Gesetzlicher Richter im Strafprozess: Prognoseentscheidung des Vorsitzenden zur Auswechslung eines Schöffen auf Grund langwieriger Erkrankung; Aussagekraft eines Arztattestes ohne Diagnose
Gesetze: Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 54 Abs 1 S 2 Alt 1 GVG, § 192 Abs 2 GVG, § 192 Abs 3 GVG, § 229 Abs 3 S 1 StPO
Instanzenzug: Az: 305 Js 36078/18 - 1 Ks
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten M. A. wegen „versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge in Tateinheit mit gemeinschaftlichem Raub in besonders schwerem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Besitz und Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von Patronenmunition in Tateinheit mit Besitz von Munition“ zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt, gegen den Angeklagten C. A. hat es wegen „gemeinschaftlichen Raubes in besonders schwerem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung“ auf eine Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten erkannt. Daneben hat es Einziehungsentscheidungen getroffen.
2Die jeweils auf Verfahrensbeanstandungen sowie die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten haben keinen Erfolg; sie führen lediglich zu der aus der Beschlussformel ersichtlichen Klarstellung des Schuldspruchs.
3In Ergänzung der Antragsschrift des Generalbundesanwalts bedarf nur Folgendes der näheren Erörterung:
41. Die von beiden Beschwerdeführern erhobene Rüge der Verletzung von § 338 Nr. 1 StPO ist - unbeschadet der Frage, ob der Angeklagte C. A. diese zulässig erheben konnte, nachdem er den Eintritt des Ergänzungsschöffen in der Hauptverhandlung nicht beanstandet hatte (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom - 5 StR 612/12, BGHR GVG § 192 Abs 2 Verhinderung 2; vom - 1 StR 322/08, BGHSt 53, 99, 100) - jedenfalls unbegründet.
5a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
6Die Strafkammer hatte in der ursprünglichen Besetzungsmitteilung einen Ergänzungsschöffen benannt. Nachdem sie die Hauptverhandlung mit den Hauptschöffen begonnen und an zwölf Hauptverhandlungstagen über den Zeitraum von ca. vier Monaten geführt hatte, erschien am 13. Hauptverhandlungstag eine Hauptschöffin krankheitsbedingt nicht. Der Vorsitzende verlas zwei Vermerke und ein Attest, aus denen sich ergab, dass die Schöffin am Vortag angerufen und mitgeteilt hatte, dass sie wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung und ihr aus ärztlicher Sicht eine weitere Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht möglich sei; sie werde auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Das angeforderte Attest bescheinigte zunächst die Verhandlungsunfähigkeit für vier Wochen. Auf telefonische Nachfrage wurde dem Vorsitzenden ausweislich des zweiten Vermerks von einem ärztlichen Mitarbeiter der Praxis mitgeteilt, dass eine darüber hinausgehende Krankschreibung zu erwarten sei, dies aber besser durch die konkret behandelnde Ärztin eingeschätzt werden solle. Es wurde ein ergänzendes Attest zugesagt, das während einer Sitzungsunterbrechung einging und nach Fortsetzung der Hauptverhandlung verlesen wurde. Dieses stammte von der behandelnden praktischen Ärztin und attestierte der Schöffin, dass sie wegen einer psychischen Erkrankung voraussichtlich auf unabsehbare Zeit verhandlungsunfähig sei. Nachdem der Verteidiger eines freigesprochenen Mitangeklagten die Einholung eines amtsärztlichen, hilfsweise eines psychiatrischen Gutachtens beantragt und ausgeführt hatte, dass gegebenenfalls zugewartet werden müsse, ob die Schöffin innerhalb der Hemmungsfrist des § 229 Abs. 3 StPO wieder gesunden würde, stellte der Vorsitzende durch in der Hauptverhandlung verlesene und umfänglich begründete Verfügung fest, dass die Hauptschöffin verhindert sei, es weiterer Aufklärung nicht bedürfe und der Ersatzschöffe in das Verfahren eintrete. Ein Verteidiger des freigesprochenen Mitangeklagten und der Verteidiger des Angeklagten M. A. widersprachen der Verfügung des Vorsitzenden und der Verfahrensweise. Nach Beschlüssen der Strafkammer wurde die Verhandlung in der Besetzung mit dem eingetretenen Ergänzungsschöffen fortgesetzt.
