BAG Urteil v. - 10 AZR 9/19

Beitragspflichten zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft - unwirksame AVE VTV 2012 - Verfassungsmäßigkeit des SokaSiG

Gesetze: Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 9 Abs 3 GG, Art 20 Abs 2 S 2 GG, § 195 BGB, § 199 BGB, § 202 BGB, § 204 Abs 1 Nr 3 BGB, § 213 BGB, § 271 BGB, § 667 BGB, § 7 Abs 6 SokaSiG, Anl 31 SokaSiG, § 1 Abs 1 VTV-Bau vom , § 1 Abs 2 Abschn 5 Nr 37 VTV-Bau vom , § 1 Abs 3 S 1 Nr 1 VTV-Bau vom , § 3 Abs 3 S 1 VTV-Bau vom , § 18 Abs 2 S 1 VTV-Bau vom , § 21 Abs 1 S 1 VTV-Bau vom , § 24 Abs 1 VTV-Bau vom , § 24 Abs 4 VTV-Bau vom , § 5 TVG, § 46a Abs 6 S 2 ArbGG

Instanzenzug: ArbG Wiesbaden Az: 6 Ca 366/17 Urteilvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 12 Sa 1718/17 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über Beiträge zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft.

2Der Kläger ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien in der Rechtsform eines Vereins mit eigener Rechtspersönlichkeit kraft staatlicher Verleihung. Er ist tarifvertraglich zum Einzug der Beiträge zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft verpflichtet. Er nimmt den Beklagten auf der Grundlage des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom idF vom (VTV 2011) für den Zeitraum vom 1. Januar bis auf Beiträge iHv. 7.073,00 Euro in Anspruch. Die geltend gemachten Beiträge beruhen auf den vom Statistischen Bundesamt ermittelten Durchschnittslöhnen.

3Der VTV 2011 wurde am für allgemeinverbindlich erklärt (BAnz. AT B4; AVE VTV 2012). Der Senat hat diese Allgemeinverbindlicherklärung für unwirksam befunden ( -).

4Der nicht originär tarifgebundene Beklagte unterhält im bayerischen V einen Trockenbaubetrieb. Im streitgegenständlichen Zeitraum beschäftigte er mindestens einen gewerblichen Arbeitnehmer.

5Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Betrieb des Beklagten unterfalle dem VTV 2011. An ihn sei der Beklagte jedenfalls aufgrund des SokaSiG gebunden, das verfassungsgemäß sei. Die Beitragsansprüche seien nicht verjährt. Der noch im Jahr 2016 eingereichte Mahnbescheid habe die Verjährung gehemmt.

6Der Kläger hat beantragt,

7Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat gemeint, mangels wirksamer Allgemeinverbindlicherklärung unterliege er nicht dem VTV 2011. Das SokaSiG scheide als Geltungsgrund aus, weil es verfassungswidrig sei. Der Kläger sei zudem nicht Inhaber der Ansprüche. Jedenfalls seien die streitigen Beitragsforderungen verjährt.

8Die Beitragsansprüche hat der Kläger mit einem Mahnantrag gerichtlich geltend gemacht, den er am beim Arbeitsgericht eingereicht hat (- 6 Ba 6056/16 -). Der antragsgemäß ergangene Mahnbescheid ist dem Beklagten am zugestellt worden. Der anschließend erteilte Vollstreckungsbescheid ist dem Beklagten am zugestellt worden. Mit einem Schriftsatz, der am beim Arbeitsgericht eingegangen ist, hat der Beklagte Einspruch eingelegt. Das Arbeitsgericht hat den Vollstreckungsbescheid aufrechterhalten. Die dagegen gerichtete Berufung hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision will der Beklagte weiterhin erreichen, dass die Klage abgewiesen wird.

Gründe

9Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Recht stattgegeben. Der Beklagte ist verpflichtet, an den Kläger für den Zeitraum vom 1. Januar bis Sozialkassenbeiträge iHv. 7.073,00 Euro zu zahlen.

10I. Der Beklagte hat in zulässiger Weise gegen den ihm am zugestellten Vollstreckungsbescheid Einspruch eingelegt. Das Gericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob der Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid an sich statthaft ist und ob er in der richtigen Form und Frist eingelegt ist. Fehlt es an einem dieser Erfordernisse, so ist der Einspruch als unzulässig zu verwerfen (§ 46a Abs. 6 Satz 2 ArbGG). Die Zulässigkeit des Einspruchs stellt als Prozessfortsetzungsbedingung eine Sachverhandlungs- und Sachurteilsvoraussetzung dar, die auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfen ist. Dabei ist das Revisionsgericht befugt, die Zulässigkeit des Einspruchs in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu prüfen, ohne an etwaige ausdrückliche oder stillschweigende Feststellungen und Würdigungen der Vorinstanzen gebunden zu sein ( - zu I der Gründe, BGHZ 101, 134). Mit seiner am beim Arbeitsgericht eingegangenen Einspruchsschrift hat der Beklagte die nach § 46a Abs. 1 Satz 1 ArbGG, § 700 Abs. 1 ZPO, § 59 Satz 1 ArbGG geltende Wochenfrist gewahrt.

