BAG Urteil v. - 5 AZR 57/20

Vergütung - Berücksichtigung von Zeiten einer Langzeiterkrankung bei den Tarifsätzen (Bundesentgelttarifvertrag der chemischen Industrie)

Gesetze: § 1 TVG, Art 3 Abs 1 GG, Art 9 Abs 3 GG, § 387 BGB, § 388 BGB, § 394 S 1 BGB, § 850 Abs 1 ZPO, § 850 Abs 2 ZPO, § 850c Abs 1 ZPO, § 850c Abs 2 ZPO, § 850a ZPO

Instanzenzug: ArbG Neumünster Az: 1 Ca 470 d/18 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein Az: 5 Sa 124/19 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über Vergütung.

2Die Klägerin ist seit bei der Beklagten als Payroll Analyst auf Grundlage eines schriftlichen Arbeitsvertrags beschäftigt, der ua. bestimmt:

3Der zwischen dem Bundesarbeitgeberverband Chemie und der IG Bergbau, Chemie, Energie abgeschlossene Bundesentgelttarifvertrag für die chemische Industrie vom idF vom (iF BETV) regelt ua.:

4Bis einschließlich des Jahres 2016 hat die Beklagte in ihrem Unternehmen bei Ermittlung der Entgeltstufen des § 8 BETV auch Zeiten der Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlung berücksichtigt.

5Die Klägerin war vom bis zum arbeitsunfähig erkrankt. Nach Ablauf des sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraums hat sie vom bis zum von der Beklagten keine Entgeltfortzahlung mehr erhalten. Die Beklagte hat der Klägerin bis einschließlich April 2018 ein Tarifentgelt gemäß Entgeltgruppe E 11 nach vier Tätigkeitsjahren gezahlt. Seit zahlt die Beklagte an die Klägerin ein Tarifentgelt gemäß dieser Entgeltgruppe nach sechs Tätigkeitsjahren.

6Mit Schreiben vom hat die Klägerin von der Beklagten - erfolglos - die Zahlung der Differenzvergütung von monatlich 435,00 Euro brutto zwischen dem gezahlten Tarifentgelt der Entgeltgruppe E 11 nach vier Tätigkeitsjahren iHv. 4.398,00 Euro brutto monatlich und dem Tarifentgelt der Entgeltgruppe E 11 nach sechs Tätigkeitsjahren iHv. 4.833,00 Euro brutto monatlich, insgesamt 3.045,00 Euro brutto für den Zeitraum von Oktober 2017 bis April 2018 verlangt. Mit der der Beklagten am zugestellten Klage hat die Klägerin entsprechende Vergütungszahlung nebst Prozesszinsen gefordert.

7Am hat die Beklagte Korrekturabrechnungen für die Monate Oktober 2017 bis April 2018 erteilt, mit welchen die strittigen monatlichen Differenzbeträge abgerechnet wurden. Mit der Vergütung für August 2018 hat die Beklagte an die Klägerin neben dem Tarifentgelt eine „Nachverrechnung aus Vorm.“ iHv. insgesamt 2.218,09 Euro netto gezahlt. Die Klägerin hat daraufhin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Die Beklagte hat der Erledigungserklärung widersprochen und mitgeteilt, bei der Nachzahlung habe es sich um eine unbewusste Überzahlung gehandelt. Mit Korrekturabrechnungen für die Monate September, Oktober und November 2018 hat die Beklagte jeweils 615,49 Euro netto, insgesamt 1.846,47 Euro netto als „Abschlag Nachverrechnung aus Vorm.“ von den Vergütungszahlungen an die Klägerin einbehalten. Die Parteien haben daraufhin den Prozess fortgeführt.

8Vor dem Arbeitsgericht hat die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 3.045,00 Euro brutto nebst Zinsen nach bestimmter Staffelung zu zahlen. Das Arbeitsgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben, wogegen die Beklagte Berufung eingelegt hat. In der Berufungsverhandlung hat die Klägerin ihre Klage teilweise zurückgenommen und lediglich noch die Zahlung der in den Monaten September, Oktober und November 2018 einbehaltenen Nettobeträge iHv. insgesamt 1.846,47 Euro gefordert.

