Kein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens wegen nachträglich durch Rechtsbereinigungsgesetz ex nunc geänderter Rechtslage bei bestandskräftig abgeschlossenen Bescheinigungsverfahren
Leitsatz
Die Aufhebung des § 100a Abs. 1 BVFG (2001) durch Art. 2 Nr. 2 Buchst. a des Gesetzes zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes und zur Bereinigung des Bundesvertriebenengesetzes vom (BGBl. I S. 1922), der die Anwendung des nach dem geltenden Rechts auch auf Anträge nach § 15 Abs. 1 BVFG regelte, hat allein Wirkung für die Zukunft (ex nunc). Sie begründet keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen bestands- bzw. rechtskräftig abgeschlossener Bescheinigungsverfahren nach § 15 Abs. 1 BVFG.
Gesetze: § 100a Abs 1 BVFG, § 15 Abs 1 BVFG, § 4 BVFG, § 6 Abs 2 BVFG, § 48 VwVfG, § 49 VwVfG, § 51 Abs 1 Nr 1 VwVfG, § 51 Abs 3 VwVfG, § 51 Abs 5 VwVfG
Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: 11 A 1051/17 Urteilvorgehend Az: 10 K 688/15 Urteil
Tatbestand
1Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung.
2Die ... in der ehemaligen Sowjetunion (heute Kasachstan) geborene Klägerin reiste im Mai 2000 mit einem Aufnahmebescheid in das Bundesgebiet ein. Ihr Antrag auf Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung wurde mit Bescheid vom unter Verweis auf die russische Nationalitäteneintragung im ersten Inlandspass und das fehlende durchgängige Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgelehnt. Gegen diesen Bescheid eingelegte Rechtsmittel blieben ohne Erfolg.
3Mit Schreiben vom stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung, hilfsweise im Rahmen des Wiederaufgreifens des Verfahrens, den das Bundesverwaltungsamt mit Bescheid vom wegen der rechtskräftig bestätigten Ablehnung des ersten Antrags ablehnte. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG, weil die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG versäumt sei. Unabhängig hiervon lägen auch die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht vor, weil keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG gegeben sei. Auch ein Wiederaufgreifen des Verfahrens im Ermessenswege nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG komme nicht in Betracht.
4Das Verwaltungsgericht hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat diese Entscheidung mit Urteil vom geändert und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin eine Spätaussiedlerbescheinigung auszustellen. Die Klägerin habe gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens. Eine Änderung der Rechtslage sei mit Blick auf die Bestimmung des Art. 2 Nr. 2 Buchst. a des Gesetzes zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes und zur Bereinigung des Bundesvertriebenengesetzes vom (BGBl. I S. 1922), durch den § 100a Abs. 1 BVFG aufgehoben worden sei, eingetreten. Nach dem Wegfall des § 100a Abs. 1 BVFG 2001 sei für Anträge nach § 15 Abs. 1 BVFG von vor dem eingereisten Antragstellern wieder die zuvor geltende Rechtslage, also das Bundesvertriebenengesetz 1993, maßgeblich geworden. Durch den Wegfall des § 100a Abs. 1 BVFG 2001 habe sich die Rechtslage auch zugunsten der Klägerin geändert. Denn die Frage, ob sie deutsche Volkszugehörige sei, beurteile sich nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG 1993, der zum Zeitpunkt ihrer Einreise gegolten habe. Diese Vorschrift sehe (lediglich) vor, dass sich der Antragsteller bis zum Verlassen des Aussiedlungsgebiets zur deutschen Nationalität erklärt habe; ein durchgängiges Bekenntnis "nur" zum deutschen Volkstum sei - anders als nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG 2001 - nicht erforderlich. Der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens sei auch nach § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG fristgerecht gestellt worden. Die Klägerin erfülle schließlich die Voraussetzungen der Spätaussiedlereigenschaft im Zeitpunkt ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland.
5Zur Begründung der vom erkennenden Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 100a Abs. 1 BVFG 2001 i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. Der Wegfall des § 100a Abs. 1 BVFG 2001 sei für unter der Geltung dieser Vorschrift bestands- oder rechtskräftig abgeschlossene Bescheinigungsverfahren folgenlos geblieben. Die Aufhebung des § 100a Abs. 1 BVFG 2001 sei allein für die Zukunft (ex nunc) erfolgt, weil der Gesetzgeber keine Anwendungsfälle der Norm mehr gesehen habe. Ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG wegen Änderung der Rechtslage ergebe sich aus dem Wegfall nicht.
6Die Klägerin verteidigt das angegriffene Urteil.
7Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren und schließt sich der Auffassung der Beklagten an.
