EuGH Urteil v. - C-950/19

Vorlage zur Vorabentscheidung – Gesellschaftsrecht – Richtlinie 2006/43/EG – Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen – Art. 22a Abs. 1 Buchst. a – Einstellung eines Abschlussprüfers bei einem geprüften Unternehmen – Karenzzeit – Verbot der Übernahme einer zentralen Führungsposition in dem geprüften Unternehmen – Verstoß – Schwere und Dauer des Verstoßes – Ausdruck ‚Übernahme einer Position‘ – Bedeutung – Abschluss eines Arbeitsvertrags mit dem geprüften Unternehmen – Unabhängigkeit von Abschlussprüfern – Externer Aspekt

Leitsatz

Art. 22a Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 84/253/EWG des Rates in der durch die Richtlinie 2014/56/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein Abschlussprüfer, wie ein verantwortlicher Prüfungspartner, der von einer Prüfungsgesellschaft im Zusammenhang mit einem Prüfungsauftrag benannt wurde, als eine Person anzusehen ist, die im Sinne dieser Bestimmung eine zentrale Führungsposition in einem geprüften Unternehmen übernimmt, sobald er mit diesem Unternehmen einen Arbeitsvertrag für diese Position schließt, auch wenn er seine Tätigkeit in dieser Position noch nicht tatsächlich aufgenommen hat.

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 22a Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 84/253/EWG des Rates (ABl. 2006, L 157, S. 87) in der durch die Richtlinie 2014/56/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom (ABl. 2014, L 158, S. 196) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/43).

2 Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens auf Antrag des A, eines von der finnischen Handelskammer zugelassenen Abschlussprüfers, wegen des Bescheids des Patentti- ja rekisterihallituksen tilintarkastuslautakunta (Abschlussprüfungausschuss beim Amt für geistiges Eigentum, Finnland) (im Folgenden: zuständige nationale Stelle), gegen ihn eine Geldbuße zu verhängen, nachdem er in einer Gesellschaft auf einer zentralen Führungsposition eingestellt worden war, bei der er die Abschlussprüfung durchgeführt hatte.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 In den Erwägungsgründen 5, 8, 9, 11 und 13 der Richtlinie 2006/43 heißt es:

„(5) Zweck der vorliegenden Richtlinie ist eine Harmonisierung der Anforderungen an die Abschlussprüfung auf hohem Niveau, wenn auch eine vollständige Harmonisierung nicht angestrebt wird. Der Mitgliedstaat, der eine Abschlussprüfung vorschreibt, kann strengere Anforderungen aufstellen, sofern in dieser Richtlinie nichts anderes vorgesehen ist.

(8) Alle zugelassenen Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften sollten zum Schutz Dritter in ein Register eingetragen werden, das öffentlich zugänglich ist und grundlegende Informationen über Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften enthält.

(9) Abschlussprüfer sollten höchsten ethischen Normen verpflichtet sein. Aus diesem Grund sollten sie Berufsgrundsätzen unterliegen, die sich zumindest auf die Funktion der Abschlussprüfer für das öffentliche Interesse, ihre Integrität und Unparteilichkeit sowie ihre fachliche Eignung und die gebotene Sorgfalt beziehen sollten. Die Funktion eines Abschlussprüfers für das öffentliche Interesse erwächst aus der Tatsache, dass ein breiter Kreis von Personen und Einrichtungen sich auf die Qualität seiner Arbeit verlässt. Eine gute Prüfungsqualität trägt zum ordnungsgemäßen Funktionieren der Märkte bei, indem die Integrität und Effizienz der Abschlüsse erhöht wird. …

(11) Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften sollten bei der Durchführung von Abschlussprüfungen unabhängig sein. Sie können das geprüfte Unternehmen über bei der Abschlussprüfung gewonnene Erkenntnisse informieren, sollten jedoch an den internen Entscheidungsprozessen des geprüften Unternehmens nicht mitwirken. Sollten sie in eine Situation kommen, in der die Gefahr für ihre Unabhängigkeit trotz der Schutzmaßnahmen, die zur Eindämmung dieser Gefahr ergriffen wurden, zu groß ist, sollten sie zurücktreten oder das Mandat ablehnen. …

(13) Für alle nach [Unionsrecht] vorgeschriebenen Abschlussprüfungen sollte eine gleich bleibend hohe Qualität gewährleistet werden. …“

4 In Kapitel I („Gegenstand und Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2006/43 heißt es in Art. 1 („Gegenstand“):

„Diese Richtlinie regelt die Abschlussprüfung des Jahresabschlusses und des konsolidierten Abschlusses.

…“

5 Ebenfalls in Kapitel I sieht Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie vor:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

2. ‚Abschlussprüfer‘ ist eine natürliche Person, die von den zuständigen Stellen eines Mitgliedstaates nach dieser Richtlinie für die Durchführung von Abschlussprüfungen zugelassen wurde.

3. ‚Prüfungsgesellschaft‘ ist eine juristische Person oder eine sonstige Einrichtung gleich welcher Rechtsform, die von den zuständigen Stellen eines Mitgliedstaats nach dieser Richtlinie für die Durchführung von Abschlussprüfungen zugelassen wurde.

16. ‚Verantwortlicher Prüfungspartner‘ ist/sind

  1. der/die Abschlussprüfer, der/die von einer Prüfungsgesellschaft für ein bestimmtes Prüfungsmandat als für die Durchführung der Abschlussprüfung im Auftrag der Prüfungsgesellschaft vorrangig verantwortlich bestimmt ist/sind; oder

  2. im Fall einer Konzernabschlussprüfung mindestens der/die Abschlussprüfer, der/die von einer Prüfungsgesellschaft als für die Durchführung der Abschlussprüfung auf Konzernebene vorrangig verantwortlich bestimmt ist/sind, und der/die Abschlussprüfer, der/die als auf der Ebene bedeutender Tochtergesellschaften vorrangig verantwortlich bestimmt ist/sind, oder

  3. der/die Abschlussprüfer, der/die den Bestätigungsvermerk unterzeichnet/unterzeichnen.