9Soweit für die Revision relevant hat die Klägerin gemeint, eine Aufrechnung mit Vergütungszahlungen für die Monate September bis November 2018 sei unzulässig. Sie habe Anspruch auf Vergütungszahlung nach § 8 BETV auf Basis der Entgeltgruppe E 11 nach sechs Tätigkeitsjahren ab Oktober 2017. Die Zeit der Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlung sei zu berücksichtigen. Der Anspruch folge zudem daraus, dass die Beklagte mit der Korrekturabrechnung vom ein Schuldanerkenntnis abgegeben habe. Jedenfalls sei die Differenzvergütung aufgrund betrieblicher Übung sowie aus arbeitsrechtlichem Gleichbehandlungsgrundsatz geschuldet.

10Die Klägerin hat zuletzt sinngemäß beantragt,

11Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, der Tarifsprung setze eine tatsächliche berufliche Tätigkeit voraus, die während der Zeit einer Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlung nicht vorliege.

12Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihren Antrag auf Zahlung der Differenzvergütung von 1.846,47 Euro netto nebst Zinsen für die Monate September bis November 2018 weiter.

Gründe

13Die zulässige Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Differenzvergütung. Soweit die Beklagte nach Korrekturabrechnungen der Klägerin die strittigen monatlichen Differenzbeträge irrtümlich ausgezahlt hat, stehen ihr aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB Rückforderungsansprüche zu. Die hierauf gestützte Aufrechnung gegen Ansprüche der Klägerin auf laufende Arbeitsvergütung hat das Landesarbeitsgericht jedoch ohne Begründung als wirksam erachtet. Es hat hierbei verkannt, dass gemäß § 394 BGB die Aufrechnung nicht stattfindet und deshalb nicht zum Erlöschen der Forderung führt (§ 389 BGB), soweit eine Forderung der Pfändung nicht unterworfen ist. Der Aufrechnende hat dabei im Prozess schlüssig darzulegen, dass er die Pfändungsschutzvorschriften beachtet hat. Dem ist die Beklagte nicht nachgekommen. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Wegen fehlender tatsächlicher Feststellungen zum Aufrechnungsverbot nach § 394 BGB kann der Senat nicht selbst endentscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO).

14I. Die Revision ist begründet.

151. Über die Zulässigkeit der Klageänderung in der Berufungsinstanz hat der Senat keine Entscheidung zu treffen. Das Landesarbeitsgericht hat über den Antrag, mit dem die Klägerin ihre Klage geändert hat und Vergütung statt für die Zeit von Oktober 2017 bis April 2018 für die Monate September bis November 2018 fordert, in der Sache entschieden. Daher ist in entsprechender Anwendung von § 268 ZPO in der Revision nicht mehr zu prüfen, ob eine Klageänderung nach § 533 ZPO iVm. § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG vorliegt und ob diese ggf. zulässig ist (vgl.  - Rn. 30 mwN).

162. Die Klage ist zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Es handelt sich um eine abschließende Gesamtklage (vgl.  - Rn. 20). Die Klage ist auch mit Blick darauf, dass es sich um eine alternative Klagehäufung handelt, hinreichend bestimmt (zu den Anforderungen  - Rn. 21 mwN). Auf den Hinweis des Berufungsgerichts hat die Klägerin die zu prüfende Reihenfolge der Ansprüche festgelegt.

173. Ob die Klage begründet ist, kann der Senat auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffen Feststellungen nicht entscheiden.

18a) Das Landesarbeitsgericht hat zunächst zutreffend erkannt, dass die Beklagte gegen die Klägerin einen Anspruch auf Rückzahlung nachentrichteter Arbeitsvergütung aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB hat. Sie hat aufgrund Rückrechnung für die Monate Oktober 2017 bis April 2018 Vergütung iHv. insgesamt 1.846,47 Euro netto ohne Rechtsgrund an die Klägerin ausgezahlt.

19aa) Ein Rechtsgrund für die Zahlung folgt nicht aus § 1 Abs. 3 Arbeitsvertrag iVm. § 8 Ziff. 2 Buchst. b Alt. 4, Ziff. 3 BETV. Die Klägerin hat daraus keinen Anspruch auf Differenzvergütung in Höhe des Unterschiedsbetrags zwischen der Entgeltgruppe E 11 nach vier Tätigkeitsjahren in dieser Gruppe und der Entgeltgruppe E 11 nach sechs Tätigkeitsjahren in dieser Gruppe für die Zeit vor dem . Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin noch keine sechs Tätigkeitsjahre in der Entgeltgruppe E 11 zurückgelegt. Dies ergibt die Auslegung des nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts einzelvertraglich in Bezug genommenen BETV (zu den nach st. Rspr. anzuwendenden allgemeinen Auslegungsgrundsätzen vgl.  - Rn. 25 mwN).

