BAG Beschluss v. - 4 ABR 19/20

Mitbestimmung bei Umgruppierung - Zustimmungsersetzung - Berufspraxis

Gesetze: § 99 BetrVG, § 83 ArbGG, § 1 TVG

Instanzenzug: ArbG Darmstadt Az: 7 BV 27/18 Beschlussvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 15 TaBV 57/19 Beschluss

Gründe

1A. Die Beteiligten streiten über die Ersetzung der Zustimmung des bei der Arbeitgeberin gebildeten Betriebsrats zur Umgruppierung von zwei auf sog. Kombi-Stellen beschäftigten Arbeitnehmerinnen in Entgeltgruppe E 2 des Bundesentgelttarifvertrags für die chemische Industrie (vom , zuletzt idF vom /BETV).

2Die Arbeitgeberin, die Mitglied im Arbeitgeberverband Chemie und verwandte Industrien für das Land Hessen e.V. ist, betreibt mit der H GmbH den Gemeinschaftsbetrieb Distribution Center W mit ca. 380 Arbeitnehmern.

3Dort fallen ua. die Tätigkeiten Kommissionierung Pick by light, Clearing und Packerei an. Bei der Kommissionierung Pick by light bekommen die Arbeitnehmerinnen über Lichtanzeige angezeigt, welche Menge von dem zu kommissionierenden Artikel in den nächsten Kommissionierbehälter gelegt werden soll. Für die Entnahme der angezeigten Artikel aus dem Kommissionierfach müssen dabei die Produktkartons den bestehenden Sicherheitsvorgaben entsprechend geöffnet werden. Im Bereich Clearing werden zuvor kommissionierte Versandkartons, deren tatsächliches Gewicht von dem theoretisch ermittelten Gewicht abweicht, von der Fördertechnik automatisch ausgeschleust. Diese Versandkartons werden durch Scannen der auf den Produkten befindlichen Barcodes auf Vollständigkeit oder Überfüllung geprüft. Über einen Bildschirm wird angezeigt, ob deren Inhalt zutreffend zusammengestellt wurde. Befindet sich zu viel Ware in dem Karton, wird diese entnommen und zurück in das Kommissionierregal sortiert. Bei einer zu geringen Befüllung des Kartons wird dieser zurück in die Kommissionierung geschickt. In der Packerei werden die über eine Fördertechnik angelieferten Versandkartons für einen sicheren Transport zum Kunden mit Luftpolstern aufgefüllt, Lieferschein, Rechnung oder Packstückinhaltsliste, die systemseitig erstellt werden, eingelegt und der Karton mit einem Deckel verschlossen. Es müssen sodann weitere Etiketten auf dem Karton angebracht werden. Umfasst eine Lieferung nur ein kleineres Volumen, ist ein passender kleinerer Karton zu nutzen.

4Für diese Tätigkeiten existieren die Aufgaben-/Tätigkeitsbeschreibungen Nr. 83 (Kommissionierung Pick by light), Nr. 32 (Clearing) und Nr. 33 (Packerei). In diesen sind neben einer Beschreibung von „Teilaufgaben“ Angaben zum „Erforderlichen Können“ enthalten. Dabei sind für die Kommissionierung Pick by light (Nr. 83) die Dauer der erforderlichen Anlernzeit mit „3 - 4 Wochen“ und ein „Erfahrungsaufbau von ca. weiteren 4 - 6 Wochen“ sowie eine „Gesamtanlernzeit 7 - 10 Wochen“ angegeben, für Clearing (Nr. 32) „Ca. 3 - 4 Wochen (Anlernen inklusiver Erfahrungsaufbau)“ und für die Packerei (Nr. 33) „Ca. 4 - 5 Wochen (Anlernen inklusive Erfahrungsaufbau)“. Unter „Eingruppierung“ wird jeweils Entgeltgruppe E 2 BETV angegeben.

5Darüber hinaus gibt es im Lager seit dem Jahr 2012 sog. Kombi-Stellen. Diese wurden eingeführt, um durch qualifiziertere Arbeitnehmer bessere Vertretungsmöglichkeiten für abwesende Arbeitnehmer zu haben. Hierzu existiert die Aufgaben-/Tätigkeitsbeschreibung Nr. 124a. Diese hat ua. folgenden Inhalt:

6Unter „Erforderliches Können“ sind „3 - 4 Wochen als Anlernzeit und Erfahrungsaufbau von ca. weiteren 4 Wochen, Gesamtanlernzeit 7 - 8 Wochen inkl. Erfahrungsaufbau“ angegeben.