…“

6 In Kapitel IV („Berufsgrundsätze, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Verschwiegenheit und Berufsgeheimnis“) dieser Richtlinie bestimmt Art. 22 („Unabhängigkeit und Unparteilichkeit“):

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ein Abschlussprüfer oder eine Prüfungsgesellschaft sowie jede natürliche Person, die in der Lage ist, das Ergebnis der Abschlussprüfung direkt oder indirekt zu beeinflussen, bei der Durchführung einer Abschlussprüfung von dem geprüften Unternehmen unabhängig und nicht in dessen Entscheidungsprozesse eingebunden ist.

Diese Unabhängigkeit ist zumindest sowohl für den Zeitraum erforderlich, auf den sich die zu prüfenden Abschlüsse beziehen, als auch für die Dauer der Abschlussprüfung.

Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass ein Abschlussprüfer oder eine Prüfungsgesellschaft alle angemessenen Maßnahmen ergreift, um zu gewährleisten, dass seine bzw. ihre Unabhängigkeit bei der Durchführung einer Abschlussprüfung nicht durch tatsächliche oder potenzielle Interessenkonflikte oder Geschäfts- oder sonstige direkte oder indirekte Beziehungen des Abschlussprüfers oder der Prüfungsgesellschaft, der bzw. die die Abschlussprüfung durchführt, sowie gegebenenfalls seines bzw. ihres Netzwerks, der Geschäftsleitung, der Prüfer, der Mitarbeiter, beliebiger anderer natürlicher Personen, deren Leistungen der Abschlussprüfer oder die Prüfungsgesellschaft in Anspruch nehmen oder die er bzw. sie kontrollieren kann, oder jeder anderen Person, die über ein Kontrollverhältnis direkt oder indirekt mit dem Abschlussprüfer bzw. der Prüfungsgesellschaft verbunden ist, beeinträchtigt wird.

Der Abschlussprüfer oder die Prüfungsgesellschaft darf die Abschlussprüfung nicht ausführen, wenn eine Gefahr der Selbstüberprüfung, des Eigeninteresses, der Interessenvertretung, der Vertrautheit oder der Einschüchterung aufgrund einer Beziehung finanzieller, persönlicher oder geschäftlicher Art, eines Beschäftigungsverhältnisses oder anderer Beziehungen zwischen

  • dem Abschlussprüfer, der Prüfungsgesellschaft, deren Netzwerk sowie jeder natürlichen Person, die in der Lage ist, das Ergebnis der Abschlussprüfung zu beeinflussen, und

  • dem geprüften Unternehmen

besteht, wodurch eine unabhängige, vernünftige und sachkundige dritte Partei unter Beachtung der angewandten Schutzmaßnahmen zu dem Schluss käme, dass die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers oder der Prüfungsgesellschaft gefährdet ist.

(4) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die in Absatz 2 genannten Personen oder Gesellschaften nicht an der Prüfung eines bestimmten Unternehmens teilnehmen bzw. das Ergebnis einer Abschlussprüfung nicht in anderer Weise beeinflussen, wenn sie

c) während des in Absatz 1 genannten Zeitraums eine Beschäftigungs‑, Geschäfts- oder sonstige Beziehung zu diesem geprüften Unternehmen unterhalten haben, [die] einen Interessenkonflikt verursachen kann oder nach allgemeiner Auffassung einen solchen verursacht.

(5) Die in Absatz 2 genannten Personen oder Gesellschaften nehmen von dem geprüften Unternehmen oder von einem mit dem geprüften Unternehmen verbundenen Unternehmen keine Geld- oder Sachgeschenke oder Gefälligkeiten an und bemühen sich nicht um solche, es sein denn, ein objektiver, verständiger und informierter Dritter würde deren Wert als geringfügig oder unbedeutend betrachten.

…“

7 Art. 22a („Einstellung von früheren Abschlussprüfern oder Mitarbeitern von Abschlussprüfern oder Prüfungsgesellschaften bei geprüften Unternehmen“) Abs. 1, der ebenfalls in Kapitel IV dieser Richtlinie enthalten ist, lautet:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass ein Abschlussprüfer oder ein verantwortlicher Prüfungspartner, der eine Abschlussprüfung im Auftrag einer Prüfungsgesellschaft durchführt, vor Ablauf von mindestens einem Jahr bzw. bei Abschlussprüfungen von Unternehmen von öffentlichem Interesse vor Ablauf von mindestens zwei Jahren, nachdem er die Tätigkeit als Abschlussprüfer oder verantwortlicher Prüfungspartner im Zusammenhang mit dem Prüfungsauftrag eingestellt hat,

a) keine zentrale Führungsposition in dem geprüften Unternehmen übernimmt,

b) gegebenenfalls bei dem geprüften Unternehmen nicht Mitglied des Prüfungsausschusses wird bzw. – sollte es keinen solchen Ausschuss geben – nicht Mitglied des Gremiums wird, das die Funktionen des Prüfungsausschusses ausübt,

c) nicht geschäftsführendes Mitglied des Verwaltungsorgans oder Mitglied des Aufsichtsorgans des geprüften Unternehmens wird.“