7b) Die Vorgehensweise des Vorsitzenden lässt Rechtsfehler nicht erkennen, insbesondere war das Gericht durch den Eintritt des Ergänzungsschöffen nicht vorschriftswidrig besetzt (§ 338 Nr. 1 StPO); die Angeklagten wurden folglich auch nicht ihrem gesetzlichen Richter entzogen (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Hierzu gilt:
8aa) Nach § 192 Abs. 2 und 3 GVG tritt ein zu der Hauptverhandlung zugezogener Ergänzungsschöffe in das Quorum ein, wenn ein zur Entscheidung berufener Schöffe an der weiteren Mitwirkung verhindert ist. Die Feststellung, ob ein Verhinderungsfall vorliegt, obliegt dem Vorsitzenden (st. Rspr.; , BGHSt 61, 160, 161 mwN). Der Vorsitzende hat bei der Entscheidung einen Ermessenspielraum. Dieser umfasst auch den Zeitpunkt seiner Entscheidung (BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 544/15, BGHSt 61, 160, 162; vom - 2 StR 421/17, JR 2019, 167, 168). Bei der Wahl des Entscheidungszeitpunktes hat der Vorsitzende die widerstreitenden Interessen zwischen dem Prinzip des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) einerseits und den auf Beschleunigung und Konzentration gerichteten sonstigen Prozessmaximen andererseits zu berücksichtigen. Insbesondere die Beschleunigungs- und Konzentrationsmaxime können es sachgerecht erscheinen lassen, die Verhinderung möglichst bald festzustellen, um die Hauptverhandlung ohne Zeitverzug fortzusetzen (, JR 2019, 167, 168 mwN).
9bb) Gemessen an diesen Grundsätzen lässt die sorgfältig und unter Heranziehung der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs begründete Entscheidung des Vorsitzenden Willkür nicht erkennen und ist damit nicht zu beanstanden (vgl. zum Prüfungsmaßstab, BGH aaO).
10(1) Die Voraussetzungen für die Feststellung einer Verhinderung der Schöffin lagen vor. Infolge ihrer Erkrankung waren unabwendbare Umstände im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 GVG eingetreten, die ihrer weiteren Dienstleistung auf unabsehbare Zeit entgegenstanden. Dass der Vorsitzende das zweite von der behandelnden Ärztin stammende Attest genügen ließ und keine psychiatrische oder gar amtsärztliche Untersuchung der Schöffin in Auftrag gab, begründet kein die Entscheidung fehlerhaft oder gar willkürlich machendes Aufklärungsdefizit; vielmehr hatte sich der Vorsitzende für seine Entscheidung zuvor durch mehrere Nachfragen in der Praxis der behandelnden Ärztin eine ausreichende Tatsachengrundlage verschafft und diese im Hauptverhandlungsprotokoll dokumentiert. Die dagegen von der Revision des Angeklagten M. A. vorgebrachten Einwände verfangen nicht, insbesondere ist nicht ersichtlich, warum der Vorsitzende ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der attestierten (voraussichtlichen) Verhandlungsfähigkeit hätte haben müssen. Insoweit ist dem zweiten Attest trotz einer sprachlichen Ungenauigkeit mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass die Schöffin psychisch erkrankt war. Letztlich kann der Grund der Erkrankung aber auch dahinstehen, weil ein ärztliches Attest auch ohne Angabe einer Diagnose als Nachweis einer Erkrankung genügt, solange nicht konkrete Umstände - zu denen vorliegend von der Revision nichts vorgetragen und auch sonst nichts ersichtlich ist - darauf hindeuten, der Schöffe wolle sich aus unerlaubten Gründen der Dienstleistung entziehen (KK-StPO/Barthe, 8. Aufl., § 54 GVG Rn. 3 mwN; Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl., § 54 Rn. 2; MüKoStPO/Schuster, § 54 GVG Rn. 3; BeckOK GVG/Goers, 9. Ed., § 54 GVG Rn. 12; vgl. auch OLG Düsseldorf, NStZ-RR 2011, 215; aA LR/Gittermann, StPO, 26. Aufl., § 54 GVG Rn. 4).
11(2) Angesichts der prognostizierten Dauerhaftigkeit der Verhinderung bestehen auch keine Bedenken gegen den Zeitpunkt der Entscheidung.
12Die Entscheidung des 3. Strafsenats, der angenommen hat, die oben unter a) aufgeführten Grundsätze bedürften im Anwendungsbereich des § 229 Abs. 3 StPO einer Einschränkung dahingehend, dass für eine Ermessensentscheidung des Vorsitzenden regelmäßig kein Raum sei, solange die Fristen des § 229 Abs. 1 und 2 StPO gehemmt sind, weshalb der Eintritt des Ergänzungsrichters erst in Betracht komme, wenn der erkrankte Richter oder Schöffe nach Ablauf der maximalen Fristenhemmung zu dem ersten notwendigen Fortsetzungstermin weiterhin nicht erscheinen könne (, BGHSt 61, 160, 163 mit ablehnender Anmerkung Schäfer, JR 2017, 41), steht nicht entgegen. Denn die genannte Einschränkung gilt nicht stets, sondern etwa dann nicht, wenn schon von vornherein feststeht, dass eine Fortsetzung der Hauptverhandlung mit dem erkrankten Richter oder Schöffen auch nach Ablauf der maximalen Fristenhemmung nicht möglich sein wird, oder wenn andere vorrangige Prozessmaximen beeinträchtigt würden.
