BGH Beschluss v. - 4 StR 636/19

Strafurteil: Anforderungen an die Beurteilung der Schuldfähigkeit durch den Tatrichter bei Vorliegen eines Sachverständigengutachtens; Gesamtwürdigung der Alkoholisierung des Täters und weiterer Umstände

Gesetze: § 20 StGB, § 21 StGB, § 22 StGB, § 23 StGB, § 211 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Instanzenzug: Az: 2 Ks 6/19

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichtete und auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.

2I. Die Strafkammer hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3In der Nacht vom 28. auf den befand sich der Angeklagte wegen gescheiterter Beziehungen, fehlender beruflicher Perspektive und aufgrund fehlender Anerkennung in einer krisenhaften Lebenssituation. Er trank in verschiedenen Lokalen erhebliche Mengen Alkohol. Dabei geriet er in Auseinandersetzungen mit anderen Gästen, infolgedessen er ein Lokal wütend verließ. Aus einer anderen Gaststätte wurde er von Gästen „hinauskomplimentiert“, wodurch sich sein Gefühl der Isolation steigerte. Unmittelbar nach diesen Vorfällen überquerte er „leicht schwankend“ eine Straße und betrat mit einem ausgeklappten Rettungsmesser, das eine 9,5 cm lange und spitze Klinge hatte, eine Pizzeria. Dort stach er das Messer unvermittelt und wortlos erst dem ihm unbekannten Zeugen B.    drei Mal und unmittelbar danach dem ihm ebenfalls unbekannten Zeugen K.       fünf Mal mit schnellen und wuchtigen Stichbewegungen in den Rücken. Bei beiden Angriffen hielt er einen tödlichen Ausgang für möglich, nahm den Tod billigend in Kauf und nutzte die Arg- und Wehrlosigkeit der Geschädigten bewusst für seine Angriffe aus. Beide Opfer erlitten Stichverletzungen. Der Angeklagte hatte zum Tatzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 3,02 ‰. Die Strafkammer ist davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit erheblich vermindert, aber nicht vollständig aufgehoben war.

4II. Die Schuldfähigkeitsprüfung hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

51. Das angefochtene Urteil enthält keine nachvollziehbare Begründung für die Annahme, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zwar erheblich vermindert im Sinne des § 21 StGB, aber nicht vollständig aufgehoben war.

6a) Das Tatgericht hat in Fällen, in denen es dem Gutachten eines Sachverständigen folgt, grundsätzlich dessen wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Schlussfolgerungen so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Ergebnisse nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind (st. Rspr.; Rn. 20; Beschluss vom – 1 StR 28/20 Rn. 3; jeweils mwN).

7b) Dem wird die Beweiswürdigung nicht gerecht. Das Landgericht hat sich nur dem Ergebnis des Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen. Es hat ausgeführt, der Sachverständige habe von der „hohen Blutalkoholkonzentration“ und von den auf Videos erkennbaren „motorischen Auffälligkeiten“ bei der Gang- und Standsicherheit des Angeklagten auf ein „deutlich herabgesetztes“ Steuerungsvermögen geschlossen. Dagegen habe er eine Volltrunkenheit, die für eine vollständige Aufhebung des Steuerungsvermögens spreche, „nicht gesehen“. Die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen, auf die er seine Wertung einer nicht gänzlich aufgehobenen Steuerungsfähigkeit gestützt hat, werden im Urteil nicht genannt. Daher ist bereits das Gutachtenergebnis, dass die Schuldfähigkeit des Angeklagten trotz der hohen Blutalkoholkonzentration und der motorischen Auffälligkeiten lediglich erheblich vermindert war, nicht nachvollziehbar.

82. Zudem ist die Beweiswürdigung zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten lückenhaft, weil das Landgericht keine eigene Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Schuldfähigkeit bedeutsamen Gesichtspunkte vorgenommen hat.