8 In Kapitel V („Prüfungsstandards und Bestätigungsvermerk“) der Richtlinie sieht Art. 28 („Bestätigungsvermerk“) vor:

„(1) Der oder die Abschlussprüfer bzw. die Prüfungsgesellschaft oder ‑gesellschaften legt bzw. legen die Ergebnisse der Abschlussprüfung in einem Bestätigungsvermerk dar. …

(2) Der Bestätigungsvermerk wird in schriftlicher Form verfasst und

c) umfasst ein Prüfungsurteil, das als entweder uneingeschränkt, eingeschränkt oder negativ erteilt wird und zweifelsfrei Auskunft darüber gibt, ob nach Auffassung des Abschlussprüfers oder der Abschlussprüfer bzw. der Prüfungsgesellschaft oder ‑gesellschaften

i) der Jahresabschluss im Einklang mit den jeweils maßgebenden Rechnungslegungsgrundsätzen ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild vermittelt …

…“

9 In den Erwägungsgründen 1, 6 bis 8 und 10 der Richtlinie 2014/56, mit der die Richtlinie 2006/43 geändert wurde, heißt es:

„(1) In der Richtlinie [2006/43] sind die Bedingungen für die Zulassung und Registrierung von Personen, die Abschlussprüfungen durchführen, die Vorschriften über deren Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Berufsgrundsätze sowie Regelungen für die einschlägige öffentliche Aufsicht niedergelegt. Dennoch ist es notwendig, diese Vorschriften auf Unionsebene weiter zu harmonisieren, um so die Anforderungen an diese Personen klarer und vorhersehbarer zu gestalten und mehr Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu gewährleisten. …

(6) Es gilt insbesondere, die Unabhängigkeit als ein wesentliches Element bei der Durchführung von Abschlussprüfungen zu stärken. Damit Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften bei der Durchführung von Abschlussprüfungen von den geprüften Unternehmen noch unabhängiger sind, sollten ein Abschlussprüfer oder eine Prüfungsgesellschaft sowie jede natürliche Person, die mittelbar oder unmittelbar in der Lage ist, das Ergebnis der Abschlussprüfung zu ‚beeinflussen‘ von dem geprüften Unternehmen unabhängig und nicht in dessen Entscheidungsprozesse eingebunden sein …

(7) Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften sollten bei der Abschlussprüfung von geprüften Unternehmen unabhängig sein und Interessenkonflikte vermeiden. Bei der Bestimmung der Unabhängigkeit eines Abschlussprüfers oder einer Prüfungsgesellschaft ist der Struktur des Netzwerks, innerhalb dessen der Abschlussprüfer bzw. die Prüfungsgesellschaft handelt, Rechnung zu tragen. Die Unabhängigkeitsanforderung sollte mindestens während des Zeitraums, auf den sich der Bestätigungsvermerk bezieht, eingehalten werden – also sowohl während des Zeitraums, auf den sich die zu prüfenden Abschlüsse beziehen als auch für die Dauer der Abschlussprüfung.

(8) Abschlussprüfer, Prüfungsgesellschaften und deren Mitarbeiter sollten insbesondere davon absehen, die Abschlussprüfung bei einem Unternehmen durchzuführen, an denen sie ein geschäftliches oder finanzielles Interesse haben, und mit Finanzinstrumenten zu handeln, die von einem geprüften Unternehmen emittiert, garantiert oder in anderer Weise abgesichert werden und bei denen es sich nicht um Anteile an diversifizierten Organismen für gemeinsame Anlagen handelt. Der Abschlussprüfer oder die Prüfungsgesellschaft sollte nicht an den internen Entscheidungsprozessen des geprüften Unternehmens teilnehmen. Abschlussprüfern, Prüfungsgesellschaften und ihren Mitarbeitern, die unmittelbar an dem Prüfungsauftrag beteiligt sind, sollte es für einen angemessenen Zeitraum nach Ablauf des Prüfungsauftrags untersagt sein, eine Funktion in der Geschäftsführung oder im Verwaltungs- oder Aufsichtsorgan des geprüften Unternehmens zu übernehmen.

(10) Eine angemessene interne Organisation von Abschlussprüfern und Prüfungsgesellschaften sollte dazu beitragen, möglichen Gefährdungen für ihre Unabhängigkeit vorzubeugen. So sollten weder die Eigentümer oder Anteilseigner einer Prüfungsgesellschaft noch die Unternehmensleitung in einer Weise in eine laufende Abschlussprüfung eingreifen, die die Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit des Abschlussprüfers, der die Prüfung im Auftrag der Prüfungsgesellschaft durchführt, beeinträchtigt. Zusätzlich dazu sollten Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften in Bezug auf Mitarbeiter und andere Personen, die unmittelbar an der Prüfungstätigkeit beteiligt sind, geeignete interne Grundsätze und Verfahren aufstellen, um zu gewährleisten, dass diese ihren gesetzlichen Pflichten nachkommen. Diese Grundsätze und Verfahren sollten insbesondere darauf gerichtet sein, jeder Gefährdung der Unabhängigkeit vorzubeugen und zu begegnen und die Qualität, Integrität und Sorgfalt der Abschlussprüfung zu gewährleisten. Diese Grundsätze und Verfahren sollten dem Umfang und der Komplexität der Tätigkeit des Abschlussprüfers oder der Prüfungsgesellschaft angemessen sein.“

Finnisches Recht

10 § 11 („Wechsel eines Abschlussprüfers in die Dienste eines geprüften Unternehmens“) in Kapitel 4 („Sonstige Bestimmungen über den Abschlussprüfer“) des Tilintarkastuslaki (1141/2015) (Abschlussprüfungsgesetz [1141/2015]) vom bestimmt:

„Ein Abschlussprüfer oder ein verantwortlicher Prüfungspartner, der für eine Prüfungsgesellschaft eine Abschlussprüfung durchführt, darf folgende Stellungen nicht vor Ablauf von mindestens einem Jahr seit der Abschlussprüfung übernehmen:

1) eine zentrale Führungsposition in dem geprüften Unternehmen,

2) die Mitgliedschaft im Prüfungsausschuss des geprüften Unternehmens oder in einem Gremium, das die Funktionen des Prüfungsausschusses ausübt;

3) die Mitgliedschaft im Verwaltungsorgan ohne Zugehörigkeit zur Geschäftsführung oder die Mitgliedschaft im Aufsichtsorgan des geprüften Unternehmens.