20(1) Für in die Entgeltgruppe E 11 eingruppierte Arbeitnehmer - wie die Klägerin - ist die Vergütung nach § 8 Ziff. 2 Buchst. b BETV von der Einordnung in einen Anfangssatz oder einen Tarifsatz nach zwei, vier oder sechs Tätigkeitsjahren in dieser Entgeltgruppe abhängig. Dabei bestimmt § 8 Ziff. 3 BETV in Prozentwerten die Relationen zwischen dem Anfangs- und Endsatz der jeweiligen Entgeltgruppe. Der Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin ohne Entgeltfortzahlung vom bis zum ist nicht auf die Tätigkeitsjahre iSd. § 8 Ziff. 2 und Ziff. 3 BETV, beginnend ab dem , anzurechnen. Daher hat die Klägerin den Stufenaufstieg zur Entgeltgruppe E 11 nach sechs Tätigkeitsjahren erst ab dem absolviert.

21(a) Der Wortlaut von § 8 Ziff. 2 BETV benennt als Voraussetzung für den Stufenaufstieg „Tätigkeitsjahre in dieser Gruppe“. Unter dem Begriff der Tätigkeit versteht man im Allgemeinen die Gesamtheit derjenigen Verrichtungen, mit denen jemand in Ausübung seines Berufs zu tun hat, das Tätigsein, das Sichbeschäftigen mit etwas (Duden Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 3. Aufl. Stichwort: „Tätigkeit“). Die Kombination mit dem Merkmal einer bestimmten Anzahl von Jahren verdeutlicht, dass nicht ein bloßer Zeitablauf maßgebend sein soll, vielmehr die Zeit mit einer der Entgeltgruppe entsprechenden tatsächlichen Beschäftigung zu verbringen ist. Insoweit ist die streitgegenständliche Regelung von Tarifregelungen, insbesondere im öffentlichen Dienst, die für bestimmte Ansprüche auf „geleistete Dienstjahre“ abstellen, abzugrenzen. Eine solche Begrifflichkeit sagt nach der Rechtsprechung des Senats noch nichts darüber aus, ob und in welchem Umfang während dieses Zeitraums tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht wurden. Denn das Wort „Dienstjahr“ kennzeichnet einen Zeitraum, der abläuft oder von einer Person zurückgelegt wird. Er wird jedoch nicht „geleistet“ (vgl.  - zu 1 der Gründe). In Abgrenzung hierzu verdeutlicht der Begriff Tätigkeitsjahr ein aktives Verbringen des maßgeblichen Zeitraums mit den entsprechenden Arbeitsaufgaben (ebenso für die Begrifflichkeit „abgeleistete Beschäftigungsjahre“ in einem Tarifvertrag  - Rn. 18, BAGE 126, 375).

22(b) Die Systematik des BETV spricht ebenfalls für das Ergebnis der Wortlautauslegung. Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 BETV erhält der Arbeitnehmer bei einer Höhergruppierung in die Entgeltgruppen E 9 bis E 13 so lange den Tarifsatz der höheren Entgeltgruppe, der am nächsten über seinem bisherigen Tarifsatz liegt, bis ihm aufgrund seiner Tätigkeitsjahre in der neuen Entgeltgruppe ein höherer Tarifsatz zusteht. Damit ist die Sicherung eines Besitzstandes in Bezug auf die Vergütungshöhe bezweckt. Darüber hinaus regelt § 9 Abs. 2 Satz 2 BETV, dass die für diese Entgeltstufe geforderte zeitliche Zugehörigkeit zur Hälfte als erfüllt gilt. Hier stellt der Tarifvertrag - in Abgrenzung zu § 8 Ziff. 2 BETV - bei der Höhergruppierung in die genannten Entgeltgruppen nicht auf eine tatsächliche Ausübung entsprechender Tätigkeiten ab. Anderenfalls wäre bei jeder Höhergruppierung zunächst der Anfangssatz der höheren Entgeltgruppe maßgeblich und erst nach Erfüllung von mindestens zwei Tätigkeitsjahren würde sich die Relation zwischen Anfangs- und Endsatz nach den in § 8 Ziff. 3 BETV niedergelegten Prozentwerten entwickeln. Dagegen erhält der Arbeitnehmer nach § 9 Abs. 2 BETV den Tarifsprung bereits nach der Hälfte der nach § 8 Ziff. 3 BETV maßgeblichen Tätigkeitsjahre unabhängig von deren tatsächlicher Ableistung in der höheren Entgeltgruppe. Der Tarifvertrag fingiert an dieser Stelle die erforderliche zeitliche Zugehörigkeit, ohne eine tatsächliche Tätigkeit in dieser Gruppe zu verlangen. Damit haben die Tarifvertragsparteien ausdrücklich einen Ausnahmefall bei Höhergruppierung in bestimmte Entgeltgruppen zu den im Übrigen nach § 8 Ziff. 2 BETV benötigten Tätigkeitsjahren in der Gruppe geregelt. Angesichts des Fehlens einer solchen Ausnahme in Bezug auf das Erfordernis der „Tätigkeitsjahre in dieser Gruppe“ in § 8 Ziff. 2 BETV finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Tarifvertragsparteien auch dort Fehlzeiten ohne Vergütungsanspruch in die Berechnung einbeziehen wollten.