13So verhält es sich hier. Der Vorsitzende, der - wie dargelegt - über eine ausreichende Tatsachengrundlage verfügte, durfte angesichts der durch ein ärztliches Attest belegten Erkrankung von nicht absehbarer Dauer prognostizieren, dass die Schöffin auch nach Ablauf der Fristenhemmung nach § 229 Abs. 3 Satz 1 StPO nicht wieder an der Hauptverhandlung würde teilnehmen können. Soweit in der Entscheidung des 3. Strafsenats ausgeführt ist, es müsse „feststehen“, dass eine Fortsetzung der Hauptverhandlung mit dem erkrankten Richter oder Schöffen nicht möglich sei, ergibt sich daraus nichts anderes: Denn angesichts der erheblichen Dauer der Fristenhemmung von sechs Wochen und zehn Tagen und den damit verbundenen Unwägbarkeiten kann dadurch der zwangsläufige Prognosecharakter einer die Hemmungsfristen überdauernden und damit in die Zukunft gerichteten Feststellung der Verhinderung nicht in Frage gestellt werden.
14(3) Die von dem Vorsitzenden vorgenommene Abwägung der verschiedenen Interessen, namentlich des Rechts der Angeklagten auf den gesetzlichen Richter und des „Gebot(s) der zügigen und für alle Verfahrensbeteiligten ressourcenschonenden Verhandlungsführung“ - womit die Beschleunigungs- und die Konzentrationsmaxime angesprochen waren -, stellt sich insbesondere angesichts des Umstands, dass sich die Angeklagten bereits seit zehn Monaten in Untersuchungshaft befanden und die Hauptverhandlung durch ein Zuwarten auf eine - ermessensfehlerfrei nur als theoretische Möglichkeit angesehene - Gesundung der Schöffin um mehrere Monate verzögert worden wäre, als nachvollziehbar, jedenfalls aber nicht als grob fehlerhaft und damit nicht als willkürlich dar. Dies gilt zumal, da auch der in das Quorum eintretende Schöffe vorab nach hinreichend genauen abstrakt-generellen Regelungen bestimmt worden war und damit in gleicher Weise die Verfahrensgarantie auf Entscheidung durch den gesetzlichen Richter gewährleistete.
152. Zu der von dem Angeklagten C. A. erhobenen Rüge der Verletzung von § 244 Abs. 3 und 4 StPO gilt Folgendes:
16Die Strafkammer hat den Antrag auf Einholung eines (weiteren) Gutachtens durch einen konkret bezeichneten Sachverständigen zu der Frage, ob in dem Auto Schmauchspuren hätten gefunden werden müssen, wenn der Geschädigte - wie von ihm angegeben - auf dem Beifahrersitz gesessen hätte, zu Recht auch deshalb zurückgewiesen, weil sich aus dem Fehlen von Schmauchspuren keine sicheren Schlüsse auf die Positionen der handelnden Personen ergaben. Das Landgericht hat diesen Umstand zwar unter dem Gesichtspunkt der nicht bestehenden Aufklärungspflicht abgehandelt und hierzu weiter ausgeführt, insoweit sei die „Beweisaufnahme auch ungeeignet“. Dieser Begründung lässt sich der Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Gründen aber hinreichend klar entnehmen, so dass der Ablehnungsbeschluss seiner Informationspflicht gegenüber dem Angeklagten genügte und dieser in seiner Verfahrensführung nicht beeinträchtigt wurde. Aus den von der Strafkammer genannten Gründen lag die Bedeutungslosigkeit zudem für alle Verfahrensbeteiligten auf der Hand, so dass auf etwaigen Mängeln der Begründung des Ablehnungsbeschlusses das Urteil nicht beruhen würde (vgl. zu alldem LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 226 mwN).
173. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben. Der Senat hat die Schuldsprüche aber dahin klargestellt, dass die Angeklagten - unter anderem - jeweils den Qualifikationstatbestand des besonders schweren Raubes verwirklichten, dagegen nicht unter den Voraussetzungen eines tatsächlich nicht existenten Strafschärfungsgrunds des Raubes im besonders schweren Fall handelten. Die gemeinschaftliche Begehungsweise der Tat war nicht in den Urteilstenor aufzunehmen, weil es sich um eine Tatmodalität handelt, die kein eigenes Unrecht verkörpert (st. Rspr.; vgl. mwN).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:020221B5STR400.20.0
Fundstelle(n):
PAAAH-79732