Die in Abs. 1 genannte Frist beträgt zwei Jahre, wenn Gegenstand der Prüfung ein Unternehmen von öffentlichem Interesse ist.

…“

11 § 5 („Geldbuße und ihre Festsetzung“) in Kapitel 10 („Sanktionen“) dieses Gesetzes sieht vor:

„Der Abschlussprüfungsausschuss kann eine Geldbuße verhängen, wenn ein Abschlussprüfer gegen die in § 11 in Kapitel 4 genannten Fristen über den Wechsel eines Abschlussprüfers in die Dienste eines geprüften Unternehmens verstößt.

Die Geldbuße für den Verstoß gegen die in § 11 in Kapitel 4 genannte Frist beträgt bis zu 50 000 Euro.

Die Geldbuße ist an den Staat zu entrichten.“

12 In § 7 („Bei der Festsetzung der Sanktion zu berücksichtigende Gesichtspunkte“) des Kapitels 10 heißt es:

„Bei der Beschlussfassung über die Geldbuße sind alle relevanten Umstände zu berücksichtigen. Dies sind:

1) die Schwere und die Dauer des Verstoßes;

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13 Der Kläger des Ausgangsverfahrens führte von 2014 bis zum für eine Prüfungsgesellschaft als verantwortlicher Prüfungspartner die Abschlussprüfungen der X Oyj (im Folgenden: geprüfte Gesellschaft) durch.

14 Am schloss der Kläger in dieser Eigenschaft die Abschlussprüfung dieser Gesellschaft für das Geschäftsjahr 2017 ab.

15 Am schloss der Kläger des Ausgangsverfahrens mit dieser Gesellschaft einen Arbeitsvertrag.

16 Am gab die geprüfte Gesellschaft in einer Börsenmitteilung bekannt, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens zum Leiter der Finanzabteilung und Mitglied des Leitungsgremiums berufen werde und seine Tätigkeit im Laufe des Monats Februar 2019 aufnehmen werde.

17 Am stellte der Kläger seine Tätigkeit in der Prüfungsgesellschaft, bei der er angestellt war, ein. In einer am selben Tag von ihr gegenüber der Abschlussprüfungsaufsicht abgegebenen Erklärung bestätigte die geprüfte Gesellschaft schriftlich, dass er bis zur Veröffentlichung des Bestätigungsvermerks für das Geschäftsjahr 2018 in keiner zentralen Führungsposition oder in einer für Finanzen oder Rechnungslegung der Gesellschaft zuständigen Stellung tätig sein werde.

18 Mit Bescheid vom (im Folgenden: streitiger Bescheid) verhängte die zuständige nationale Behörde gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens eine Geldbuße in Höhe von 50 000 Euro, weil er die für Unternehmen von öffentlichem Interesse in Kapitel 4 § 11 des Abschlussprüfungsgesetzes vorgesehene zweijährige Karenzzeit nicht eingehalten habe. Die Behörde war der Auffassung, dass dieser Zeitraum ab dem Zeitpunkt zu berechnen sei, zu dem er seine Tätigkeit in der Prüfungsgesellschaft in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Prüfungspartner im Zusammenhang mit dem Prüfungsauftrag der geprüften Gesellschaft beendet habe, d. h. dem . Der Kläger habe aufgrund des Abschlusses eines Arbeitsvertrags mit dieser Gesellschaft mit diesem Tag eine zentrale Führungsposition in dieser Gesellschaft übernommen, im vorliegenden Fall die eines Leiters der Finanzabteilung.

19 Am wurde eine andere Prüfungsgesellschaft als Abschlussprüferin der geprüften Gesellschaft in das Handelsregister eingetragen.

20 Nachdem diese andere Prüfungsgesellschaft am ihre Abschlussprüfung für das Geschäftsjahr 2018 abgeschlossen hatte, nahm der Kläger des Ausgangsverfahrens seine Tätigkeit als Leiter der Finanzabteilung und Mitglied des Verwaltungsrats bei der geprüften Gesellschaft auf.

21 Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhob beim Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki, Finnland) Klage mit dem Antrag, die mit dem streitigen Bescheid gegen ihn verhängte Geldbuße auf höchstens die Hälfte herabzusetzen.

22 Zur Stützung dieser Klage macht der Kläger des Ausgangsverfahrens geltend, der streitige Bescheid beruhe auf einer fehlerhaften Auslegung der Schwere und der Dauer des Verstoßes, da sich die Wendung „eine Position übernimmt“ in Art. 22a Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/43 notwendigerweise auf eine Situation beziehe, in der die betroffene Person ihre Stellung tatsächlich angetreten habe. Solange dies nicht der Fall sei, könne diese Person, auch wenn sie sich der Gesellschaft, die sie eingestellt hat, innerlich verbunden fühlen könne, nämlich weder über eine tatsächliche Position noch über Einfluss auf die Angelegenheiten dieser Gesellschaft verfügen. Im Mittelpunkt der Beurteilung der Unabhängigkeit müsse das Vermögen der Person stehen, Einfluss auf die Jahresabschlüsse ihres neuen Arbeitgebers nehmen zu können. Folglich sei im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass die betreffende Position ab dem Beginn der Tätigkeit des Klägers in der geprüften Gesellschaft als Leiter der Finanzabteilung im Februar 2019 von ihm übernommen worden sei.