23Davon ausgehend hat der Dritte Senat des Bundesarbeitsgerichts bereits zu einer Vorgängerregelung des § 8 Ziff. 2 BETV erkannt, dass eine solche Tarifnorm eine tatsächliche berufliche Tätigkeit, nicht lediglich den Ablauf bestimmter Zeiten seit Berufs- oder Tätigkeitsbeginn verlangt (vgl. zu einem aufgrund von Ableistung des Grundwehrdienstes ruhenden Arbeitsverhältnis  - zu I 1 c der Gründe, BAGE 77, 154; zustimmend  - zu II der Gründe). Erforderlich sei, dass der Arbeitnehmer in den betreffenden Zeiträumen tatsächlich tätig war, und zwar in der durch die Merkmale der betreffenden Entgeltgruppe näher bestimmten qualifizierten Art und Weise (vgl.  - zu I 2 b der Gründe, aaO; ebenso für eine im wesentlichen wortgleiche Tarifregelung  -; - 4 AZR 30/88 -).

24(c) Bestätigt wird dieses Ergebnis durch Sinn und Zweck der tariflichen Regelung. Der Tarifsprung nach Tätigkeitsjahren innerhalb einer Vergütungsgruppe soll regelmäßig eine durch Ausübung der Tätigkeit gewonnene Erfahrung honorieren (vgl.  - Rn. 33). Die Tarifvertragsparteien sind davon ausgegangen, dass die Beschäftigten durch die Ausübung der ihnen übertragenen Tätigkeit laufend Kenntnisse und Erfahrungen sammeln, die die Arbeitsqualität und Arbeitsquantität verbessern (vgl. für die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes  - Rn. 21, BAGE 163, 257). Diesen zulässigen Zweck (vgl.  - Rn. 34) haben die Tarifvertragsparteien vorliegend zwar nicht ausdrücklich im Tarifvertrag festgehalten. Er ergibt sich aber hinreichend deutlich aus der Bezeichnung „Tätigkeitsjahr“ (vgl. zum Begriff „Berufsjahr“  - Rn. 33). Ein solcher durch den BETV honorierter Erfahrungszuwachs fehlt, wenn das Arbeitsverhältnis ruht, beispielsweise während des Grundwehrdienstes, einer Wehrübung (§ 1 Abs. 1 ArbPlSchG) oder der Elternzeit. Dem ist die Zeit einer Arbeitsunfähigkeit ohne Entgeltfortzahlungspflicht nach § 3 EFZG (vgl. zur Leistungsstörung  - Rn. 14 mwN) gleichzusetzen. In allen diesen Konstellationen fehlt es an einer tatsächlichen Tätigkeit, mit der Kenntnisse und Erfahrungen in der Tarifentgeltgruppe gesammelt werden, die die Arbeitsqualität und -quantität verbessern. Der Zweck der Regelung des § 8 Ziff. 2 BETV kann in diesen Fällen nicht erreicht werden.

