Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose
Gesetze: § 63 StGB, § 267 StPO
Instanzenzug: LG Bielefeld Az: 1 KLs 4/20
Gründe
1Das Landgericht hat gegen den Beschuldigten im Sicherungsverfahren die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine hiergegen eingelegte und mit der Sachrüge begründete Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg.
I.
2Das Landgericht hat im Wesentlichen die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:
3Der Beschuldigte, ein somalischer Staatsangehöriger, wurde seit dem unter der Diagnose einer akuten polymorphen psychotischen Störung in einer geschlossenen Station einer psychiatrischen Klinik behandelt. Am Tag nach seiner Aufnahme in die Klinik ging er dort unvermittelt auf eine Mitpatientin, die vor ihrem Patientenzimmer auf einem Stuhl saß, zu und fasste mit beiden Händen in Richtung ihrer Brüste. Als die Mitpatientin in ihr Zimmer flüchtete, folgte er ihr und entkleidete seinen Unterkörper vollständig. Nachdem die Mitpatientin aus dem Zimmer entkommen konnte, stürzte sich der Beschuldigte auf eine in demselben Zimmer auf ihrem Bett sitzende weitere Patientin. Auf diese legte er sich mit halb erigiertem Penis, drückte sie auf ihr Bett und versuchte, ihre Hose zu öffnen und herunterzuziehen. Dies gelang ihm nicht, weil er durch hinzugerufenes Pflegepersonal an weiteren Handlungen gehindert wurde.
4Der Beschuldigte befand sich im Rahmen einer paranoiden Schizophrenie bei Tatbegehung in einem Zustand der akuten psychotischen Dekompensation, so dass seine Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, aufgehoben war.
5Das Landgericht hat die Taten rechtlich als versuchten sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. 1, Abs. 3, §§ 22, 23 StGB und als sexuelle Nötigung gemäß § 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1 StGB gewertet.
II.
61. Die Anordnung der Unterbringung unterliegt der Aufhebung, weil die Gefahrenprognose des Landgerichts revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht standhält.
7Die für eine Unterbringung nach § 63 StGB erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist nur dann gegeben, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Täter infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde (vgl. , NStZ-RR 2017, 203 mwN; Beschluss vom – 4 StR 277/15, NStZ-RR 2016, 77 [Ls]). Diese Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 556/19, NStZ-RR 2020, 207; vom ‒ 2 StR 239/15 und vom ‒ 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306 f. mwN). Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Gesichtspunkte hierfür in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 115/20, juris Rn. 5; vom – 2 StR 436/19, juris Rn. 5 und vom – 5 StR 336/18, juris Rn. 7 mwN).
8Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht. Eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung erheblicher Straftaten wird durch die Urteilsgründe nicht belegt.
9Nach den Feststellungen des Landgerichts zeigten sich bei dem Beschuldigten spätestens im Jahr 2016 psychische Probleme. Im März jenes Jahres litt er unter akustischen und optischen Halluzinationen, sprang aus dem Fenster seiner Wohnunterkunft, erkannte ihm bekannte Personen nicht und war zu einer sinnvollen Unterhaltung nicht in der Lage. In einem Bahnhofsgebäude entkleidete er sich vollständig. In der Folge befand sich der Beschuldigte von März bis Juni 2016 in einem psychiatrischen Krankenhaus, wo die Diagnose einer polymorphen psychotischen Störung gestellt wurde. Im Rahmen der dort durchgeführten medikamentösen Behandlung zeigten sich schließlich keine Hinweise auf psychotisches Erleben mehr. Spätestens am Ende des Jahres 2017 stellte der Beschuldigte die Einnahme des ihm verordneten Neuroleptikums ein. Im März 2018 erlitt er erneut einen psychischen Zusammenbruch, in dessen Folge es zu seinem Aufenthalt in der geschlossenen Station der psychiatrischen Klinik und den hier verfahrensgegenständlichen Anlasstaten kam. Nach seiner Entlassung aus der deswegen verhängten Untersuchungshaft Anfang Mai 2018 nahm der Beschuldigte bis Anfang Dezember 2018 Termine bei einem niedergelassenen Nervenarzt wahr, durch den er medikamentös behandelt wurde. Um seiner drohenden Abschiebung zu entgehen, verließ der Beschuldigte seinen Wohnort und stellte bald darauf die Einnahme des Medikaments abermals ein. Am wurde er aufgrund eines gegen ihn in dieser Sache erlassenen Unterbringungsbefehls festgenommen. Bei der Aufnahme in der Klinik für Forensische Psychiatrie am selben Tag wurde er als wach, zu allen Qualitäten orientiert und im formalen Denken geordnet beschrieben; Anhaltspunkte für psychotische Symptome fanden sich nicht.
10Nach den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen, denen das Landgericht gefolgt ist, seien bei dem Beschuldigten bisher zwei psychotische Krankheitsphasen aufgetreten. Es sei von einer erneuten akut psychotischen Exazerbation und einem vergleichbaren Tatverhalten auszugehen, falls der Beschuldigte zukünftig die erforderlichen Neuroleptika absetzen sollte. Der zeitliche Rahmen hierfür sei indes nicht vorherzusagen. Dass der Beschuldigte während der Zeit seines Untertauchens – nach den Feststellungen des Landgerichts ein Zeitraum von über einem Jahr – unbehandelt nicht wieder auffällig geworden sei, sei kein Indiz für das Ausbleiben eines Rückfalls, sondern beruhe lediglich auf Glück bzw. Zufall. Ein schizophrenes Residuum, das die Gefährlichkeit des Beschuldigten senken könnte, sei sicher auszuschließen.
11Diesen Darlegungen lässt sich nicht entnehmen, unter welchen Bedingungen mit einer erneuten psychotischen Exazerbation und hiermit verbundenen weiteren erheblichen Straftaten, namentlich den Anlasstaten entsprechenden Sexualstraftaten, zu rechnen und wie hoch der Grad der Wahrscheinlichkeit hierfür ist. Der Beschuldigte war nach den Urteilsfeststellungen seit dem Beginn seiner psychischen Erkrankung auch unbehandelt über längere Zeiträume unauffällig; rechtswidrige Taten hat er weder vor noch nach den Anlasstaten vom begangen. Das Landgericht hat dies zwar nicht verkannt und hinsichtlich des Zeitraums zwischen der Untersuchungshaft und der Festnahme des Beschuldigten im Dezember 2019 auch erörtert. Seine Beurteilung, dass dieser Zeitraum, in dem der Beschuldigte unbehandelt delinquenzfrei geblieben ist, kein für die Gefahrenprognose bedeutsames Indiz sei, ist indes nicht tragfähig begründet. Soweit das Landgericht, dem Sachverständigen folgend, diesen Verlauf auf „Glück bzw. Zufall“ zurückgeführt hat, ist nicht nachvollziehbar, worin die Umstände bestanden haben könnten, die den Beschuldigten von weiteren rechtswidrigen Taten abhielten. Demzufolge bleibt auch ungeklärt, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit derartige Umstände künftig vorliegen oder ausbleiben werden. Auf dieser Grundlage kann nicht ausgeschlossen werden, dass die verfahrensgegenständlichen, in der geschlossenen Abteilung eines Krankenhauses begangenen Handlungen des Beschuldigten Ausnahmetaten waren, die als solche eine Unterbringung nach § 63 StGB nicht rechtfertigen könnten.
122. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu dem äußeren Tatgeschehen der Anlasstaten können bestehen bleiben. Ergänzende, hierzu nicht in Widerspruch tretende Feststellungen sind möglich.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:151220B4STR385.20.0
Fundstelle(n):
CAAAH-72934