23 Zudem könnten sich die Umstände vor dem tatsächlichen Antritt der Stellung noch ändern. Somit sei im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung der Tatsache, dass eine andere Prüfungsgesellschaft mit der Abschlussprüfung der geprüften Gesellschaft für das Geschäftsjahr 2018 beauftragt worden sei, davon auszugehen, dass die Karenzzeit ab dem Datum der Beendigung der Abschlussprüfung dieser Gesellschaft, mit der er für das Jahr 2017 betraut war, am zu laufen begann. Sofern man die Karenzzeit im Hinblick auf die tatsächliche Unabhängigkeit bestimme, komme man im vorliegenden Fall auf ein volles Jahr, während sie rein formal etwa sieben Monate gedauert habe, vom , dem Tag der Unterzeichnung des Arbeitsvertrags mit der geprüften Gesellschaft, bis zum , dem Tag der Beendigung der Abschlussprüfung dieser Gesellschaft für das Geschäftsjahr 2018.

24 Außerdem weist der Kläger des Ausgangsverfahrens darauf hin, dass über seinen Wechsel transparent informiert worden sei, um Außenstehenden zu verdeutlichen, dass die Situation sorgfältig abgewogen worden sei und Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden seien. Aufgrund des Wechsels der Prüfungsgesellschaft, die mit der Abschlussprüfung der geprüften Gesellschaft für das Geschäftsjahr 2018 betraut gewesen sei, habe er sich daher nicht in der Lage befunden, bei dieser Gesellschaft beschäftigt zu sein, während die Prüfungsgesellschaft, die ihn beschäftigt hatte, noch deren Konten prüfte. Die Anwendung von Kapitel 10 § 5 des Abschlussprüfungsgesetzes müsse daher von der Voraussetzung abhängig gemacht werden, dass das Abschlussprüfungsverhältnis nach der Einstellung des verantwortlichen Prüfungspartners durch die geprüfte Gesellschaft weiter andauere.

25 Die zuständige nationale Behörde trägt vor, sie habe in dem streitigen Bescheid die in Kapitel 10 § 7 des Abschlussprüfungsgesetzes in Bezug auf die Verhängung von Sanktionen genannten Umstände berücksichtigt.

26 Zwar könnte der Ausdruck „eine Stellung übernimmt“ im Sinne von Kapitel 4 § 11 dieses Gesetzes dahin ausgelegt werden, dass er sich sowohl auf die Unterzeichnung des Arbeitsvertrags für die fragliche Stellung als auch auf den tatsächlichen Arbeitsantritt beziehe. Es treffe auch zu, dass sich die Umstände zwischen diesen beiden Ereignissen fortentwickeln könnten, und es sei nicht gerechtfertigt, eine Tat zu sanktionieren, die noch nicht erfolgt sei.

27 Mehrere Gesichtspunkte sprächen jedoch für die erste Auslegung. Da die Karenzzeit insbesondere die Unabhängigkeit eines Abschlussprüfers gewährleisten solle, müssten die äußeren Umstände und das Erscheinungsbild gebührend berücksichtigt werden. Der Abschluss eines Arbeitsvertrags, erst recht, wenn er auf den Märkten bekannt gemacht worden ist, stelle einen für Dritte wahrnehmbaren Umstand dar, der sich unmittelbar auf Verhalten und Einstellungen der eingestellten Person, ihres Arbeitgebers und der Stakeholder auswirke. Ein Abschlussprüfer, der einen solchen Arbeitsvertrag geschlossen habe, sei daher seinem neuen Arbeitgeber in dem Sinne verbunden, dass er ihm gegenüber zu einer gewissen Loyalität verpflichtet sei und sich schon vor seinem tatsächlichen Arbeitsantritt der Stellung gemäß den Interessen des neuen Arbeitgebers verhalten müsse. Ein Abschlussprüfer, der in einer Führungsposition in einem geprüften Unternehmen eingestellt werde, sei daher mit Abschluss des Arbeitsvertrags nicht mehr unabhängig. Der Zeitpunkt des tatsächlichen Arbeitsantritts sei hingegen nicht maßgeblich.

28 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits, der die Frage betreffe, ob die zuständige nationale Behörde gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens wegen Nichteinhaltung der Karenzzeit nach Kapitel 4 § 11 des Abschlussprüfungsgesetzes eine Geldbuße in Höhe von 50 000 Euro habe verhängen dürfen, von der Berechnungsmethode für die Dauer dieser Karenzzeit abhänge. Um gemäß Kapitel 10 § 7 dieses Gesetzes über die Schwere und die Dauer des dem Betroffenen vorgeworfenen Verstoßes zu entscheiden, sei nämlich der Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem davon auszugehen sei, dass er im Sinne von Kapitel 4 § 11 dieses Gesetzes, mit dem Art. 22a Abs. 1 der Richtlinie 2006/43 in das nationale Recht umgesetzt werde, eine zentrale Führungsposition in der geprüften Gesellschaft übernommen habe.

29 Vor diesem Hintergrund hat das Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Ist Art. 22a Abs. 1 der Richtlinie 2006/43 dahin auszulegen, dass ein verantwortlicher Prüfungspartner eine Stellung der in diesem Absatz bezeichneten Art mit Abschluss des Arbeitsvertrages übernimmt?

  2. Sofern die erste Frage verneint wird: Ist Art. 22a Abs. 1 der Richtlinie 2006/43 dahin auszulegen, dass ein verantwortlicher Prüfungspartner eine Stellung der in diesem Absatz bezeichneten Art mit Aufnahme der Arbeit in der betreffenden Stellung übernimmt?