Gründe
8Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Das Berufungsurteil verstößt gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung im Wege des Wiederaufgreifens des bestandskräftig abgeschlossenen Bescheinigungsverfahrens. Zwar hat das Berufungsgericht zutreffend erkannt, dass eine positive Entscheidung über das Begehren auf Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung zwingend ein vorheriges Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG voraussetzt (dazu 1.). Die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG hat es jedoch zu Unrecht bejaht (dazu 2. und 3.). Das angegriffene Urteil stellt sich auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen hinreichenden Tatsachenfeststellungen auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO), so dass der Senat abschließend zulasten der Klägerin entscheiden kann (dazu 4.).
9Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des von der Klägerin mit der Verpflichtungsklage verfolgten Anspruchs sind § 51 VwVfG in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 102) sowie das Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG) in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 1902), zuletzt geändert durch Art. 162 der Verordnung vom (BGBl. I S. 1328).
101. Nachdem der im Jahr 2000 erstmals gestellte Antrag der Klägerin auf Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG unanfechtbar abgelehnt worden ist, kann ihr Begehren nur Erfolg haben, wenn sie zuvor ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG (Anspruch auf Wiederaufgreifen) oder nach § 51 Abs. 5 i.V.m. den §§ 48, 49 VwVfG (Wiederaufgreifen nach Ermessen) erreicht. Für eine erneute Sachentscheidung über einen Neuantrag unmittelbar auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 BVFG - wie sie die Klägerin mit Schreiben vom begehrt hat - ist demgegenüber kein Raum. Einer solchen Neuentscheidung steht die Bestandskraft der ablehnenden Entscheidung vom in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom entgegen, die durch rechtskräftiges Urteil des Verwaltungsgerichts S. vom bestätigt wurde. Bei der Versagung einer vertriebenenrechtlichen Spätaussiedlerbescheinigung handelt es sich nicht um einen Fall, in dem die ablehnende Entscheidung nur im Hinblick auf eine bestimmte Situation oder Rechtslage eine Regelung trifft und etwa für einen späteren neuen Sachverhalt oder eine geänderte Rechtslage keine Geltung beansprucht (zu derartigen Fällen vgl. etwa 6 C 107.82 - BVerwGE 69, 90 <93>). Ablehnende Entscheidungen über Anträge auf Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung beanspruchen vielmehr grundsätzlich auch für einen späteren Sachverhalt oder eine geänderte Rechtslage Geltung. Eine Zweitentscheidung in der Sache setzt daher voraus, dass die Bestandskraft einer ablehnenden Entscheidung gemäß § 51 VwVfG überwunden wird.
112. Die Voraussetzungen eines Rechtsanspruchs auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG liegen nicht vor. Der allein geltend gemachte Wiederaufnahmegrund des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG ist nicht gegeben. Nach dieser Vorschrift hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat.
12Dies ist hier nicht der Fall. Zwar hat die Klägerin den erforderlichen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Oktober 2009 gestellt. Der allein geltend gemachte Wiederaufnahmegrund des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG (Änderung der Rechtslage) liegt jedoch nicht vor, weil sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Rechtslage nicht nachträglich zugunsten der Klägerin geändert hat. Eine nachträgliche Änderung der Rechtslage erfolgt zugunsten des Betroffenen, wenn sie für den ergangenen Verwaltungsakt entscheidungserhebliche Voraussetzungen betrifft, so dass die Änderung eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert ( 1 C 26.17 - Buchholz 412.3 § 27 BVFG Nr. 25 Rn. 18 und vom - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 13; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 51 Rn. 92). Die Änderung der Rechtslage muss gerade solche Umstände betreffen, die für den Verwaltungsakt tatsächlich maßgeblich waren. Die Formulierung in § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG "die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage" verdeutlicht, dass nachträglich die für den Verwaltungsakt maßgeblichen Rechtsnormen, also dessen entscheidungserhebliche rechtliche Grundlagen, geändert sein müssen.
132.1 Das Berufungsgericht hat zunächst zutreffend angenommen, dass sich eine Änderung der Rechtslage nicht, wie von der Klägerin geltend gemacht, aus einer Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (hier: Urteil vom - 5 C 38.06 - BVerwGE 129, 265) ergibt. Eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung bewirkt grundsätzlich keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. Denn ungeachtet ihrer Auswirkungen bleiben gerichtliche Entscheidungen eine rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung und sind demnach weder geeignet noch darauf angelegt, die Rechtslage konstitutiv zu verändern ( 8 C 4.12 - Buchholz 428 § 1 Abs. 8 VermG Nr. 48 Rn. 21). Eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG erfasst nur einen Wandel der normativen Bestimmungen, nicht aber eine Änderung der Norminterpretation ( 5 C 9.11 - BayVBl 2012, 478 Rn. 27).