25(d) Entgegen der Revision widerspricht dieser Annahme nicht die Tatsache, dass in einem Arbeitsverhältnis Zeiten auftreten können, in denen keine Arbeitsleistung erbracht wird, die aber dennoch zu vergüten sind, wie etwa im Fall bezahlten Erholungsurlaubs iSd. § 1 BUrlG, Mutterschutzlohns außerhalb der Schutzfristen iSv. § 18 MuSchG sowie der Entgeltfortzahlung bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nach § 3 EFZG. Diesen Vorschriften liegt die gesetzgeberische Wertung zugrunde, dass die darin geregelten Leistungsstörungen grundsätzlich keinen Einfluss auf die Gegenleistungspflicht des Arbeitgebers haben sollen. Aufgrund des gesetzlichen Schutzes der Vergütungspflicht in solchen in der Regel vergleichsweise kurzen Zeiträumen werden diese jedenfalls nicht ohne klare tarifliche Regelung (vgl. zum Gebot der Normenklarheit  - Rn. 22, BAGE 167, 158; - 1 AZR 307/17 - Rn. 38) aus der Anrechnungszeit für den Tarifsprung ausgenommen. Daher kann es nicht entscheidend darauf ankommen, dass Entgeltfortzahlungszeiten, insbesondere im Fall häufiger Kurzerkrankungen, ebenfalls dazu führen können, dass im Einzelfall nicht unbeachtliche Zeiträume ohne Arbeitsleistung bei der Berechnung des Tarifsprungs einzubeziehen sind, obwohl mangels tatsächlicher Tätigkeit kein Erfahrungszuwachs stattfinden kann. Insoweit ist die von der Klägerin gerügte Ungleichbehandlung von Fehlzeiten nicht mit der bloßen Dauer der Unterbrechung der Tätigkeit zu rechtfertigen, sondern mit den unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben in Bezug auf die Vergütungspflicht während dieser Zeiten.

26(2) Entgegen der Auffassung der Revision verlangt der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG keine andere Auslegung des § 8 Ziff. 2 BETV (hierzu allgemein  - Rn. 26;  ua. - Rn. 76, BVerfGE 133, 377). Die von den Tarifvertragsparteien vorgenommene Differenzierung zwischen Arbeitnehmern mit Entgeltfortzahlungsanspruch bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit und Arbeitnehmern ohne einen solchen Anspruch führt nicht dazu, dass der Senat infolge des ihm zukommenden Schutzauftrags verpflichtet wäre, der Regelung des § 8 Ziff. 2 BETV in dieser Auslegung die Durchsetzung zu verweigern (vgl. hierzu  - Rn. 19 ff.). Die im Tarifvertrag vorgenommene Differenzierung ist Ausdruck der durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Tarifautonomie und des damit einhergehenden weiten Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien. Der allgemeine Gleichheitssatz enthält kein verfassungsrechtliches Gebot, ähnliche Sachverhalte in verschiedenen Ordnungsbereichen mit anderen systematischen Zusammenhängen gleich zu regeln (vgl.  - Rn. 28).

27bb) Ein Rechtsgrund iSv. § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB für die Zahlung folgt nicht aus einem Anspruch auf Differenzvergütung aus Schuldanerkenntnis.

28(1) Der Vortrag der Klägerin trägt nicht die Annahme eines selbständig verpflichtenden (abstrakten) Schuldanerkenntnisses iSv. § 781 BGB. Das abstrakte Schuldanerkenntnis setzt voraus, dass der Anerkennende eine selbständige, von den zugrundeliegenden Rechtsbeziehungen losgelöste Verpflichtung übernimmt (vgl.  - Rn. 25). Die von der Klägerin vorgetragene Äußerung der Beklagten in Form der korrigierten Lohnabrechnungen für die Monate Oktober 2017 bis April 2018 bezieht sich auf die Zahlung restlicher Vergütung. Sie enthält keinen vom Grundverhältnis losgelösten neuen Schuldgrund.

29(2) Die von der Beklagten am erteilten Lohnabrechnungen, die für die Zeit von Oktober 2017 bis April 2018 Rückrechnungen beinhalten, stellen auch kein deklaratorisches (kausales) Schuldanerkenntnis dar.