Zu den Vorlagefragen

30 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 22a Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/43 dahin auszulegen ist, dass ein Abschlussprüfer, wie ein verantwortlicher Prüfungspartner, der von einer Prüfungsgesellschaft im Zusammenhang mit einem Prüfungsauftrag benannt wurde, als eine Person anzusehen ist, die im Sinne dieser Bestimmung eine zentrale Führungsposition in einem geprüften Unternehmen übernimmt, sobald sie mit diesem Unternehmen einen Arbeitsvertrag in Bezug auf diese Position abschließt oder erst ab dem Moment, in dem sie ihre Tätigkeit in dieser Position tatsächlich aufnimmt.

31 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 22a Abs. 1 der Richtlinie 2006/43 für den Fall, dass ein Abschlussprüfer oder ein verantwortlicher Prüfungspartner, der für eine Prüfungsgesellschaft eine Abschlussprüfung durchführt, von einem geprüften Unternehmen eingestellt wird, eine Karenzzeit von mindestens einem Jahr oder, wenn er von einem Unternehmen von öffentlichem Interesse eingestellt wird, von zwei Jahren nach Einstellung seiner Tätigkeit als Abschlussprüfer oder verantwortlicher Prüfungspartner im Zusammenhang mit dem Prüfungsauftrag vorsieht; während dieses Zeitraums ist es einem solchen Abschluss‑ oder Rechnungsprüfer gemäß Art. 22a Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie untersagt, eine zentrale Führungsposition in dem geprüften Unternehmen zu „übernehmen“.

32 Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts geht hervor, dass die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen sich in einem Rechtsstreit stellen, in dem der Kläger des Ausgangsverfahrens zwar nicht bestreitet, gegen die im vorliegenden Fall anwendbare Karenzzeit von zwei Jahren verstoßen zu haben, jedoch die Herabsetzung der Geldbuße anstrebt, die ihm von der zuständigen nationalen Behörde wegen dieses Verstoßes auferlegt worden war, weil er am Tag der Beendigung seiner Tätigkeit als verantwortlicher Prüfungspartner im Zusammenhang mit dem Prüfungsauftrag einer Gesellschaft mit dieser Gesellschaft einen Arbeitsvertrag geschlossen habe, mit dem er zum Leiter ihrer Finanzabteilung und Vorstandmitglied ernannt wurde. Nach Ansicht der Behörde ist es insoweit unerheblich, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens erst zu einem späteren Zeitpunkt, etwas mehr als sechs Monate nach Abschluss dieses Arbeitsvertrags und etwa ein Jahr nach Beendigung der letzten für diese Prüfungsgesellschaft durchgeführten Abschlussprüfung dieser Gesellschaft, die Stellung tatsächlich angetreten habe.

33 Daraus folgt, dass dieses Gericht – da der Verstoß gegen die maßgebliche Karenzzeit unstreitig ist – mit seinen Fragen, wie es im Vorlagebeschluss ausdrücklich hervorhebt, nur darauf abzielt, die Schwere und die Dauer dieses Verstoßes zu bestimmen, indem es um die Klarstellung der Tragweite der in Art. 22a Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/43 verwendeten Wendung „eine Position übernimmt“ ersucht, um den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem dieser Verstoß als begangen anzusehen ist.

34 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Unionsrechtsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch der Kontext, in dem diese steht, und der mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgte Zweck zu berücksichtigen ist (vgl. u. a. Urteil vom , Jobcenter Krefeld, C‑181/19, EU:C:2020:794, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35 Zum Wortlaut von Art. 22a Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/43 ist festzustellen, dass die in einigen Sprachfassungen dieser Bestimmung verwendeten Verben, wie „nastoupit“ in der tschechischen Fassung, „übernimmt“ in der deutschen Fassung, „occuper“ in der französischen Fassung und „prevzeti“ in der slowenischen Fassung nahelegen könnten, dass diese Bestimmung verlangt, dass der Betroffene im Begriff ist, seine Tätigkeit in dieser Position in dem geprüften Unternehmen auszuüben oder diese tatsächlich ausübt.

36 Aus anderen Sprachfassungen dieser Bestimmung ergibt sich jedoch eher, dass es für deren Anwendung ausreichen könnte, dass der Betroffene diese Position mit der Verpflichtung zu ihrer Wahrnehmung annimmt, so dass der Abschluss eines Arbeitsvertrags der insoweit zu berücksichtigende Zeitpunkt wäre. Eine solche Auslegung ergibt sich u. a. aus den in der spanischen („asuma“), der italienischen („accettare“), der niederländischen („anvaardt“) und der polnischen („zajęli“) Fassung verwendeten Verben.

37 Unter diesen Umständen kann eine rein wörtliche Auslegung von Art. 22a Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/43, die auf den Wortlaut einer oder mehrerer Sprachfassungen unter Ausschluss der anderen gestützt ist, nicht ausschlaggebend sein. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung nämlich nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den übrigen Sprachfassungen beanspruchen, da die Vorschriften des Unionsrechts im Licht der Fassungen in allen Sprachen der Union einheitlich ausgelegt und angewandt werden müssen (vgl. u. a. Urteil vom , Combinova, C‑476/19, EU:C:2020:802, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38 Angesichts der Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachfassungen von Art. 22a Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/43 sind der Kontext der Bestimmung und die mit ihr verfolgten Ziele sowie die Regelung, zu der sie gehört, zu prüfen.

