrensdauer von rund viereinhalb Jahren, von denen „etwa vier Jahre auf fehlende Förderungsmöglichkeiten des Verfahrens durch die Justiz infolge der Bearbeitung von vordinglichen Haftsachen“ entfielen, berücksichtigt. Ferner sei der Angeklagte „durch den vorläufigen Entzug seiner Fahrerlaubnis erheblich beeinträchtigt worden - dies führte auch zu beruflichen Nachteilen.“ In den persönlichen Verhältnissen ist hierzu festgestellt, dass sich nach einem Praktikum des Angeklagten Ende 2018 / Anfang 2019 die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis mit Blick auf ein festes Beschäftigungsverhältnis als nachteilig erwiesen habe.

6Einen „Abschlag“ von der Gesamtfreiheitsstrafe „im Sinne der sogenannten Vollstreckungslösung im Hinblick auf die lange Verfahrensdauer“ hat das Landgericht abgelehnt. Neben dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil seien hierbei die „besonderen Belastungen“, denen der Angeklagte anlässlich einer überlangen Verfahrensdauer ausgesetzt ist und war, zu berücksichtigen. „Besondere Belastungen“ des Angeklagten in diesem Sinne seien nicht festzustellen. Dies gelte insbesondere im Hinblick auf die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, deren lange Dauer im Rahmen der Bemessung der Sperrfrist nach § 69a StGB hinreichende Berücksichtigung erfahren habe.

7b) Die vom Landgericht abgelehnte Entschädigung wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung trägt dem Gewicht des Konventionsverstoßes nicht in genügender Weise Rechnung. Die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ergibt sich aus den Urteilsgründen selbst und ist daher auf die Sachrüge zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 184/18, juris Rn. 4; vom - 1 StR 132/20, juris Rn. 7).

8aa) Für den Fall, dass allein die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als Kompensation nicht ausreicht, ist im Urteilstenor festzulegen, welcher bezifferte Teil der Gesamtstrafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt (vgl. − 4 StR 364/08, NJW 2009, 307, 308). Allgemeine Kriterien für diese Entscheidung lassen sich nicht aufstellen; entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane oder einer anderen staatlichen Stelle, sowie die Auswirkungen all dessen auf den jeweiligen Angeklagten. Jedoch muss stets im Auge behalten werden, dass die mit der Verfahrensdauer als solcher verbundenen Belastungen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen sind und es daher nur um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieses Umstandes geht (, BGHSt 52, 124, 147; Urteile vom - 3 StR 50/11, NStZ-RR 2011, 239; vom - 5 StR 411/11, NStZ-RR 2012, 244, jeweils mwN).

9bb) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Sie lassen nicht erkennen, dass die Strafkammer den individuellen Auswirkungen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auf den Angeklagten hinreichend Rechnung getragen hat. Dieser musste, nachdem zunächst ein Haftbefehl gegen ihn ergangen und Untersuchungshaft vollstreckt worden war, bis zur Verkündung des angefochtenen Urteils, mithin zusätzlich über den gesamten Verzögerungszeitraum von etwa vier Jahren, mit der Verurteilung zu einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe rechnen. Zudem stand für ihn bis zum Straferlass im Juli 2017 zu befürchten, dass eine Verurteilung Auswirkungen auf die beiden laufenden Bewährungsverfahren haben könnte. Ferner hatte die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, unabhängig von deren erheblicher Dauer, Ende 2018/Anfang 2019 nachteilige Folgen für seine berufliche Entwicklung. All diese belastenden Umstände hat das Landgericht bei seiner Annahme, es seien keine „besondere[n] Belastungen“ des Angeklagten festzustellen, ebenso wenig in den Blick genommen, wie das erhebliche Maß des staatlichen Fehlverhaltens, das darin zu sehen ist, dass das Verfahren - ungeachtet des Laufs einer vorläufigen Maßnahme nach § 111a Abs. 1 StPO und des überschaubaren Tatvorwurfs − über etwa vier Jahre keine Förderung erfahren hat.

10c) Zur Vermeidung einer weiteren Verfahrensverzögerung und um jede Beschwer des Angeklagten auszuschließen trifft der Senat eine Kompensationsentscheidung, wozu er in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1a StPO berechtigt ist (vgl. Senat, Beschlüsse vom - 2 StR 302/11, NJW 2012, 1463, 1464 Rn. 14; vom - 2 StR 443/19, juris Rn. 5; BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 376/07, NStZ-RR 2008, 208, 209; vom - 4 StR 391/14, wistra 2015, 241, 242 Rn. 4; vom - 5 StR 578/19, juris Rn. 9). Er stellt fest, dass von der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe zwei Monate Freiheitsstrafe als Entschädigung für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten. Dabei hat er auch berücksichtigt, dass die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung für den Angeklagten neben den aufgezeigten Belastungen auch zur Folge hatte, dass die erfolgte Verurteilung aufgrund der eingetretenen Verzögerung keinen Einfluss auf die bis in das Jahr 2017 laufenden Bewährungsverfahren entfaltet hat.

113. Da die Revision des Angeklagten nur einen geringen Teilerfolg hat, ist es nicht unbillig, den Beschwerdeführer mit den gesamten Kosten und Auslagen seines Rechtsmittels zu belasten (§ 473 Abs. 1, Abs. 4 StPO).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:011220B2STR384.20.0

Fundstelle(n):
FAAAH-79932