30(a) Ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis ist ein vertragliches kausales Anerkenntnis, mit dem eine bestehende Schuld lediglich bestätigt wird. Ein solches Schuldanerkenntnis setzt voraus, dass die Vertragsparteien das Schuldverhältnis ganz oder teilweise dem Streit oder der Ungewissheit der Parteien entziehen und es endgültig festlegen wollen (vgl.  - Rn. 40). Ob dies für eine Lohnabrechnung zutrifft, ist durch Auslegung zu ermitteln. Grundsätzlich kommt einer Lohnabrechnung nicht die Bedeutung eines deklaratorischen Schuldanerkenntnisses zu (vgl. bereits  - zu I 4 b bb der Gründe, BAGE 54, 242, wenn auch mit unzutreffendem Leitsatz Ziff. 1). Eine in einer schriftlichen Lohnabrechnung des Arbeitgebers vorbehaltlos ausgewiesene Lohnforderung ist zwar zunächst streitlos gestellt und muss nicht noch einmal zur Wahrung einer Ausschlussfrist schriftlich geltend gemacht werden (vgl.  - Rn. 18, BAGE 135, 197). Die Lohnabrechnung hat aber nicht den Zweck, streitig gewordene Ansprüche endgültig festzulegen. Die Erteilung einer Lohnabrechnung hindert den Arbeitgeber regelmäßig nicht daran, die Lohnabrechnung später zu widerrufen, Gegenansprüche zu erheben oder aus anderen Gründen die Zahlung zu verweigern. Nur wenn besondere Anhaltspunkte vorliegen, kann davon ausgegangen werden, der Arbeitgeber wolle mit der Abrechnung auf alle Einwendungen verzichten (vgl.  - Rn. 41 mwN).

31(b) Die am erteilten Lohnabrechnungen weisen keine besonderen Anhaltspunkte auf, die einen Verzicht der Beklagten auf Einwendungen erkennen lassen. Die Beklagte hat die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche zunächst außergerichtlich und sodann im arbeitsgerichtlichen Verfahren ausdrücklich abgelehnt. Dieser Vortrag hat sich im Prozessverlauf zu keiner Zeit geändert.

32cc) Ein Rechtsgrund für die Zahlung folgt nicht aus betrieblicher Übung (zu den Voraussetzungen vgl.  - Rn. 52 mwN). Dem Vorbringen der Klägerin kann nicht entnommen werden, dass die Beklagte bis einschließlich des Jahres 2016 nicht nur die tarifvertragliche Regelung des § 8 Ziff. 2 BETV vollziehen, sondern eine eigenständige arbeitsvertragliche Pflicht zur Gewährung eines Tarifsprungs auch für Fehlzeiten ohne Entgeltfortzahlung begründen wollte. Nachdem die Beklagte für sich erkannt hatte, dass eine solche tarifliche Verpflichtung nicht besteht, hat sie ab dem Jahr 2017 von der bis dahin § 8 Ziff. 2 BETV folgenden Berechnung Abstand genommen.

33dd) Schließlich ergibt sich auch aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz kein Rechtsgrund für die erhaltene Zahlung. Dieser ist ein Gebot der Verteilungsgerechtigkeit, das verlangt, Gleiches gleich und Ungleiches entsprechend seiner Eigenart ungleich zu behandeln. Wegen seines Schutzcharakters gegenüber der Gestaltungsmacht des Arbeitgebers greift dieser Grundsatz nur dort ein, wo der Arbeitgeber durch gestaltendes Verhalten ein eigenes Regelwerk bzw. eine eigene Ordnung schafft, nicht hingegen bei bloßem - auch vermeintlichem - Normenvollzug (st. Rspr., vgl. nur  - Rn. 45 mwN, BAGE 166, 120). Ein solch gestaltendes Verhalten hat die Klägerin durch die Behauptung, bei anderen Arbeitnehmern seien Fehlzeiten ohne Entgeltfortzahlung bei Berechnung des Tarifsprungs berücksichtigt worden, nicht substantiiert dargelegt. Die Beklagte hat zu zwei von der Klägerin genannten Mitarbeitern vorgetragen und dargelegt, dass es sich nicht um Konstellationen handele, in denen vergütungslose Fehlzeiten angerechnet worden seien. Dem ist die Klägerin nach den in der Revision nicht mit begründeten Rügen angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht substantiiert entgegengetreten. Aus dem einen verbliebenen Fall eines weiteren Arbeitnehmers, der von der Klägerin benannt wurde, lässt sich kein durch die Beklagte geschaffenes, eigenes Regelwerk herleiten.