11II. Der Kläger hat die zulässige Klage nicht geändert, indem er die Beitragsforderungen auch auf § 7 Abs. 6 iVm. der Anlage 31 SokaSiG gestützt hat. Beitragsansprüche nach den Verfahrenstarifverträgen, für deren Geltungserstreckung sowohl eine Allgemeinverbindlicherklärung als auch § 7 SokaSiG in Betracht kommen, werden von demselben den Streitgegenstand umgrenzenden Lebenssachverhalt erfasst. Die Ansprüche stützen sich auf dasselbe Tatgeschehen. Sie sind weder in ihren materiell-rechtlichen Voraussetzungen noch in ihren Folgen oder strukturell grundlegend verschieden ausgestaltet ( - Rn. 19; - 10 AZR 424/18 - Rn. 10 mwN).

12III. Der Beklagte ist verpflichtet, an den Kläger Beiträge für die Monate Januar bis November 2012 iHv. 7.073,00 Euro zu zahlen. Die Ansprüche des Klägers ergeben sich aus § 7 Abs. 6 iVm. der Anlage 31 SokaSiG.

131. Die Anlage 31 enthält den vollständigen Text des VTV 2011 (vgl. den Anlageband zum BGBl. I Nr. 29 vom S. 323 bis 336). Die in § 7 Abs. 6 SokaSiG angeordnete Geltungserstreckung des VTV 2011 auf nicht Tarifgebundene ist aus Sicht des Senats verfassungsgemäß. Die Pflicht des Beklagten, Beiträge für einen gewerblichen Arbeitnehmer an den Kläger zu leisten, folgt aus § 1 Abs. 1, Abs. 2 Abschn. V Nr. 37, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 iVm. § 3 Abs. 3 Satz 1, § 18 Abs. 2 Satz 1, § 21 Abs. 1 Satz 1 VTV 2011. Die Voraussetzungen für eine Beitragspflicht des Beklagten sind erfüllt.

142. Der Betrieb des Beklagten unterfällt dem Geltungsbereich des VTV 2011.

15a) Der im bayerischen V gelegene Betrieb des Beklagten wird vom räumlichen Geltungsbereich nach § 1 Abs. 1 VTV 2011 erfasst.

16b) Der betriebliche Geltungsbereich ist nach § 1 Abs. 2 VTV 2011 eröffnet (zu den Voraussetzungen  - Rn. 28 f. mwN). Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts wurden im Betrieb des Beklagten bauliche Leistungen nach § 1 Abs. 2 Abschn. V Nr. 37 VTV 2011 in Form von Trockenbauarbeiten ausgeführt.

17c) Der persönliche Geltungsbereich des VTV 2011 erstreckt sich auf den bei dem Beklagten beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer (§ 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VTV 2011).

183. Anspruchsinhaber ist nach § 3 Abs. 3 Satz 1 VTV 2011 der Kläger. Dies gilt auch, soweit er als Einzugsstelle Beiträge einzieht, die anderen Sozialkassen zustehen.

19a) Der Kläger war und ist nach den Bestimmungen der Verfahrenstarifverträge ausdrücklich ermächtigt, auch Sozialkassenbeiträge einzuziehen, soweit sie nicht ihm selbst, sondern anderen Sozialkassen zustehen. Die Arbeitgeber können und konnten im Klagezeitraum nach der tariflichen Regelung des Beitragseinzugsverfahrens auf die Beitragsforderungen aller systemangehörigen Sozialkassen befreiend nur an den Kläger leisten. Er hatte und hat die ausschließliche Empfangszuständigkeit für die Sozialkassenbeiträge. Er tritt gegenüber den Arbeitgebern wie ein Vollrechtsinhaber auf, wenn er die ihm tariflich eingeräumten Befugnisse wahrnimmt (vgl.  - Rn. 20; - 10 AZR 108/07 - Rn. 19).