9a) Die Beurteilung der Schuldfähigkeit ist ausschließlich Sache des Tatrichters und nicht des Sachverständigen (vgl. , NStZ-RR 2017, 37; Urteil vom – 1 StR 346/03, NJW 2004, 1810; jeweils mwN). Dieser muss bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB vorliegen, im Rahmen einer eigenen Gesamtwürdigung alle wesentlichen objektiven und subjektiven Umstände, die sich auf das Erscheinungsbild und das Verhalten des Täters vor, während und nach der Tat beziehen, beurteilen und gegeneinander abwägen (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 59/12, BGHSt 57, 247, 252; vom – 2 StR 281/00, BGHR § 21 StGB Ursachen, mehrere 14; jeweils mwN). Eine Bewertung der Schuldfähigkeit allein anhand der Alkoholisierung des Täters ist jedenfalls dann unzureichend, wenn weitere Umstände vorliegen, die für sich genommen oder im Zusammenwirken mit der Alkoholisierung die Steuerungs- oder Einsichtsfähigkeit des Täters zur Tatzeit beeinträchtigen können (vgl. , BGHR § 21 StGB Ursachen, mehrere 4; vom – 1 StR 128/16, NStZ 2016, 670, 671).

10b) Das Landgericht hat trotz sich aufdrängender weiterer die Schuldfähigkeitsbeurteilung betreffender Umstände eine solche Gesamtbetrachtung nicht vorgenommen. Es hat die Ausführungen des Sachverständigen pauschal als „nachvollziehbar“ bewertet und sich ihnen ohne eigene Würdigung angeschlossen. Damit hat es seine Beurteilung auch nur isoliert auf die vom Sachverständigen angesprochene Alkoholisierung des Angeklagten gestützt. Dagegen hat es die Feststellungen zur Tatentstehung und -begehung – etwa die krisenhafte Lebenssituation des Angeklagten, dessen affektive Erregung und das Ausmaß der Gewalt ohne erkennbaren Anlass – nicht in seine Erwägungen einbezogen, obwohl es sich hierbei um Beweisanzeichen handelt, welche die Schuldfähigkeit jedenfalls im Zusammenwirken mit der Alkoholisierung beeinträchtigt haben können. Ebenso hat es die Einlassung des Angeklagten, er habe keine Erinnerung an das Tatgeschehen und sei über die Taten fassungslos, nicht berücksichtigt. Gleiches gilt für das Nachtatverhalten. Angesichts dieser Erörterungslücken kann der Senat nicht überprüfen, ob die Strafkammer zu Recht von einer nur erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen ist.

11III. Ergänzend bemerkt der Senat:

121. Das neue Tatgericht wird die Alkoholisierung des Angeklagten und die weiteren genannten Umstände, sofern sie erneut festgestellt werden, auch im Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung bei Prüfung des Tötungsvorsatzes (vgl. hierzu , NStZ 2010, 571; Beschlüsse vom – 3 StR 142/08, BGHR Vorsatz, bedingter 62; vom – 3 StR 216/02, BGHR Vorsatz, bedingter 55) und des Ausnutzungsbewusstseins bei der Heimtücke (vgl. , NStZ 2005, 691; vom – 3 StR 392/99, NStZ-RR 2000, 166; vom – 3 StR 189/97, BGHR Heimtücke 26) zu berücksichtigen haben.

132. Der Senat weist zudem darauf hin, dass in der Strafzumessung die Art der Tatausführung einem Angeklagten nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt werden darf, wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar ist, nicht aber, wenn ihre Ursache in einer von ihm nicht oder nur eingeschränkt zu vertretenden geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 375/11 Rn. 5; vom – 3 StR 453/11, NStZ-RR 2012, 169; vom – 5 StR 365/02, NStZ-RR 2003, 104; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 46 Rn. 32a; jeweils mwN). Die von der Strafkammer strafschärfend eingestellte „Wahllosigkeit der Gewalt“ und „schnelle Taktfrequenz des mehrfachen Zustechens“ sowie das „hohe Maß an Gewaltbereitschaft“ können auch Ausdruck einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit sein, so dass diese Umstände dem Angeklagten nicht bzw. nicht in vollem Umfang vorwerfbar sind.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:081020B4STR636.19.0

Fundstelle(n):
HAAAH-70128