34b) Der Bereicherungsanspruch der Beklagten ist nicht nach § 814 Alt. 1 BGB ausgeschlossen.

35aa) Gemäß § 814 Alt. 1 BGB kann das zum Zweck der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete nicht zurückgefordert werden, wenn der Leistende gewusst hat, dass er zur Leistung nicht verpflichtet war. Erforderlich ist die positive Kenntnis der Rechtslage im Zeitpunkt der Leistung. Nicht ausreichend ist die Kenntnis der Tatsachen, aus denen sich das Fehlen einer rechtlichen Verpflichtung ergibt. Der Leistende muss wissen, dass er nach der Rechtslage nichts schuldet (st. Rspr., vgl.  - zu 3 der Gründe). Er hat aus den ihm bekannten Tatsachen eine im Ergebnis zutreffende rechtliche Schlussfolgerung zu ziehen, wobei allerdings eine entsprechende „Parallelwertung in der Laiensphäre“ genügt (vgl.  - Rn. 35 mwN, BAGE 167, 144). Die Regelung enthält eine rechtshindernde Einwendung (vgl. MüKoBGB/Schwab 8. Aufl. § 814 BGB Rn. 1), die von Amts wegen zu beachten ist (vgl. Palandt/Sprau 80. Aufl. BGB § 814 Rn. 1). Die der Leistungskondiktion entgegenstehende Kenntnis des Leistenden ist vom Empfänger zu beweisen (vgl. MüKoBGB/Schwab 8. Aufl. § 814 BGB Rn. 23). Bestehen Zweifel daran, dass die Voraussetzung der positiven Kenntnis vorliegt, gehen diese zu dessen Lasten (vgl.  - zu 3 der Gründe).

36bb) Die Klägerin hat nicht ausreichend dargelegt, dass die Beklagte in Kenntnis der Nichtschuld geleistet hat. Ihr Vortrag, sie sei aufgrund der Zahlung davon ausgegangen, dass die Beklagte an ihrer Auffassung nicht mehr festhalte, zeigt keine konkreten Anhaltspunkte in Bezug auf eine positive Kenntnis der Beklagten auf. Insoweit genügt auch die Kenntnis eines Vertreters der Beklagten, etwa der die Lohnzahlung ausführenden Mitarbeiter, nicht. § 814 Alt. 1 BGB stellt auf die Kenntnis des Leistenden ab. Eine Zurechnung des Wissens der ausführenden Beschäftigten analog § 166 Abs. 1 BGB findet nicht statt (vgl.  - Rn. 16, BAGE 136, 54; aA MüKoBGB/Schwab 8. Aufl. § 814 BGB Rn. 21).

37c) Der Senat kann nicht entscheiden, ob die Forderungen der Klägerin auf laufendes Arbeitsentgelt für die Monate September bis November 2018 dadurch zum Erlöschen gebracht wurden, dass die Beklagte mit den auf den datierten Lohnabrechnungen jedenfalls konkludent die Aufrechnung mit Ansprüchen auf Rückzahlung der zu Unrecht entrichteten Arbeitsvergütung gegen diese Vergütungsforderungen erklärt hat (§ 387, 388 BGB). Das Landesarbeitsgericht hat zur Einhaltung der Pfändungsfreigrenzen (§ 394 BGB) keinerlei Feststellungen getroffen, die Beklagte hat hierzu auch in den Vorinstanzen keinen schriftsätzlichen Vortrag gehalten.