39 Hierzu ist festzustellen, dass diese Richtlinie, wie sich aus ihrem Art. 1 unter Berücksichtigung ihrer Erwägungsgründe 5, 8, 9, 11 und 13 ergibt, eine Harmonisierung der Anforderungen an die Abschlussprüfung auf hohem Niveau bezweckt, indem sie u. a. den Abschlussprüfern strenge ethische Standards, insbesondere in Bezug auf ihre Integrität, ihre Unabhängigkeit und ihre Unparteilichkeit, vorschreibt, um im Interesse sowohl der geprüften Unternehmen als auch Dritter die Qualität der Prüfungen zu gewährleisten und so zum reibungslosen Funktionieren der Märkte beizutragen, indem sichergestellt wird, dass die Jahresabschlüsse ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild dieser Unternehmen vermitteln.

40 Art. 22a der Richtlinie 2006/43, der durch die Richtlinie 2014/56 eingefügt wurde, dient dieser Zielsetzung, da er, wie sich insbesondere aus dem ersten Erwägungsgrund der letztgenannten Richtlinie ergibt, Teil einer Reihe von Regelungen ist, die der Unionsgesetzgeber in Kapitel IV der Richtlinie 2006/43 („Berufsgrundsätze, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Verschwiegenheit und Berufsgeheimnis“), zu dem ihre Art. 22 bis 24 gehören, erlassen hat, um durch eine weitere Harmonisierung insbesondere die Unabhängigkeit der Abschlussprüfer bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu stärken.

41 Wie sich aus den Erwägungsgründen 6 bis 8 und 10 der Richtlinie 2014/56 ergibt, sollen diese Vorschriften im Wesentlichen zum einen sicherstellen, dass die Abschlussprüfer nicht in Entscheidungsprozesse der geprüften Unternehmen eingebunden sind und Interessenkonflikte vermeiden, insbesondere durch den Ausschluss der Prüfung von Unternehmen, mit denen diese Prüfer durch ein geschäftliches oder finanzielles Interesse verbunden sind, und zum anderen die Abschlussprüfer vor dem Eingreifen von Eigentümern, Anteilseignern oder der Unternehmensleitung der Prüfungsgesellschaft, bei der sie beschäftigt sind, schützen, um durch die Verhinderung jeglicher Einflussnahme, die geeignet ist, sich auf das in dem in Art. 28 der Richtlinie 2006/43 vorgesehenen Bestätigungsvermerk wiedergegebene Ergebnis ihrer Prüfung unmittelbar oder mittelbar auszuwirken, die Qualität und Integrität dieses Vermerks und damit seine Zuverlässigkeit für das geprüfte Unternehmen und für Dritte im Einklang mit dem in Rn. 39 des vorliegenden Urteils genannten Ziel dieser Richtlinie zu gewährleisten.

42 Daraus folgt, dass das Erfordernis der Unabhängigkeit nicht nur einen internen Aspekt hat, soweit es darauf abzielt, dem geprüften Unternehmen die Zuverlässigkeit der von dem mit der Prüfung beauftragten Abschlussprüfer durchgeführten Prüfung zu gewährleisten, sondern auch einen externen Aspekt, soweit es darauf abzielt, das Vertrauen Dritter, wie z. B. Gläubiger und Anleger, in die Zuverlässigkeit dieser Prüfung zu wahren. Dieser externe Aspekt ist umso wichtiger, als ein solches Vertrauen entscheidend ist, um den Schutz des Wertes der Beteiligungen von Gesellschaftern und Anteilseignern und damit das ordnungsgemäße Funktionieren der Märkte insgesamt für die Anleger sicherzustellen. Die Abschlussprüfungen müssen daher nicht nur zuverlässig sein, sondern von Dritten auch als zuverlässig wahrgenommen werden.

43 Aus dieser doppelten Perspektive – intern und extern – hat der Unionsgesetzgeber, wie sich insbesondere aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/56 ergibt, einem Abschlussprüfer untersagt, eine Funktion in der Geschäftsführung oder im Verwaltungs- oder Aufsichtsorgan eines geprüften Unternehmens zu übernehmen, und zwar nicht nur in dem vom Bestätigungsvermerk erfassten Zeitraum, sondern, wie in den Bestimmungen von Art. 22a Abs. 1 der Richtlinie 2006/43 zum Ausdruck kommt, auch während eines angemessenen Zeitraums nach Einstellung seiner Tätigkeit als Abschlussprüfer oder als verantwortlicher Prüfungspartner im Zusammenhang mit einem Prüfungsauftrag.

44 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 52 bis 55 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, soll mit diesem Verbot somit so weit wie möglich der Anreiz für einen Abschlussprüfer beseitigt werden, eine Einstellung durch ein geprüftes Unternehmen während des Zeitraums, in dem er die Abschlussprüfung durchgeführt hat, wie auch während eines bestimmten nachfolgenden Zeitraums in Betracht zu ziehen oder zu verwirklichen. Insbesondere will der Unionsgesetzgeber mit diesem Verbot verhindern, dass ein solcher Prüfer in die Versuchung gerät, seine eigenen gegenwärtigen oder potenziellen Interessen zu begünstigen, indem er einen Bestätigungsvermerk erstellt, der einem solchen Unternehmen gefällig ist und den dieses kurz- oder mittelfristig belohnen würde, indem es ihm bei sich eine zentrale Führungsposition anböte.

45 Es ist aber festzustellen, dass schon das Bestehen eines Vertragsverhältnisses zwischen einem Abschlussprüfer und einem geprüften Unternehmen und sogar die Aufnahme entsprechender Verhandlungen geeignet sind, nicht nur zu einem Interessenkonflikt zu führen, sondern darüber hinaus den Anschein davon zu erwecken.