7Mit Schreiben vom bat die Arbeitgeberin um Zustimmung des Betriebsrats zur Versetzung der Arbeitnehmerinnen M B und C M von einem Arbeitsplatz Kommissionierung Pick by light auf eine Kombi-Stelle unter Eingruppierung in Entgeltgruppe E 2 BETV. Den Schreiben war die Aufgaben-/Tätigkeitsbeschreibung Nr. 124a beigefügt. Der Betriebsrat erteilte mit Schreiben vom seine Zustimmung zu den Versetzungen, verweigerte sie aber hinsichtlich der beabsichtigten Eingruppierungen. Zur Begründung führte er an, die für die vollwertige Ausübung der Tätigkeit erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten könnten nicht in 13 Wochen erworben werden. Deshalb sei eine Eingruppierung in Entgeltgruppe E 3 BETV zutreffend.

8Die Arbeitgeberin hat die Auffassung vertreten, die den Kombi-Mitarbeiterinnen übertragenen Tätigkeiten seien einfach, automatisiert und würden sich ständig wiederholen. Es sei eine Berufspraxis von sieben bis acht Wochen zugrunde zu legen, so dass eine Eingruppierung in Entgeltgruppe E 2 BETV zutreffend sei. Der Betriebsrat habe nicht substantiiert vorgetragen, warum die in der Aufgaben-/Tätigkeitsbeschreibung Nr. 124a angenommene Anlernzeit zu kurz bemessen sein sollte. Eine Eingruppierung in Entgeltgruppe E 3 BETV komme außerdem erst bei Überschreiten einer erforderlichen Berufspraxis von sechs Monaten in Betracht.

9Die Arbeitgeberin hat beantragt,

10Der Betriebsrat hat beantragt, die Anträge abzuweisen. Er hat die Auffassung vertreten, für die Tätigkeit sei eine Anlernzeit von 27 bis 33 Wochen erforderlich, so dass diese der Entgeltgruppe E 3 BETV zuzuordnen sei. Jedenfalls aber überschreite die erforderliche Berufspraxis 13 Wochen und komme einer Tätigkeit nach Entgeltgruppe E 3 BETV „am nächsten“, so dass nach § 3 Nr. 2 Satz 4 BETV eine Eingruppierung in Entgeltgruppe E 3 BETV zu erfolgen habe. Hierfür sei der zeitliche Mittelwert ein Anhaltspunkt, aber nicht einziges Kriterium. Die Tätigkeit der Kombi-Mitarbeiter sei wegen ihrer Vielfältigkeit deutlich qualifizierter als die Einzeltätigkeiten, aus denen sie sich zusammensetze. Es sei auch zu berücksichtigen, dass die Arbeitnehmerinnen über Computer- und Software-Kenntnisse verfügen müssten.

11Das Arbeitsgericht hat den Anträgen stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die dagegen gerichtete Beschwerde des Betriebsrats zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat sein Begehren weiter.

12B. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung durfte den Anträgen nicht stattgegeben werden. Ob der Betriebsrat seine Zustimmung zu Unrecht verweigert hat, kann der Senat nicht abschließend entscheiden, weil es hierfür an den erforderlichen Feststellungen fehlt. Das führt zur Aufhebung der Beschwerdeentscheidung (§ 96 Abs. 1 Satz 2 ArbGG, § 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 96 Abs. 1 Satz 2 ArbGG, § 563 Abs. 1 ZPO).

13I. Neben der Arbeitgeberin und dem Betriebsrat ist nach § 83 Abs. 3 ArbGG keine andere Stelle beteiligt. Weder die beiden Arbeitnehmerinnen noch die H GmbH sind in einer betriebsverfassungsrechtlichen Position berührt. Die Eingruppierung von Arbeitnehmern betrifft auch im Gemeinschaftsbetrieb lediglich die Rechtsbeziehung zum Vertragsarbeitgeber (vgl.  - Rn. 9 ff.).

14II. Die Zustimmungsersetzungsanträge sind nach gebotener Auslegung zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.

151. Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass das Begehren der Arbeitgeberin entgegen dem Antragswortlaut auf eine Zustimmungsersetzung zur Umgruppierung der Arbeitnehmerinnen gerichtet ist. Bei der Zuordnung der Tätigkeiten der Arbeitnehmerinnen zur Entgeltgruppe E 2 BETV handelt es sich nicht um eine mitbestimmungspflichtige Eingruppierung, sondern um eine Umgruppierung. Eine Eingruppierung iSv. § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist die erstmalige Einreihung eines Arbeitnehmers in eine betriebliche Vergütungsordnung. Eine Umgruppierung ist jede Änderung dieser Einreihung. Über eine solche muss der Arbeitgeber ua. - wie hier - beim Wechsel der einer Arbeitnehmerin zugewiesenen Aufgaben entscheiden (vgl.  - Rn. 11 mwN).

162. Die Anträge sind zudem darauf gerichtet, die Zustimmung des Betriebsrats zur Umgruppierung in die jeweilige Entgeltgruppe des aktuellen BETV zu ersetzen. Die Arbeitgeberin hat dies hinreichend deutlich gemacht, indem sie ihrer Antragsschrift den zu diesem Zeitpunkt aktuellen BETV idF vom und der Erwiderung auf die Rechtsbeschwerde den BETV idF vom beigefügt hat. Die fehlerhafte Bezeichnung im Antrag ist daher unschädlich. Dieses Begehren ist zulässig, soweit sich - wie vorliegend - durch den Neuabschluss eines Tarifvertrags das tarifliche Vergütungsschema nicht geändert hat (vgl.  - Rn. 13; - 7 ABR 38/16 - Rn. 14).

17III. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ist nicht frei von Rechtsfehlern.

181. Die Arbeitgeberin hat die Zustimmungsverfahren durch die Anhörungsschreiben vom ordnungsgemäß iSv. § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG eingeleitet. Der Betriebsrat hat den Zustimmungsersuchen mit den Schreiben vom form- und fristgerecht nach § 99 Abs. 2, 3 BetrVG widersprochen und dabei jeweils Gründe genannt, die es als möglich erscheinen lassen, dass die Zustimmungsverweigerungen berechtigt erfolgten.

192. Das Landesarbeitsgericht hat die für die Eingruppierung maßgebende Tätigkeit rechtsfehlerhaft bestimmt, woraus eine unzutreffende Bewertung folgt.

20a) Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht der Bewertung der von den Arbeitnehmerinnen auszuübenden Tätigkeiten die Regelungen des BETV zugrunde gelegt. Bei diesen handelt es sich um die im Betrieb der Arbeitgeberin geltende Vergütungsordnung. Die maßgebenden Vorschriften lauten auszugsweise:

21b) Nach § 3 Nr. 2 Satz 2 BETV ist allein die Tätigkeit der Arbeitnehmerin, nicht die berufliche Bezeichnung für die Eingruppierung maßgebend. Daher kann auch die bloße Übertragung von Funktionen eine Eingruppierung nicht begründen ( - Rn. 37). Der BETV stellt allerdings weder auf „Arbeitsvorgänge“ noch darauf ab, ob eine Tätigkeit „überwiegend“ ausgeübt wird. § 3 Nr. 4 Satz 1 BETV zeigt aber, dass die für die Eingruppierung maßgebende übertragene Tätigkeit einer Arbeitnehmerin sich aus verschiedenen Teiltätigkeiten zusammensetzen kann, die unterschiedlichen Entgeltgruppen zuzuordnen sind. Als Grundlage der Eingruppierung kann daher nicht stets eine Gesamttätigkeit angenommen werden. Die Tätigkeit kann auch aus mehreren, jeweils eine Einheit bildenden Einzeltätigkeiten bestehen. Liegt danach nur eine Tätigkeit vor, ist diese insgesamt nach § 3 Nr. 2 BETV zu bewerten. Sind von der Arbeitnehmerin verschiedene Tätigkeiten, auf die verschiedene Entgeltgruppen zutreffen, auszuüben, ist nach § 3 Nr. 4 Satz 1 BETV diejenige maßgebend, die den Charakter des Arbeitsbereichs im Wesentlichen bestimmt. Dies ist in der Regel die mit den größten Zeitanteilen geleistete Tätigkeit ( - Rn. 37; vgl. auch  - zu II 2 a der Gründe).