20b) Der Kläger ist im Außenverhältnis zu den Arbeitgebern als Beitragsschuldnern allein empfangszuständig und im Beitragsprozess aktivlegitimiert. Dem steht nicht entgegen, dass er die fremdnützig eingezogenen, nach den tariflichen Regelungen anderen Sozialkassen zustehenden Beiträge an diese anderen Sozialkassen nach § 667 BGB herauszugeben hat. Das Innenverhältnis zwischen dem Kläger als Einzugsstelle und den hinter ihm stehenden anderen Sozialkassen spielt weder beim Beitragseinzug noch bei der Rückabwicklung des Leistungsverhältnisses zwischen dem Kläger und einem Arbeitgeber, der ohne rechtlichen Grund Beiträge an den Kläger abgeführt hat, eine entscheidende Rolle (vgl.  - Rn. 21; - 10 AZR 108/07 - Rn. 20).

214. Die vom Kläger für die einzelnen Kalendermonate geltend gemachten Durchschnittsbeiträge iHv. jeweils 643,00 Euro sind revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Nach der Rechtsprechung des Senats ist der Kläger berechtigt, die geschuldeten Beiträge mit einer Durchschnittsbeitragsklage geltend zu machen und dafür die vom Statistischen Bundesamt ermittelten durchschnittlichen Bruttomonatslöhne in der Bauwirtschaft heranzuziehen ( - Rn. 16 mwN).

225. Die Ansprüche sind nicht verfallen. Ihrer Durchsetzbarkeit steht auch nicht die Einrede der Verjährung entgegen.

23a) Verfall und Verjährung der Ansprüche richten sich nach § 24 Abs. 1 und Abs. 4 VTV 2011. Die Verfall- und die Verjährungsfrist betragen danach vier Jahre; § 199 BGB ist anzuwenden. Die Verlängerung der Verjährungsfrist gegenüber § 195 BGB ist nach § 202 BGB wirksam ( - Rn. 30; - 10 AZR 387/18 - Rn. 42 mwN). Für den Beginn der Verjährung ist auf den Zeitpunkt der Fälligkeit abzustellen, weil ein Anspruch iSv. § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB regelmäßig entsteht, wenn er nach § 271 BGB fällig ist ( - Rn. 33).

24b) Der älteste Beitragsanspruch für Januar 2012 war nach § 21 Abs. 1 Satz 1 VTV 2011 mit dem fällig. Damit begann die Verjährungsfrist mit dem Schluss des Jahres 2012 zu laufen und endete am . Durch den am eingereichten Mahnantrag hat der Kläger die Verfallfrist gewahrt (- 6 Ba 6056/16 -). Die Verjährung wurde nach § 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB gehemmt. Der Mahnbescheid wurde dem Beklagten am und damit „demnächst“ iSv. § 167 ZPO zugestellt.

25c) Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger zur Begründung der Ansprüche als Geltungsgrund des VTV 2011 zunächst die Allgemeinverbindlicherklärung und erst im Verlauf des Rechtsstreits das SokaSiG herangezogen hat. Bei den Beitragsansprüchen handelt es sich um denselben Streitgegenstand, unabhängig davon, ob ein Verfahrenstarifvertrag aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung oder nach § 7 SokaSiG zur Anwendung kommt ( - Rn. 44; - 10 AZR 567/17 - Rn. 37 mwN). Auf die Rüge der Revision, die Voraussetzungen des § 213 BGB seien nicht erfüllt, kommt es damit nicht an.

266. Der Beklagte ist an den VTV 2011 nach § 7 Abs. 6 iVm. der Anlage 31 SokaSiG gebunden. Das SokaSiG ist als Geltungsgrund für die Verfahrenstarifverträge nach Auffassung des Senats verfassungsgemäß ( - Rn. 58 ff. mwN; vgl. inzwischen auch  - Rn. 14 ff.; - 1 BvR 1115/18 - Rn. 2 f.). Die Angriffe der Revision führen zu keiner anderen Beurteilung.

27a) § 7 SokaSiG verstößt nicht gegen Art. 9 Abs. 3 GG ( - Rn. 57 ff. mwN).

28aa) Nach Auffassung des Senats verletzt das SokaSiG nicht die negative Koalitionsfreiheit. Soweit die gesetzliche Geltungserstreckung der Verfahrenstarifverträge einen mittelbaren Druck erzeugen sollte, um der größeren Einflussmöglichkeit willen Mitglied einer der tarifvertragsschließenden Parteien zu werden, ist dieser Druck jedenfalls nicht so erheblich, dass die negative Koalitionsfreiheit verletzt würde ( - Rn. 47 mwN; vgl. mittlerweile auch  - Rn. 33 f.).

