BSG Beschluss v. - B 5 RE 7/20 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - mündliche Verhandlung - wirksam erlassene Verwaltungsakte während des Berufungsverfahrens - Durchführung des vereinfachten Beschlussverfahrens ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter

Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 153 Abs 1 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 96 Abs 1 SGG, § 105 Abs 2 S 1 SGG, § 124 Abs 2 SGG, § 2 S 1 Nr 2 SGB 6

Instanzenzug: Az: S 13 R 953/13vorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 2 R 468/17 Beschluss

Gründe

1I. Die Beteiligten streiten über die Versicherungspflicht der als selbstständige Physiotherapeutin in eigener Praxis tätigen Klägerin in der gesetzlichen Rentenversicherung. Mit Bescheid vom stellte die Beklagte das Bestehen von Versicherungspflicht nach § 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI fest. Vom bis zum habe die Klägerin den halben Regelbeitrag, danach den Regelbeitrag zu zahlen; die Beitragsforderung bis einschließlich betrage 12 965,14 Euro. Den Widerspruch hiergegen wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom zurück. Das SG hat die Klage mit Urteil vom abgewiesen. Mit weiterem Bescheid vom stellte die Beklagte fest, dass die Rentenversicherungspflicht zum geendet habe und eine Beitragsschuld in Höhe von 19 626,51 Euro bestehe. Das die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und dabei ausgeführt, dass der Bescheid vom gemäß § 96 SGG zum Gegenstand des Verfahrens geworden sei. Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt und geltend gemacht, der Beschluss des LSG beruhe auf Verfahrensmängeln (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

2II. Die Beschwerde der Klägerin ist begründet. Der Verfahrensmangel der fehlerhaften Besetzung des Berufungsgerichts ausschließlich mit Berufsrichtern (vgl § 33 Abs 1 Satz 1 SGG), den sie formgerecht gerügt hat (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG), liegt vor. Das führt zur Aufhebung des Beschlusses des LSG und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht (§ 160a Abs 5 SGG).

3a) Das LSG hätte nicht im Wege des vereinfachten Beschlussverfahrens nach § 153 Abs 4 SGG ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richter entscheiden dürfen, weil nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils ein weiterer Verwaltungsakt nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Rechtsstreits geworden ist, über den das LSG durch die Zurückweisung der Berufung der Klägerin in der Sache ausdrücklich mit entschieden hat.

4Nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG kann das LSG, außer in den Fällen einer Entscheidung des SG durch Gerichtsbescheid nach § 105 Abs 2 Satz 1 SGG, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. An einem solchen Beschluss außerhalb einer mündlichen Verhandlung wirken die ehrenamtlichen Richter nicht mit (§ 33 Abs 1 Satz 2 iVm § 12 Abs 1 Satz 2 SGG). Die Voraussetzungen für die Durchführung des vereinfachten Beschlussverfahrens ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter haben hier indes nicht vorgelegen.

5Das LSG hat ausweislich der Entscheidungsgründe ausdrücklich über den "Bescheid der Beklagten vom in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom und des Änderungsbescheides vom " entschieden. Den Bescheid vom hat es zutreffend gemäß § 153 Abs 1 iVm § 96 Abs 1 SGG als Verfahrensgegenstand angesehen. Gegenstand des Klageverfahrens war zunächst der Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom . Diese Bescheide stellten die Versicherungspflicht der Klägerin für ihre Tätigkeit als selbstständige Physiotherapeutin in der gesetzlichen Rentenversicherung ab dem fest und bestimmten die Höhe der monatlich zu entrichtenden Pflichtbeiträge sowie den Betrag der bis zum entstandenen Beitragsschuld. Der nach Verkündung des erstinstanzlichen Urteils im Verlauf des Berufungsverfahrens ergangene weitere Bescheid vom stellte fest, dass die Versicherungspflicht der Klägerin aufgrund der Beschäftigung eines rentenversicherungspflichtigen Arbeitnehmers mit Ablauf des geendet hat; zudem bezifferte er die bis dahin insgesamt angefallenen Beitragsschulden auf nunmehr 19 626,51 Euro. Damit hat der Bescheid vom die Regelungen des ursprünglichen Bescheids vom geändert.

6Allerdings hätte das LSG über erst während des Berufungsverfahrens wirksam erlassene Verwaltungsakte, die einen mit dem Rechtsmittel bereits angefochtenen Verwaltungsakt iS des § 153 Abs 1 iVm § 96 Abs 1 SGG ändern oder ersetzen, nicht zweitinstanzlich auf Berufung, sondern erstinstanzlich auf Klage befinden müssen (stRspr; vgl - SozR 4-5050 § 22 Nr 10 RdNr 15; - SozR 4-1500 § 153 Nr 15 RdNr 15; - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-1500 § 153 Nr 18 vorgesehen - juris RdNr 13 mwN). Daher hätte hier das LSG auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung entweder aufgrund mündlicher Verhandlung oder - nach Zustimmung der Beteiligten (§ 124 Abs 2 SGG) - ohne mündliche Verhandlung durch Urteil unter Beteiligung der ehrenamtlichen Richter entscheiden und neben der Zurückweisung der Berufung auch die Klage gegen den Bescheid vom abweisen müssen. Für eine erstinstanzliche Entscheidung des LSG bietet § 153 Abs 4 SGG keine Grundlage (vgl - aaO RdNr 13 ff; kritisch dazu nur für den Fall, dass das LSG die nach § 96 SGG einbezogenen Verwaltungsakte nicht kennt, Keller in jurisPR-SozR 15/2020 Anm 3).

7b) Mit seiner Entscheidung durch Beschluss allein der Berufsrichter, ohne dass die Voraussetzungen des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG vorliegen, hat das LSG zugleich die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) missachtet (vgl - juris RdNr 3; - juris RdNr 4; - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-1500 § 153 Nr 18 vorgesehen - juris RdNr 17). Das Beruhen der Entscheidung auf dem Verfahrensmangel wird bei diesem absoluten Revisionsgrund unwiderleglich vermutet (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO, vgl - SozR 4-1500 § 153 Nr 12 RdNr 5). Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit im Interesse einer Beschleunigung des Verfahrens Gebrauch. Im Hinblick darauf kann hier dahinstehen, ob der weitere von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensmangel vorliegt.

8Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2020:230920BB5RE720B0

Fundstelle(n):
IAAAH-62139