22c) Nach diesen Grundsätzen handelt es sich bei den von den Arbeitnehmerinnen auszuübenden Aufgaben um eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit.

23aa) Das Landesarbeitsgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, bei den kombinierten Teilaufgaben Kommissionierung Pick by light, Clearing und Packerei handele es sich um eine tariflich nach § 3 Nr. 2 BETV einheitlich zu bewertende Tätigkeit. Die Arbeitgeberin hat in Ausübung der ihr obliegenden Organisationshoheit und des ihr zustehenden Direktionsrechts die Aufgaben den Arbeitnehmerinnen bewusst einheitlich übertragen, um diese flexibler in allen drei Bereichen einsetzen zu können. Sie hat zudem eine Aufgaben-/Tätigkeitsbeschreibung erstellt, die die drei Teilaufgaben als Kombi-Tätigkeit zusammenfasst.

24bb) Zu dieser Tätigkeit gehören aber entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts auch die in der Aufgaben-/Tätigkeitsbeschreibung aufgeführten begleitenden sowie QA & HS&E-Tätigkeiten. Bei den begleitenden Tätigkeiten handelt es sich um solche, die während und neben der eigentlichen Tätigkeit anfallen und für deren ordnungsgemäße Durchführung erforderlich sind. Sie sind daher nicht eigenständig zu bewerten. In diesem Zusammenhang ist unerheblich, ob sie den Charakter der Tätigkeit bestimmen. Hierauf würde es nur dann ankommen, wenn unterschiedlich zu bewertende Tätigkeiten nach § 3 Nr. 4 Satz 1 BETV vorliegen würden. Gleiches gilt für die Beachtung von Qualitäts-, Sicherheits- und Brandschutzregeln sowie der Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften, die den Arbeitnehmerinnen im Rahmen von QA & HS&E obliegen. Auch diese sind eng mit den weiteren Tätigkeiten verknüpft und mit diesen einheitlich auszuüben.

25d) Aus der fehlerhaften Bestimmung der zu bewertenden Tätigkeit ergibt sich zugleich die unzutreffende Beurteilung derselben. Das Landesarbeitsgericht hat seiner Bewertung ua. deswegen die durch die Arbeitgeberin angenommenen Zeiten der erforderlichen Berufspraxis zugrunde gelegt, weil es davon ausgegangen ist, die für die Erlernung der begleitenden und QA & HS&E-Tätigkeiten erforderlichen Zeiten seien nicht zu berücksichtigen. Diese gehören aber - wie dargelegt - zur ausgeübten Tätigkeit im Tarifsinn.

26IV. Dies führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung (§ 96 Abs. 1 Satz 2 ArbGG, § 562 Abs. 1 ZPO). Ob die Zustimmungsersetzungsanträge begründet sind, kann der Senat nicht selbst entscheiden, § 96 Abs. 1 Satz 2 ArbGG iVm. § 563 Abs. 3 ZPO. Es fehlt jedenfalls im Hinblick auf die begleitenden und QA & HS&E-Tätigkeiten an Feststellungen zu den diesbezüglichen Zeiten der Berufspraxis. Diese wären aber notwendig für die Bewertung, ob für die Gesamttätigkeit Kenntnisse und Fertigkeiten erforderlich sind, die durch eine angemessene Berufspraxis von weniger als 13 Wochen, zwischen 13 Wochen und sechs Monaten oder von mehr als sechs Monaten erworben werden.

27V. Im Rahmen der erneuten Anhörung und Entscheidung wird das Landesarbeitsgericht Folgendes zu beachten haben:

281. Nach § 7 BETV sind Arbeitnehmer, die Tätigkeiten verrichten, für die Kenntnisse und Fertigkeiten erforderlich sind, die durch eine angemessene Berufspraxis von in der Regel bis zu 13 Wochen erworben werden, in Entgeltgruppe E 2 BETV eingruppiert. Als „Berufspraxis“ sind dabei alle Zeiten zu berücksichtigen, während derer im Betrieb oder betrieblich veranlasst Kenntnisse und Fertigkeiten erworben werden, die zur Ausübung der übertragenen Tätigkeit erforderlich sind. Dies gilt entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts unabhängig davon, auf welchem Weg dieser Erwerb erfolgt. Das ergibt die Auslegung des BETV (zu den Auslegungsgrundsätzen vgl.  - Rn. 20 mwN).