142.2 Zutreffend ist auch die Annahme des Berufungsgerichts, dass das am in Kraft getretene Zehnte Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vom (BGBl. I S. 3554) - 10. BVFG-Änderungsgesetz - keine Rechtsänderung bewirkt hat, die sich zugunsten der Klägerin, die bereits im Mai 2000 in das Bundesgebiet eingereist ist, auswirken konnte. Für die Beurteilung im Bescheinigungsverfahren, ob eine Person nach §§ 4 und 6 BVFG Spätaussiedler ist, kommt es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aus Gründen des materiellen Rechts grundsätzlich auf die Rechtslage bei Aufnahme in das Bundesgebiet an. Die Fixierung des Zeitpunkts, nach dem sich entscheidet, ob eine Person Spätaussiedler geworden ist, auf den Zeitpunkt der Aufenthaltnahme hat zur Folge, dass einem Antragsteller ihm günstige Rechtsänderungen nach diesem Zeitpunkt grundsätzlich nicht mehr zugutekommen ( 1 C 29.14 - BVerwGE 152, 283 Rn. 38 und vom - 1 C 26.17 - Buchholz 412.3 § 27 BVFG Nr. 25 Rn. 24). Die Änderungen der Voraussetzungen des Spätaussiedlerstatus durch das 10. BVFG-Änderungsgesetz entfalten mangels Übergangsvorschriften auch keine Rückwirkung auf Übersiedlungen vor seinem Inkrafttreten ( 1 C 26.17 - a.a.O. Rn. 25 f.).
152.3 Mit Bundesrecht unvereinbar ist hingegen die Annahme des Berufungsgerichts, dass die Aufhebung des § 100a Abs. 1 BVFG 2001 durch Art. 2 Nr. 2 Buchst. a des Gesetzes zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes und zur Bereinigung des Bundesvertriebenengesetzes vom (BGBl. I S. 1922), der die Anwendung des nach dem geltenden Rechts auch auf Anträge nach § 15 Abs. 1 BVFG regelte, einen Anspruch auf Wiederaufgreifen begründe. Eine Änderung der Rechtslage zugunsten des Betroffenen im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liegt nur vor, wenn die für den Verwaltungsakt maßgeblichen Rechtsnormen, also dessen entscheidungserhebliche rechtliche Grundlagen, nachträglich geändert werden, so dass die Änderung eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert oder doch ermöglicht ( 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243 Rn. 14; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 51 Rn. 92). Das ist nicht der Fall bei Rechtsänderungen, die abschließend getroffene Verwaltungsentscheidungen unberührt lassen (Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 51 Rn. 99; Engels, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 51 Rn. 27).
16Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts entfaltet die Aufhebung des § 100a Abs. 1 BVFG 2001 zwar Wirkung für noch offene (vgl. 1 B 83.16 - juris), jedoch keine Rückwirkung auf bereits bestands- bzw. rechtskräftig abgeschlossene Bescheinigungsverfahren. Die Auslegung der durch Art. 2 Nr. 2 Buchst. a des Gesetzes zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes und zur Bereinigung des Bundesvertriebenengesetzes vom (BGBl. I S. 1922) erfolgten Änderung ergibt, dass der Gesetzeszweck nicht darauf gerichtet war, eine Rechtsänderung für im Bundesgebiet bereits aufgenommene Personen, deren Bescheinigungsverfahren bestandskräftig abgeschlossen ist, herbeizuführen und abschließend bewirkte Rechtsfolgen aufzuheben (vgl. auch BVFG-VwV vom <GMBl 2016 S. 118 zu § 100a BVFG>). Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, ging der Gesetzgeber davon aus, dass es sich bei § 100a Abs. 1 BVFG 2001 um eine überholte Übergangsvorschrift handelt (vgl. BT-Drs. 18/4625 S. 1), deren Zweck sich erledigt hat, "da solche Fälle inzwischen abgeschlossen sind". Es sollte durch die Aufhebung der Norm dem "Gebot der Rechtsbereinigung" entsprochen werden (vgl. BT-Drs. 18/4625 S. 11). Aus dem Charakter der Norm als Rechtsbereinigungsvorschrift folgt, dass die Aufhebung des § 100a Abs. 1 BVFG 2001 allein Wirkung für die Zukunft (ex nunc) und nicht auch für in der Vergangenheit bereits abgeschlossene Bescheinigungsverfahren (ex tunc-Wirkung) hat. Im Rahmen einer Rechtsbereinigung im engeren Sinne werden gegenstandslos gewordene Rechtsvorschriften aufgehoben, die nur befristet galten oder aus anderen Gründen für heutige Sachverhalte keine Wirkung mehr entfalten. Eine Änderung der Rechtslage tritt durch diese rein formale Form der Bereinigung nicht ein (siehe auch Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag - WD 3-3000-027/18 - vom S. 3). Ein Wiederaufgreifen des Verfahrens mit der Begründung, es sei entgegen der aufgehobenen Vorschrift nunmehr das vor dem geltende Recht anzuwenden, ist daher ausgeschlossen (vgl. in diesem Sinne auch: Klappert, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand: , § 100a BVFG Rn. 4).