29bb) Ein Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG liegt nach Auffassung des Senats fern. Die Tarifvertragsparteien hatten für alle von § 7 SokaSiG in Bezug genommenen Verfahrenstarifverträge einen Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung gestellt. Beim Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung unterliegt der Normgeber der Grundrechtsbindung ( - Rn. 58; - 10 AZR 424/18 - Rn. 76; - 10 AZR 399/18 - Rn. 36; zu der Grundrechtsbindung ausführlich  - Rn. 43 ff., BAGE 167, 361). Inhaltliche Veränderungen der Verfahrenstarifverträge sind mit dem SokaSiG nicht verbunden ( - Rn. 59).

30cc) Ein etwaiger Eingriff in die Tarifautonomie durch die gesetzliche Geltungserstreckung ist jedenfalls im Interesse der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie gerechtfertigt. Das SokaSiG dient einem legitimen Zweck, weil es den Fortbestand der Sozialkassenverfahren in der Bauwirtschaft sichern und Bedingungen für einen fairen Wettbewerb schaffen soll. Das Gesetz ist geeignet, weil es jedenfalls förderlich ist, diese Ziele zu erreichen. Der Gesetzgeber verfügt über einen Einschätzungsspielraum für die Beurteilung der tatsächlichen Grundlagen einer Regelung. Die Grenze liegt dort, wo sich deutlich erkennbar abzeichnet, dass eine Fehleinschätzung vorgelegen hat ( ua. - Rn. 159 mwN, BVerfGE 146, 71). Dafür sind keine Anhaltspunkte gegeben ( - Rn. 49 mwN). Das SokaSiG ist ferner erforderlich. Die vom Gesetzgeber angestellten Erwägungen sind von seinem Einschätzungsspielraum gedeckt. Indem § 7 SokaSiG nicht nur Rückforderungsansprüche ausschließt, sondern auch den zukünftigen Beitragseinzug sicherstellt, kann dieser Zweck erreicht werden. Eine auf Rückforderungsansprüche beschränkte Regelung wäre zwar milder gewesen, aber nicht gleich wirksam ( - Rn. 50 mwN; vgl. inzwischen auch  - Rn. 28 ff.). Die mit § 7 SokaSiG verbundenen Belastungen für nicht tarifgebundene Arbeitgeber hält der Senat angesichts der mit der Norm verfolgten Ziele für zumutbar ( - Rn. 51 mwN; vgl. mittlerweile auch  - Rn. 32).

31b) § 7 SokaSiG „annulliert“ nicht unter Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG entgegenstehende höchstrichterliche Rechtsprechung. Mit der gesetzlichen Erstreckungsanordnung sollte - letztlich mit Rücksicht auf die Forderungen der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit - statt anfechtbaren Rechts unanfechtbares Recht gesetzt werden. Der Gesetzgeber hat dabei weder die Rechtsprechung des Senats „kassiert“, noch hat er „neues“ Recht geschaffen oder in die allein dem Bundesverfassungsgericht zukommende Kompetenz zur Aufhebung von Akten der Judikative eingegriffen. Vielmehr hat er lediglich eine unwirksame Erstreckung der Normwirkung der Verfahrenstarifverträge durch eine wirksame - gesetzliche - Erstreckungsanordnung ersetzt, um auf diese Weise den weitreichenden Folgen der Beschlüsse des Senats vom (- 10 ABR 33/15 - BAGE 156, 213; - 10 ABR 48/15 - BAGE 156, 289) und (- 10 ABR 34/15 - und - 10 ABR 43/15 -) entgegenzuwirken ( - Rn. 62 mwN; vgl. inzwischen auch  - Rn. 2). Das von der Revision der Sache nach reklamierte Vertrauen darauf, der Gesetzgeber werde eine gerichtliche Entscheidung nicht zum Anlass nehmen, die sich daraus ergebenden Folgen zu bewältigen, ist nicht schutzwürdig. Unter Umständen kann es sogar rechtsstaatlich angezeigt sein, eine zuvor nur scheinbar vorhandene Rechtslage rückwirkend herzustellen (vgl.  - Rn. 63 mwN; vgl. mittlerweile auch  - Rn. 2). Wenn der Beklagte darüber hinaus meint, § 5 TVG sei „grundsätzlich nicht erweiterbar“, übersieht er, dass Art. 70 Abs. 2, Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG dem Bund eine umfassende Zuständigkeit für privatrechtliche und auch öffentlich-rechtliche Bestimmungen über die Rechtsbeziehungen im Arbeitsverhältnis zuweisen. Sie erstreckt sich unter anderem auf das Tarifvertragsrecht, ohne dem Vorbehalt der Erforderlichkeit des Art. 72 Abs. 2 GG zu unterliegen ( ua. - Rn. 126, BVerfGE 146, 71;  - aaO).