29a) Der Wortlaut des BETV ist nicht eindeutig, eine unmittelbare Definition des Begriffs „Berufspraxis“ findet sich dort nicht. Nach allgemeinem Sprachgebrauch kann unter Berufspraxis die Ausübung einer Tätigkeit, die mit dem Erwerb beruflicher Erfahrung verbunden ist, verstanden werden ( - zu II 2 b cc (5) der Gründe). Dies schließt allerdings nicht aus, auch solche Zeiten als Berufspraxis anzusehen, in denen die Arbeitnehmerin nicht tatsächlich „innerhalb des praktizierten Berufs“ tätig wird, sondern zB an Schulungen zum Erlernen der Tätigkeit teilnimmt.

30b) Aus Systematik und Gesamtzusammenhang des BETV ergibt sich hingegen deutlich, dass sämtliche Zeiten, die zum Erlernen der Tätigkeit während des Arbeitsverhältnisses erforderlich sind, als Berufspraxis iSd. Entgeltgruppen E 2 und E 3 BETV zu berücksichtigen sind. Dies schließt eine theoretische Wissensvermittlung durch die Arbeitgeberin oder auf deren Veranlassung ein.

31aa) Der Begriff findet sich ausschließlich in den Entgeltgruppen E 2 bis E 6 BETV bei Tätigkeiten, für die entweder keine Ausbildung erforderlich ist oder eine solche durch Berufspraxis ersetzt werden kann. In höheren Entgeltgruppen haben die Tarifvertragsparteien demgegenüber für die über die Ausbildung hinausgehende, für die Eingruppierung relevante Tätigkeit den Begriff der „Berufserfahrung“ (in Entgeltgruppe E 9 BETV: „betriebspraktische Erfahrung“) gewählt. Dies legt nahe, hinsichtlich der eher einfachen Tätigkeiten der niedrigeren Entgeltgruppen unter Berufspraxis jegliche Zeit zu verstehen, in der die für diese erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten erworben werden, und nicht zwischen praktischem und theoretischem Erwerb der Kenntnisse und Fertigkeiten zu unterscheiden.

32bb) Entscheidend ist schließlich, dass die Phase des Erwerbs der für eine Eingruppierung in Entgeltgruppe E 2 und E 3 BETV erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten in Entgeltgruppe E 1 und der Protokollnotiz Nr. 2 zum BETV als „Einarbeitungszeit“ bezeichnet wird. „Einarbeiten“ bedeutet „anleiten, anlernen, beibringen, einführen, einweisen, lehren, unterrichten, unterweisen, vermitteln, zeigen“ (Duden Das Bedeutungswörterbuch 5. Aufl. Stichwort „einarbeiten“) und erfasst daher sowohl praktische als auch theoretische Elemente. Wenn aber Einarbeitungszeit und Berufspraxis insoweit synonym verwendet werden, ist auch der Begriff der Berufspraxis umfassender zu verstehen.

332. Das Landesarbeitsgericht wird daher nach § 83 ArbGG von Amts wegen zu ermitteln haben, welche Berufspraxis benötigt wird, um die für die Ausübung der Gesamttätigkeit erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben. Maßgebend ist insoweit die den Arbeitnehmerinnen übertragene Tätigkeit nach der Aufgaben-/Tätigkeitsbeschreibung Nr. 124a.

34a) Nach § 83 Abs. 1 Satz 1 ArbGG gilt für das Beschlussverfahren ein eingeschränkter Amtsermittlungs- bzw. Untersuchungsgrundsatz. Das Gericht hat die Tatsachen zu erforschen, die nach seiner Ansicht in Bezug auf den Verfahrensgegenstand entscheidungserheblich sind. Es ist damit dafür verantwortlich, dass die Entscheidung auf einem zutreffenden und vollständig aufgeklärten Sachverhalt beruht. Diese Aufklärungspflicht zwingt das Gericht aber nicht zu einer unbegrenzten Amtsermittlungstätigkeit und Beweisaufnahme. Liegt entsprechender Sachvortrag vor, ist der Sachverhalt in die Richtung, die hierdurch aufgezeigt wird, zu überprüfen. Zur Aufklärungspflicht gehört auch die Ermittlung von Tatsachen, die bisher von keinem Verfahrensbeteiligten in das Verfahren eingeführt worden sind, soweit sie für die Entscheidung über den gestellten Antrag von Bedeutung sind. Das Gericht kann von einer weiter gehenden Sachverhaltsaufklärung erst absehen, wenn entscheidungserhebliche Tatsachen von einem der Verfahrensbeteiligten vorgetragen worden sind, sie nicht wirksam bestritten wurden und sich überdies keine Zweifel an ihrer Richtigkeit aufdrängen ( - Rn. 87, BAGE 156, 213).