173. Mangels Vorliegens von Wiederaufgreifensgründen ist den Bedenken nicht nachzugehen, ob die Auffassung des Berufungsgerichts, aus einer in anderen Verfahren gewonnenen Kenntnis des Klägerbevollmächtigten von der geänderten Rechtslage folge nicht zugleich eine (für die Einhaltung der Frist für einen Wiederaufgreifensantrag nach § 51 Abs. 3 VwVfG maßgebliche) positive Kenntnis aller den Wiederaufgreifensgrund im Verfahren der Klägerin maßgeblich bildenden Tatsachen, sondern allenfalls ein der positiven Kenntnis gerade nicht gleichstehendes Kennenmüssen (UA S. 15), ebenfalls gegen Bundesrecht verstößt.
184. Das Berufungsurteil erweist sich schließlich nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die Klägerin hat insbesondere auch nach § 51 Abs. 5 i.V.m. den §§ 48, 49 VwVfG keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens. Die Beklagte hat ein Wiederaufgreifen nach diesen Vorschriften vielmehr ermessensfehlerfrei abgelehnt.
19Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann die Behörde - auch wenn, wie hier, die in § 51 Abs. 1 VwVfG normierten Voraussetzungen nicht vorliegen - ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren wieder aufgreifen und eine neue, der gerichtlichen Überprüfung zugängliche Entscheidung treffen (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Hinsichtlich der in § 51 Abs. 5 i.V.m. den §§ 48, 49 VwVfG zu sehenden Ermächtigung zum Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne, die die Korrektur inhaltlich unrichtiger Entscheidungen ermöglicht, besteht für den Betroffenen allerdings nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung ( 6 C 43.16 - Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 196 Rn. 9 m.w.N. und vom - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 25). Der Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander. Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht jedoch ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme des bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" ist, was von den Umständen des Einzelfalls und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt (vgl. 2 C 12.92 - BVerwGE 95, 86 <92>, vom - 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709 Rn. 13, vom - 1 C 33.07 - Buchholz 402.242 § 54 AufenthG Nr. 5 Rn. 13 und vom - 2 C 50.09 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 58 Rn. 11, jeweils m.w.N.). Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann schlechthin unerträglich, wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, dessen Rücknahme begehrt wird, kann ebenfalls die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich ( 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709 Rn. 13, vom - 5 C 9.11 - BayVBl 2012, 478 Rn. 29 f. und vom - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 26).
20Diese Voraussetzungen liegen auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht vor. Für einen Verstoß gegen Treu und Glauben sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Die bestandskräftige und rechtskräftig bestätigte Ablehnung der Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung war auch nicht offensichtlich rechtswidrig. Sie basierte auf der in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des 9 C 391.94 - BVerwGE 99, 133 <140 f.> und vom - 9 C 8.96 - BVerwGE 102, 214 <217>) stehenden Annahme, dass in der Angabe einer anderen als der deutschen Nationalität gegenüber amtlichen Stellen grundsätzlich ein die deutsche Volkszugehörigkeit ausschließendes Gegenbekenntnis zu einem anderen Volkstum liegt. Allein der Umstand, dass der vom Wiederaufgreifen des Verfahrens betroffene Bescheid vom - gemessen an den sich aus dem 5 C 38.06 - (BVerwGE 129, 265 Rn. 25) ergebenden Anforderungen - nicht rechtmäßig hätte verfügt werden dürfen, genügt für die Annahme seiner offensichtlichen Rechtswidrigkeit nicht (vgl. dazu 5 C 9.11 - BayVBl 2012, 478 Rn. 29). Es ist auch nicht ersichtlich und geltend gemacht worden, dass die Beklagte in vergleichbaren Fällen das Verfahren wieder aufgegriffen und damit gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen hätte.
21Der Klägerin steht auch kein Anspruch auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung zu. Die Beklagte hat ihr Ermessen über das Wiederaufgreifen des Verfahrens fehlerfrei zulasten der Klägerin ausgeübt. Ist die Aufrechterhaltung eines bestandskräftigen Verwaltungsakts nicht "schlechthin unerträglich" und das Wiederaufgreifensermessen damit auf Null reduziert, ist es in aller Regel und so auch hier ermessensfehlerfrei, wenn die Behörde dem Aspekt der Rechtssicherheit den Vorzug gibt. Ins Einzelne gehender Ermessenserwägungen bedarf es insoweit nicht.
225. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2020:130820U1C23.19.0
Fundstelle(n):
IAAAH-59483