BSG Beschluss v. - B 13 R 88/19 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Überraschungsentscheidung - Entscheidung ohne mündliche Verhandlung

Gesetze: § 62 SGG, § 103 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 124 Abs 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: SG Heilbronn Az: S 6 R 3395/14 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 10 R 3611/15 Urteil

Gründe

1I. Mit Urteil vom hat das LSG Baden-Württemberg auf die Berufung des beklagten Rentenversicherungsträgers hin die erstinstanzliche Entscheidung des SG Heilbronn aufgehoben und die Klage des Klägers abgewiesen.

2Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt, die er mit Schriftsatz vom begründet hat.

3II. 1. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung von ehrenamtlichen Richtern als unzulässig zu verwerfen. Die Beschwerdebegründung vom genügt nicht der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form. Der Kläger hat darin weder den geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) noch die geltend gemachten Verfahrensmängel (Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) in der gesetzlich vorgesehenen Weise dargelegt bzw bezeichnet.

4a) Wird mit der Nichtzulassungsbeschwerde die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG geltend gemacht, muss der Beschwerdeführer in der Beschwerdebegründung ausführen, welche Rechtsfrage sich ernsthaft stellt, deren Klärung über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung durch das Revisionsgericht zu erwarten ist (Klärungsfähigkeit). In der Beschwerdebegründung ist deshalb auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und der Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (stRspr; vgl zuletzt etwa - juris RdNr 3 mwN; vgl auch BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 1411/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 7 RdNr 8; ferner Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 14 ff mwN). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung vom nicht gerecht.

5Der Kläger stellt darin den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht genügend dar. Er trägt detailliert zum Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts vor. Seinem Gesamtvorbringen lässt sich noch entnehmen, dass er sich nach Überzeugung des LSG gewöhnlich in Kasachstan aufhalte und dass das SG dies anders beurteilt habe. Es lässt sich schon nur erahnen, dass der Kläger im zugrunde liegenden Rechtsstreit einen Anspruch auf Gewährung einer höheren Altersrente ohne Berücksichtigung der Regelungen über Leistungen an Berechtigte im Ausland (§§ 110 ff SGB VI) geltend macht. Jedenfalls stellt der Kläger nicht einmal in gedrängter Form dar, dass und auf welcher Grundlage er eine Rente welcher Art von der Beklagten beanspruchen kann, ob das Fremdrentengesetz (FRG) auf ihn anwendbar ist und wie das (Verwaltungs-)Verfahren bis zur angegriffenen Berufungsentscheidung abgelaufen ist. Er zeigt zudem nur ungenügend auf, welche Tatsachen das LSG zu seinem Auslandsaufenthalt getroffen hat. Die Wiedergabe des der angegriffenen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts ist jedoch Mindestvoraussetzung für eine Entscheidung über eine Nichtzulassungsbeschwerde, weil es dem Revisionsgericht andernfalls unmöglich ist, sich - wie erforderlich - ohne Studium der Gerichts- und Verwaltungsakten allein aufgrund des Vortrags des Beschwerdeführers ein Bild über den Streitgegenstand und rechtliche wie tatsächliche Streitpunkte zu machen ( - juris RdNr 7 ff; - juris RdNr 4; - juris RdNr 9; - juris RdNr 11). Gerade der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung verlangt die Wiedergabe des streiterheblichen Sachverhalts, weil insbesondere die Klärungsfähigkeit einer aufgeworfenen Rechtsfrage ohne Umschreibung des Streitgegenstands und des Sachverhalts nicht beurteilt werden kann ( - juris RdNr 10 f mwN; 381/06 B - juris RdNr 8).

7Der Kläger hätte dann jedenfalls die Klärungsbedürftigkeit der von ihm in den Raum gestellten Frage nicht dargelegt. Das BSG hat ua in den vom Kläger angeführten Urteilen entschieden, die Prognose auf der letzten Stufe der dreistufigen Prüfung habe alle mit dem Aufenthalt verbundenen Umstände zu berücksichtigen; diese könnten subjektive wie objektive, tatsächliche wie rechtliche sein, sodass es insbesondere dann nicht allein auf den sog Domizilwillen des Betroffenen ankomme, wenn dieser nicht mit den tatsächlichen objektiven Umständen übereinstimme (vgl - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 32; - juris RdNr 30, jeweils mwN). Dem Kläger hätte daher die Darlegung oblegen, dass und aus welchen Gründen die von ihm in den Raum gestellte Rechtsfrage damit nicht ausreichend beantwortet sei. Insbesondere hätte er die Entscheidungen des BSG darauf untersuchen müssen, ob sie nicht auch einen berufsbedingten Auslandsaufenthalt erfassen. Eine Rechtsfrage ist nämlich bereits dann als höchstrichterlich geklärt anzusehen, wenn schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (vgl - SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17; - juris RdNr 4). Dahingehende Ausführungen fehlen in der Beschwerdebegründung vollständig.

8b) Ebenso wenig hat der Kläger die geltend gemachten Verfahrensmängel in der erforderlichen Weise bezeichnet.

9Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass iS von § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des Berufungsgerichts ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht (stRspr; zB - juris RdNr 5; jüngst - juris RdNr 4). Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Berufungsgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

10Mit der Beschwerdebegründung vom verfehlt der Kläger diese Anforderungen schon deswegen, weil er darin den Sachverhalt auch insoweit nicht genügend darstellt. Wie erwähnt wird nicht einmal der Gegenstand des zugrunde liegenden Rechtsstreits eindeutig kenntlich gemacht. Auch die Prozessgeschichte wird nicht genügend dargestellt. Der Senat kann daher nicht, wie es erforderlich wäre, allein anhand der Beschwerdebegründung darüber befinden, ob die angegriffene Entscheidung möglicherweise auf einem der geltend gemachten Verfahrensmängel beruht (vgl zu dieser Anforderung etwa - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 - juris RdNr 16 mwN; - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 16 mwN). Es ist nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, sich den maßgeblichen Sachverhalt aus den Akten oder dem angegriffenen Urteil herauszusuchen (vgl - juris RdNr 8 mwN; - juris RdNr 3 f).

11Selbst ungeachtet dessen erfüllt die Beschwerdebegründung die formalen Anforderungen an die Geltendmachung eines Verfahrensmangels nicht. Der Kläger bringt vor, das LSG habe ihn, nachdem seine Klage in der ersten Instanz erfolgreich gewesen sei, nicht darauf hingewiesen, dass es seinem Vorbringen nicht zu folgen gedenke. Damit rügt der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG; Art 103 Abs 1 GG) durch eine Überraschungsentscheidung. Er legt indes nicht schlüssig dar, dass das LSG sich ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt gestützt habe, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl zu dieser Darlegungsanforderung zuletzt etwa - juris RdNr 11 ff mwN). Allein der Umstand, dass das Berufungsgericht zu einem anderen Beweisergebnis gelangt als die Vorinstanz, begründet keine solche überraschende Wende. Soweit der Kläger es als überraschend erachtet, dass das LSG von einem gewöhnlichen Aufenthalt in Kasachstan ausgeht, obwohl er seines Erachtens das dahingehende Vorbringen der Beklagten "unter Beweiseintritt widerlegt" habe, wendet er sich gegen die Beweiswürdigung des LSG und letztlich gegen die inhaltliche Richtigkeit des Berufungsurteils. Dass ein Beteiligter das angegriffene Urteil für inhaltlich falsch hält, kann indes nicht zur Revisionszulassung führen (stRspr; vgl etwa - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4; - juris RdNr 8; - SozR 4-1500 § 178a Nr 11 RdNr 28 mwN).

12Soweit der Kläger vorträgt, bei einem vorherigen Hinweis zum voraussichtlichen Beweisergebnis hätte er sich nicht mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt, rügt er einen Verstoß gegen § 124 Abs 1 SGG (Grundsatz der Mündlichkeit). Er versäumt es jedoch darzulegen, dass nach seinem Dafürhalten die Voraussetzungen nicht vorgelegen haben, unter denen das LSG gemäß § 124 Abs 2 SGG ohne mündliche Verhandlung über die Berufung entscheiden durfte. Insbesondere bringt er nichts dazu vor, dass und warum die von ihm offensichtlich abgegebene Einverständniserklärung wegen einer wesentlichen Änderung der Prozesslage ihre Wirksamkeit verloren haben könnte (vgl dazu - juris RdNr 8 mwN; - juris RdNr 6).

13Der Kläger rügt zudem einen Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG). Hierzu führt er aus, er habe während des Berufungsverfahrens unter Beweisantritt insbesondere vorgebracht, dass er - anders als vom LSG angenommen - keine Anteile an der T AG mit Sitz in Kasachstan halte; seine Bestellung zum Generaldirektor dieser Gesellschaft "eine Fiktion" gewesen sei; der Grund für den fehlenden Krankenversicherungsschutz in Deutschland allein darin liege, dass seine letzte deutsche Krankenkasse Behandlungskosten nach einem Unfall in Kasachstan nicht übernommen habe; er nur deswegen eine Wohnung in Kasachstan angemietet habe, weil dies günstiger als eine Hotelunterkunft sei, er aber über eine Eigentumswohnung in Deutschland verfüge, und für ihn aufgrund seiner Mentalität nicht die Verbindung zu einem Land, sondern zu seiner Familie im Vordergrund stehe. Der bereits im Berufungsverfahren anwaltlich vertretene Kläger benennt indes für keinen Teil dieses Vorbringens einen bis zuletzt gegenüber dem LSG aufrechterhaltenen Beweisantrag, wie es gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG für eine ordnungsgemäße Sachaufklärungsrüge erforderlich wäre (vgl zu diesem Erfordernis jüngst etwa - juris RdNr 5 mwN). Der Kläger bezieht sich auf seinen im Berufungsverfahren eingereichten Schriftsatz vom . Eine Sachaufklärungsrüge ließe sich darauf nur stützen, wenn er die in diesem Schriftsatz möglicherweise enthaltenen Beweisanträge bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem LSG oder - wie hier - auf das Gerichtsschreiben zur Einholung des Einverständnisses nach § 124 Abs 2 SGG hin aufrechterhalten hätte (vgl - juris RdNr 10; - juris RdNr 15). Hierzu trägt der Kläger nichts vor. Der Senat lässt daher dahinstehen, ob der Schriftsatz vom zu jedem Element des klägerischen Vorbringens formelle Beweisanträge enthalten hat und ob der Kläger den Darlegungsanforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG genügt, wenn er in seiner Beschwerdebegründung darauf Bezug nimmt.

14c) Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

152. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2020:181120BB13R8819B0

Fundstelle(n):
KAAAH-69843