35b) Im Zustimmungsersetzungsverfahren trägt die Arbeitgeberin die Feststellungslast für das Nichtbestehen der vom Betriebsrat zur Begründung seines Widerspruchs vorgetragenen Gründe. Die Folgen der Nichterweislichkeit von erforderlichen Tatsachen treffen trotz Geltung des Untersuchungsgrundsatzes die Arbeitgeberin. Das Fehlen der Widerspruchsgründe des Betriebsrats muss für eine Stattgabe des Zustimmungsersetzungsantrags positiv festgestellt werden ( - Rn. 39 mwN).

36c) Nach diesen Grundsätzen fehlt es bislang an hinreichendem Sachvortrag zur erforderlichen Berufspraxis durch die Arbeitgeberin. Insbesondere ist nicht ersichtlich, woraus sich die von ihr vorgetragenen Zeiten ergeben. Was den Arbeitnehmerinnen in dieser Zeit auf welche Weise vermittelt wird und welche Kenntnisse und Fertigkeiten sie benötigen, ergibt sich aus dem Vortrag bislang nicht so konkret, dass seine Stichhaltigkeit für das Gericht überprüfbar wäre. Der unsubstantiierte Verweis auf Erfahrungen im Betrieb ist hierfür nicht ausreichend. Zudem ist der Vortrag in sich widersprüchlich. Nach den Angaben der Arbeitgeberin sind zum Erlernen der Einzeltätigkeit Clearing drei bis vier Wochen, der Tätigkeit in der Packerei vier bis fünf Wochen und für die Tätigkeit Kommissionierung Pick by light sieben bis zehn Wochen erforderlich. Demgegenüber wird für die Kombi-Tätigkeit lediglich eine Anlernzeit von sieben bis acht Wochen zugrunde gelegt. Es spricht zwar einiges dafür, dass die erforderlichen Anlernzeiten für die Einzeltätigkeiten - deren Richtigkeit unterstellt - hinsichtlich des Erlernens der Kombi-Tätigkeit entgegen der Auffassung des Betriebsrats nicht einfach zu addieren wären, sondern sich Teile der erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten überschneiden. Auch liegt die Auffassung des Betriebsrats zum Umfang erforderlicher Computerkenntnisse nicht nahe. Keinerlei Anhaltspunkte gibt es aber dafür, dass das Erlernen der Kombi-Tätigkeit eine kürzere Zeit in Anspruch nimmt als die Einzeltätigkeit mit der längsten Anlernzeit (Kommissionierung Pick by light). Dies gilt insbesondere, weil die regelmäßige Berufspraxis für Arbeitnehmer maßgeblich ist, die die Kombi-Tätigkeit vollständig neu erlernen, ohne vorher eine der Teilaufgaben ausgeübt zu haben.

37d) Mangels substantiierten Vortrags der Arbeitgeberin kann entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts auch nicht davon ausgegangen werden, dieser sei durch den Betriebsrat nicht hinreichend bestritten worden. Unabhängig davon stellt der BETV nicht auf die konkret benötigte Berufspraxis einzelner Arbeitnehmer, sondern auf diejenige ab, die in der Regel erforderlich ist (Protokollnotiz Nr. 2 zum BETV). Deshalb kann vom Betriebsrat grundsätzlich auch nicht verlangt werden, einzelne Arbeitnehmer mit längerer Anlernzeit zu benennen. Erst Recht gilt dies, wenn dessen bislang unbestrittener Vortrag zutrifft, es gäbe keinen Arbeitnehmer, dem die Tätigkeit eines Kombi-Mitarbeiters übertragen worden wäre, ohne dass er zuvor eine der Einzeltätigkeiten ausgeübt hätte.

