BAG Urteil v. - 2 AZR 442/19

Schwerbehinderte Menschen - außerordentliche Kündigung

Leitsatz

Die Gerichte für Arbeitssachen haben bei einer außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen zu prüfen, ob die Kündigung unverzüglich iSd. § 174 Abs. 5 SGB IX erklärt wurde, während die Einhaltung der zweiwöchigen Antragsfrist des § 174 Abs. 2 SGB IX allein vom Integrationsamt zu beurteilen ist.

Gesetze: § 168 SGB 9 2018, § 174 SGB 9 2018, § 626 Abs 2 BGB, § 286 Abs 1 ZPO

Instanzenzug: ArbG Wuppertal Az: 6 Ca 915/18 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Düsseldorf Az: 3 Sa 1077/18 Urteilnachgehend Landesarbeitsgericht Düsseldorf Az: 3 Sa 653/20 Vergleich

Tatbestand

1Die Parteien streiten zuletzt noch über eine außerordentliche Kündigung der Beklagten sowie einen von ihr außergerichtlich gegenüber dem Kläger geltend gemachten Zahlungsanspruch.

2Der Kläger arbeitete seit dem Jahr 2000 als Hausmeister bei der Beklagten, die mehr als 800 Arbeitnehmer in ihrem Betrieb beschäftigt. Er ist einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Der Kläger und ein Arbeitskollege nutzten während ihrer Arbeit tragbare und ihnen jeweils zugeordnete Telefone, deren Ladestationen sich im Hausmeisterraum befinden. Der Kollege war in den Monaten Juni bis August 2017 überwiegend arbeitsunfähig erkrankt und befand sich in der verbleibenden Zeit in einer Wiedereingliederung.

3Im Januar 2018 stellte die Beklagte nach ihren streitigen Angaben bei der jährlichen Kontrolle ihrer Telefonrechnungen Unregelmäßigkeiten fest. Eine Durchsicht habe ergeben, dass über die Nebenstellennummern des Klägers und seines Kollegen in der Zeit vom bis einschließlich insgesamt 2756 Mal kostenpflichtig die Rufnummer einer Glücksspiel-Hotline gewählt worden sei.

4Der Kläger wurde nach Beendigung einer insgesamt zweiwöchigen krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit am 13. und ebenso wie sein Kollege zu dem Vorwurf angehört, er habe während der Arbeitszeit von den dienstlichen Telefonen unbefugt die Glücksspiel-Hotline angerufen. Dabei bestritt er die ihm gegenüber erhobenen Vorwürfe.

5Mit Schreiben vom beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen Tat- und hilfsweise zur außerordentlichen Verdachtskündigung. Am bestätigte ihr das Integrationsamt den Eintritt der Fiktion gemäß § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX.

6Die Beklagte hörte mit Schreiben vom den bei ihr bestehenden Betriebsrat zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung an, der in einer abschließenden Stellungnahme am Bedenken äußerte. Die gleichfalls mit Schreiben vom angehörte Schwerbehindertenvertretung nahm die beabsichtigte Kündigung ohne Stellungnahme zur Kenntnis.

7Mit einem dem Kläger am selben Tag zugegangenen Schreiben vom kündigte die Beklagte das mit ihm bestehende Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos.

8Die Beklagte machte außergerichtlich zunächst eine Forderung iHv. 1.913,62 Euro für die mit der Glücksspiel-Hotline geführten Telefonate gegenüber dem Kläger geltend. Im Rahmen eines erstinstanzlichen Schriftsatzes hat sie die Anspruchshöhe korrigiert. Zuletzt hat sich die Beklagte über einen bereits einbehaltenen Betrag von 40,56 Euro hinaus nur eines weiteren Zahlungsanspruchs von 1.394,68 Euro berühmt.

9Gegen die außerordentliche Kündigung hat sich der Kläger mit seiner rechtzeitig beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage gewandt, die er um einen auf die Zahlungsforderung der Beklagten über 1.913,62 Euro bezogenen negativen Feststellungsantrag erweitert hat. Er hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei unwirksam. Ein wichtiger Grund liege nicht vor. Zudem sei die Zweiwochenfrist nicht eingehalten worden. Eine ordnungsgemäße Anhörung zu den streitgegenständlichen Vorwürfen habe nicht stattgefunden. Ferner hat der Kläger die korrekte Anhörung des Betriebsrats sowie die ordnungsgemäße Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung ebenso bestritten wie die ihm zur Last gelegten Anrufe bei der Glücksspiel-Hotline.