46 Wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen zu Recht geltend gemacht hat, kann dieses Verhältnis nämlich angesichts der sich aus einem solchen Vertragsverhältnis ergebenden Loyalitäts- und Redlichkeitspflichten und der Nähe, die es zwischen den Vertragspartnern zu schaffen scheint, von Dritten als geeignet wahrgenommen werden, die von dem betreffenden Abschlussprüfer durchgeführte Prüfung des geprüften Unternehmens zu beeinflussen oder beeinflusst zu haben und damit das Vertrauen dieser Dritten in die Zuverlässigkeit des Ergebnisses dieser Prüfung zu beeinträchtigen.

47 Hierzu ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass selbst dann, wenn ein Abschlussprüfer seine Tätigkeit oder die als verantwortlicher Prüfungspartner im Zusammenhang mit einem Prüfungsauftrag bei einem bestimmten Unternehmen beendet hat, die Aushandlung oder die Begründung eines Vertragsverhältnisses zwischen einem solchen Prüfer und diesem Unternehmen ausreichen kann, um bei Dritten rückwirkend Zweifel an der Qualität und Integrität der vor der Beendigung dieser Tätigkeiten durchgeführten Prüfung zu wecken.

48 Insbesondere angesichts der Bedeutung, die der Wahrnehmung durch Dritte in Bezug auf die Unabhängigkeit eines Abschlussprüfers zukommt, ist dieser somit als eine Person anzusehen, die eine Position innerhalb eines geprüften Unternehmens im Sinne von Art. 22a Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/43 übernimmt, sobald zwischen ihnen ein Vertragsverhältnis begründet ist, auch wenn er seine Tätigkeit in dieser Position in diesem Unternehmen noch nicht tatsächlich aufgenommen hat.

49 Diese Auslegung knüpft an die Bestimmungen von Art. 22 der Richtlinie 2006/43 an, der speziell die Unabhängigkeit der Abschlussprüfer umreißt und in Verbindung mit dem die Tragweite von Art. 22a Abs. 1 dieser Richtlinie zu bestimmen ist, da, wie bereits aus Rn. 40 des vorliegenden Urteils hervorgeht, alle diese Bestimmungen vom Unionsgesetzgeber erlassen wurden, um diese Unabhängigkeit zu stärken.

50 Um sicherzustellen, dass ein Abschlussprüfer nicht in die Entscheidungsprozesse eines geprüften Unternehmens eingebunden ist, sorgen nämlich nach Art. 22 Abs. 1 die Mitgliedstaaten dafür, dass alle angemessenen Maßnahmen ergriffen werden, um den Eintritt jeglicher Interessenkonflikte zwischen diesem Prüfer und einem solchen Unternehmen zu verhindern, die sich insbesondere aufgrund einer Beziehung finanzieller, persönlicher oder geschäftlicher Art oder eines Beschäftigungsverhältnisses ergeben können, unabhängig davon, ob sie direkt oder indirekt, tatsächlich oder potenziell ist, „wodurch eine unabhängige, vernünftige und sachkundige dritte Partei … zu dem Schluss käme“, dass die Unabhängigkeit dieses Prüfers gefährdet ist.

51 Ebenso sind die Mitgliedstaaten nach Art. 22 Abs. 4 Buchst. c dieser Richtlinie verpflichtet, sicherzustellen, dass Abschlussprüfer nicht an der Abschlussprüfung eines geprüften Unternehmens teilnehmen können, wenn sie während des Prüfungszeitraums eine Beschäftigungs‑, Geschäfts- oder sonstige Beziehung zu diesem unterhalten haben, die „einen Interessenkonflikt verursachen kann oder nach allgemeiner Auffassung einen solchen verursacht“.

52 Ebenso ergibt sich aus Art. 22 Abs. 5, dass ein Abschlussprüfer sich nur dann um Geschenke oder Gefälligkeiten des geprüften Unternehmens bemühen oder solche annehmen darf, wenn ein objektiver, verständiger und informierter Dritter deren Wert als geringfügig oder unbedeutend betrachten würde.

53 Wie der Generalanwalt in Nr. 69 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, geht aus diesen Bestimmungen klar hervor, dass nach Ansicht des Unionsgesetzgebers eine Beziehung, die zu einem tatsächlichen oder potenziellen Interessenkonflikt führen kann, ebenso geeignet ist, die Zuverlässigkeit des Ergebnisses einer Abschlussprüfung zu beeinträchtigen wie eine Beziehung, die von Dritten vernünftigerweise als mögliche Ursache eines solchen Interessenkonflikts wahrgenommen werden kann.

54 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 22a Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/43 dahin auszulegen ist, dass ein Abschlussprüfer, wie ein verantwortlicher Prüfungspartner, der von einer Prüfungsgesellschaft im Zusammenhang mit einem Prüfungsauftrag benannt wurde, als eine Person anzusehen ist, die im Sinne dieser Bestimmung eine zentrale Führungsposition in einem geprüften Unternehmen übernimmt, sobald er mit diesem Unternehmen einen Arbeitsvertrag für diese Position schließt, auch wenn er seine Tätigkeit in dieser Position noch nicht tatsächlich aufgenommen hat.

Kosten

55 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 22a Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 84/253/EWG des Rates in der durch die Richtlinie 2014/56/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein Abschlussprüfer, wie ein verantwortlicher Prüfungspartner, der von einer Prüfungsgesellschaft im Zusammenhang mit einem Prüfungsauftrag benannt wurde, als eine Person anzusehen ist, die im Sinne dieser Bestimmung eine zentrale Führungsposition in einem geprüften Unternehmen übernimmt, sobald er mit diesem Unternehmen einen Arbeitsvertrag für diese Position schließt, auch wenn er seine Tätigkeit in dieser Position noch nicht tatsächlich aufgenommen hat.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2021:230

Fundstelle(n):
DAAAH-77095