38e) Das Landesarbeitsgericht wird danach zunächst der Arbeitgeberin Gelegenheit zu geben haben, unter Beachtung der Hinweise des Senats ihren Sachvortrag zu ergänzen. Erfolgt dies hinreichend substantiiert und bleibt danach die erforderliche Dauer der Berufspraxis weiter streitig, wird sich das Landesarbeitsgericht im Wege der Beweisaufnahme - ggf. auch durch Einholung eines Sachverständigengutachtens (vgl. hierzu  - zu 5 c der Gründe, BAGE 90, 53) - eine eigene Überzeugung von der notwendigen Dauer der Berufspraxis zu bilden haben.

393. Sollte danach eine Berufspraxis von weniger als 13 Wochen benötigt werden, um die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben, ist die von der Arbeitgeberin angenommene Eingruppierung in Entgeltgruppe E 2 BETV zutreffend. Sofern eine Berufspraxis von mehr als sechs Monaten erforderlich wäre, träfe hingegen eine Eingruppierung in Entgeltgruppe E 3 BETV zu. Für den Fall, dass eine Berufspraxis zwischen 13 Wochen und sechs Monaten erforderlich wäre, handelte es sich um einen Fall nach § 3 Nr. 2 Satz 4 BETV. Maßgeblich ist dann, welcher Eingruppierung die Tätigkeit im Hinblick auf die Dauer der Berufspraxis „am nächsten“ kommt.

40a) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts sind nicht alle Arbeitnehmerinnen, die Tätigkeiten ausüben, für die Kenntnisse und Fertigkeiten erforderlich sind, die durch eine Berufspraxis von weniger als sechs Monaten erworben werden, in Entgeltgruppe E 2 BETV eingruppiert. Eine erforderliche Berufspraxis von 13 Wochen ist grundsätzlich die Obergrenze für eine Eingruppierung in Entgeltgruppe E 2 BETV. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift. Danach erfolgt eine Eingruppierung bei einer Berufspraxis von „in der Regel bis zu 13 Wochen“, wobei sich nach Protokollnotiz Nr. 2 zum BETV Abweichungen von der Regelhaftigkeit lediglich auf individuelle Umstände beziehen. Da andererseits eine Eingruppierung in Entgeltgruppe E 3 BETV grundsätzlich erst ab einer in der Regel erforderlichen Berufspraxis von sechs Monaten in Betracht kommt, passen die Oberbegriffe beider Entgeltgruppen nicht für eine Tätigkeit, die eine Berufspraxis zwischen 13 Wochen und sechs Monaten erfordert. In diesem Fall erfolgt die Eingruppierung nach § 3 Nr. 2 Satz 4 BETV in diejenige Entgeltgruppe, die der Tätigkeit „am nächsten“ kommt.

41b) Der BETV legt keine Kriterien für die Prüfung fest, welcher Entgeltgruppe eine Tätigkeit „am nächsten“ kommt. Maßgebend für die Beurteilung können daher nur die Tätigkeitsmerkmale der in Betracht kommenden Entgeltgruppen sein. Vorliegend sind dies die Entgeltgruppen E 2 und E 3 BETV. Deren Tätigkeitsmerkmale unterscheiden sich ausschließlich durch die Dauer der zum Erwerb der erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten benötigten Berufspraxis. Daher ist jedenfalls dann, wenn sich - wie vorliegend - nicht bereits durch die Ähnlichkeit der Tätigkeit zu solchen, die in Regelbeispielen beschrieben werden (Transportarbeiten auch mit Flurförderzeugen in Entgeltgruppe E 2 BETV), eine besondere Nähe zu einer Entgeltgruppe ergibt, allein die erforderliche Berufspraxis zu berücksichtigen. Eine Eingruppierung in Entgeltgruppe E 2 BETV erfolgt demnach, wenn die erforderliche Berufspraxis zeitlich gesehen näher an 13 Wochen als an sechs Monaten liegt. Da in sechs Monaten gerundet 26 Wochen fallen (vgl. zur Umrechnung von Monaten auf Wochen  - Rn. 23), kommt eine Tätigkeit dann Entgeltgruppe E 2 BETV am nächsten, wenn die erforderliche Berufspraxis bis zu 19,5 Wochen beträgt. Ist hingegen eine Berufspraxis von mehr als 19,5 Wochen erforderlich, kommt die Tätigkeit derjenigen der Entgeltgruppe E 3 BETV am nächsten.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2021:240221.B.4ABR19.20.0

Fundstelle(n):
YAAAH-77425