32c) § 7 SokaSiG verletzt nicht das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen tariffreier Arbeitgeber, von rückwirkenden Gesetzen nicht in unzulässiger Weise belastet zu werden ( - Rn. 59 ff. mwN; vgl. inzwischen auch  - Rn. 14 ff.). Ob der Sachverhalt einer der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten, nicht abschließend definierten Fallgruppen zugeordnet werden kann, ist nicht von Belang. Es kommt allein darauf an, ob die betroffene Personengruppe bei objektiver Betrachtung auf den Fortbestand der bisherigen Regelung vertrauen konnte ( - Rn. 60).

33aa) Bis zum bestand keine Grundlage für ein Vertrauen auf die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV in der Fassung der Anlage 31 des SokaSiG, auf die § 7 Abs. 6 SokaSiG verweist. Die Arbeitgeber mussten vielmehr vom Gegenteil ausgehen und ihre wirtschaftlichen Dispositionen auf die vollständige Erfüllung der in den Verfahrenstarifverträgen geregelten Pflichten einrichten ( - Rn. 77 ff., BAGE 164, 201). Es entsprach der weit überwiegenden Rechtsansicht, dass diese Fassung des VTV wirksam für allgemeinverbindlich erklärt worden war. Die von den in Anspruch genommenen Arbeitgebern gehegten Zweifel waren keine geeignete Grundlage für die Bildung von Vertrauen dahin, dass auf der Annahme der fehlenden Normwirkung der Verfahrenstarifverträge beruhenden Dispositionen nicht nachträglich die Grundlage entzogen werden würde ( - Rn. 55 mwN; vgl. mittlerweile auch  - Rn. 22 ff.).

34bb) Mit Blick auf den von § 7 Abs. 6 SokaSiG erfassten Zeitraum konnte sich bei dem Beklagten aufgrund der Entscheidungen des Senats vom (- 10 ABR 33/15 - BAGE 156, 213; - 10 ABR 48/15 - BAGE 156, 289) und (- 10 ABR 34/15 - und - 10 ABR 43/15 -) kein hinreichend gefestigtes und damit schutzwürdiges Vertrauen darauf bilden, nicht zu Sozialkassenbeiträgen herangezogen zu werden. Vielmehr musste er nach der rechtlichen Situation in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge von § 7 Abs. 6 SokaSiG zurückbezogen wird, damit rechnen, dass die tariflichen Rechtsnormen durch Gesetz rückwirkend wieder auf nicht originär tarifgebundene Arbeitgeber erstreckt werden würden. Der Gesetzgeber brauchte auf in der Zwischenzeit dennoch getätigte gegenläufige Vermögensdispositionen keine Rücksicht zu nehmen (vgl.  - Rn. 56 mwN; vgl. mittlerweile auch  - Rn. 17, 23 f.).

35cc) Der Beklagte beruft sich vergeblich darauf, die „Ersetzung“ der unwirksamen Allgemeinverbindlicherklärung durch eine gesetzliche Regelung sei nicht möglich gewesen.

36(1) Die Geltungserstreckung von Tarifverträgen auf nicht originär Tarifgebundene war allein mit Blick auf § 7 AEntG schon vor Inkrafttreten des SokaSiG nicht auf die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG beschränkt.

37(2) Der Gesetzgeber ist dazu befugt, die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie durch gesetzliche Regelungen herzustellen und zu sichern. Er kann auch bereits bestehende gesetzliche Rahmenbedingungen für das Handeln der Koalitionen ändern oder ergänzen, um dem Handeln der Koalitionen und insbesondere der Tarifautonomie Geltung zu verschaffen (vgl.  ua. - Rn. 144, 147, BVerfGE 146, 71). Daher steht dem Gesetzgeber die Wahl einer anderen Rechtsform als der in § 5 TVG geregelten Allgemeinverbindlicherklärung für die Erstreckung eines Tarifvertrags auf Außenseiter frei ( - zu II 2 der Gründe). Die Rechtsform ändert nichts an Inhalt und Ergebnis der Erwägungen zu der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ( - Rn. 59 mwN). Ein Vertrauen, nur aufgrund einer wirksamen Allgemeinverbindlicherklärung in Anspruch genommen zu werden, ist nicht schutzwürdig ( - Rn. 53; vgl. inzwischen auch  - Rn. 25). Deshalb kommt es auf das Argument des Beklagten nicht an, eine Allgemeinverbindlicherklärung mit Rückwirkung wäre nicht möglich gewesen.

38IV. Der Beklagte hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2020:160920.U.10AZR9.19.0

Fundstelle(n):
IAAAH-64897