38aa) Bei dem streitgegenständlichen Differenzvergütungsanspruch handelt es sich gemäß § 850 Abs. 2 ZPO um Arbeitseinkommen iSd. § 850 Abs. 1 ZPO. Rechnet der Arbeitgeber gegen Arbeitseinkommen auf, obliegt es ihm vorzutragen, dass die Aufrechnung unter Beachtung der Pfändungsschutzvorschriften erfolgt (vgl.  - Rn. 23 mwN). § 394 Satz 1 BGB schließt die Aufrechnung gegen eine Forderung aus, soweit diese der Pfändung nicht unterworfen ist. Bei Arbeitseinkommen bestimmt sich der pfändbare Teil gemäß § 850 Abs. 1 ZPO nach Maßgabe der §§ 850a bis 850i ZPO. Zur Sicherung des Existenzminimums des Arbeitnehmers und seiner unterhaltsberechtigten Familienangehörigen regelt § 850c Abs. 1 ZPO einen unpfändbaren Grundbetrag. Dieser ist entsprechend den Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers gestaffelt und nach oben begrenzt. Für den Teil des Arbeitseinkommens, der diesen Grundbetrag übersteigt, gelten die weiteren Pfändungsbeschränkungen des § 850c Abs. 2 ZPO (vgl.  - Rn. 22). In Bezug auf Mehrarbeitsstundenvergütung sowie Urlaubs- und Weihnachtsgeld sind § 850a Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 4 ZPO zu beachten. Die gesetzlichen Pfändungsbeschränkungen sind im Prozess auch ohne eine Rüge des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. Denn die Befugnis des Arbeitgebers, gegen den Entgeltanspruch des Arbeitnehmers aufzurechnen, ist integraler Teil des sich aus § 389 BGB ergebenden Erfüllungseinwands, den der insoweit darlegungs- und beweisbelastete Arbeitgeber dem Zahlungsanspruch des Arbeitnehmers entgegenhalten kann (vgl.  - Rn. 11). Im Urteilsverfahren, für das der Beibringungsgrundsatz gilt, ist es nicht Sache der Gerichte für Arbeitssachen, die pfändbaren Teile des Arbeitseinkommens zu ermitteln. Genügt der Arbeitgeber seiner diesbezüglichen Obliegenheit nicht, ist der Erfüllungseinwand unbeachtlich (vgl.  - Rn. 13 mwN).

39bb) Die Beklagte hat in der Revision nach einem rechtlichen Hinweis des Senats zum fehlenden Vortrag zur Einhaltung der gesetzlichen Pfändungsbeschränkungen eine begründete Gegenrüge zum unterbliebenen rechtlichen Hinweis nach § 139 Abs. 2 ZPO durch das Berufungsgericht erhoben. Den damit verbundenen neuen Sachvortrag kann der Senat entgegen der Auffassung der Beklagten nicht selbst würdigen, weil nach § 559 Abs. 1 ZPO der Beurteilung des Revisionsgerichts nur dasjenige Parteivorbringen unterliegt, das aus dem Berufungsurteil oder dem Sitzungsprotokoll ersichtlich ist. Einer der anerkannten Ausnahmefälle (dazu  - Rn. 38;  - Rn. 43 f.) liegt hier nicht vor. Deshalb hat das Landesarbeitsgericht bei neuer Verhandlung und Entscheidung den Vortrag der Beklagten zur Beachtung der Pfändungsfreigrenzen zu prüfen und hierbei ergänzenden Vortrag der Klägerin zu beachten.

404. Kommt das Landesarbeitsgericht zu dem Ergebnis, dass die Aufrechnung zulässig ist, wird es seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben, dass die Beklagte die Ausschlussfrist des § 9 Abs. 4 Arbeitsvertrag gewahrt hat.

41a) Bei den Regelungen des Arbeitsvertrags handelt es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen iSv. § 305 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 BGB. Deren Auslegung unterliegt der vollen revisionsrechtlichen Überprüfung durch den Senat (vgl.  - Rn. 35 mwN, BAGE 167, 349; vgl. zu den Auslegungsgrundsätzen  - Rn. 19 mwN).

42b) Nach § 9 Abs. 4 Arbeitsvertrag sind Ansprüche beider Seiten aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend zu machen. Auch wenn die Ausschlussfristenregelung aufgrund ihrer Verortung in den „Schlussbestimmungen“ als überraschende Klausel nach § 305c Abs. 1 BGB nicht Vertragsinhalt geworden ist (vgl.  - zu I 5 b bb (2) der Gründe, BAGE 115, 372), kann sich die Beklagte nicht darauf berufen, die von ihr verwendeten Formularverträge seien unwirksam (st. Rspr., vgl.  - Rn. 60 mwN, BAGE 163, 282). Jedoch hat die Beklagte den Rückzahlungsanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB mit den Lohnabrechnungen für die Monate September bis November 2018 rechtzeitig schriftlich geltend gemacht.

43II. Im fortgesetzten Berufungsverfahren wird das Landesarbeitsgericht auch über die Kosten der Revision zu entscheiden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2020:181120.U.5AZR57.20.0

Fundstelle(n):
BB 2021 S. 435 Nr. 7
NJW 2021 S. 10 Nr. 9
EAAAH-69926