10Der Kläger hat - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - beantragt

11Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat gemeint, die Kündigung sei wirksam. Aufgrund der Arbeitsunfähigkeit des Klägers vom bis zum sei eine frühere Anhörung nicht möglich gewesen. Man habe beide Mitarbeiter zeitlich unmittelbar nacheinander zu einem Gespräch bitten wollen, damit sie keine Möglichkeit zu einem wechselseitigen Austausch und einer Absprache hätten. Nachdem der Kläger ebenso wie sein Kollege bestritten habe, die Glücksspiel-Hotline angerufen zu haben, sei am 13. und eine weitere Auswertung vorgenommen worden. Diese habe ergeben, dass für insgesamt 109 Anrufe nur der Kläger in Frage komme, womit dieser am konfrontiert worden sei. Sein erneutes Abstreiten der Vorwürfe sei nicht glaubhaft gewesen. Nur der Kläger sei zu allen Anrufzeiten zugegen gewesen. Alle anderen der zwölf zutrittsberechtigten Mitarbeiter/-innen seien zumindest teilweise aufgrund von Krankheit oder Urlaub oder am frühen Morgen noch gar nicht im Betrieb anwesend gewesen. Kein Anruf sei außerhalb der Anwesenheitszeit des Klägers getätigt worden. Ab dem sei der Kläger aufgrund von Arbeitsunfähigkeit nicht anwesend gewesen und die Hotline nicht weiter gewählt worden. Es spreche viel dafür, dass sämtliche Anrufe bei der Glücksspiel-Hotline durch den Kläger getätigt worden seien. Zumindest sei davon auszugehen, dass die 109 Anrufe zu Zeiten, als nur er und (noch) kein weiterer Kollege aus dem Facility-Management anwesend gewesen sei, nur von ihm getätigt sein konnten. Der Kläger sei verpflichtet, die Kosten für die 2756 Anrufe und die darauf entfallende Arbeitszeit zu erstatten.

12Die Vorinstanzen haben der Klage - soweit vorliegend von Interesse - stattgegeben. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage.

Gründe

13Die Revision der Beklagten ist begründet. Mit der gegebenen Begründung durfte das Landesarbeitsgericht ihre Berufung gegen das der Klage stattgebende arbeitsgerichtliche Urteil nicht zurückweisen. Ob das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung aufgelöst worden ist und der Beklagten ein Zahlungsanspruch gegen den Kläger zusteht, kann der Senat nicht selbst entscheiden. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

14A. Das Landesarbeitsgericht hat rechtsfehlerhaft angenommen, die von der Beklagten ausgesprochene außerordentliche Kündigung erweise sich wegen Versäumung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB als unwirksam.

15I. Die Beklagte hat die außerordentliche Kündigung unter Berücksichtigung der für schwerbehinderte Menschen und ihnen Gleichgestellte geltenden Regelung in § 174 Abs. 5 SGB IX rechtzeitig erklärt.

161. Gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX kann die außerordentliche Kündigung auch nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB erfolgen, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung durch das Integrationsamt erklärt wird.

172. Die Beklagte hat die sich aus § 174 Abs. 5 SGB IX ergebende Kündigungserklärungsfrist gewahrt.

18a) § 174 SGB IX ist auf das Arbeitsverhältnis des Klägers anwendbar. Dieser war nach den Feststellungen im Berufungsurteil mit Bescheid vom einem schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellt. Auf gleichgestellte behinderte Menschen werden nach § 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen des Teils 3 des SGB IX - mit Ausnahme des § 208 SGB IX (Zusatzurlaub) und des Kapitels 13 des SGB IX (Unentgeltliche Beförderung) - angewendet. Dazu zählen auch die Kündigungsschutzbestimmungen in Kapitel 4 (§§ 168 bis 175 SGB IX).

19b) Der Ausspruch der Kündigung ist unverzüglich iSv. § 174 Abs. 5 SGB IX nach Erteilung der Zustimmung durch das Integrationsamt erfolgt.

20aa) „Erteilt“ iSv. § 174 Abs. 5 SGB IX ist die Zustimmung, sobald eine solche Entscheidung innerhalb der Frist des § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX getroffen und der antragstellende Arbeitgeber hierüber in Kenntnis gesetzt oder wenn eine Entscheidung innerhalb der Frist des § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nicht getroffen worden ist; in diesem Fall gilt die Zustimmung mit Ablauf der Frist gemäß § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX als erteilt (vgl. zu § 91 SGB IX in der bis geltenden Fassung (aF)  - Rn. 18; - 2 AZR 118/11 - Rn. 15).

21bb) Entsprechend der Legaldefinition des § 121 Abs. 1 BGB bedeutet „unverzüglich“ auch im Rahmen von § 174 Abs. 5 SGB IX „ohne schuldhaftes Zögern“. Schuldhaft ist ein Zögern dann, wenn das Zuwarten durch die Umstände des Einzelfalls nicht geboten ist. Da „unverzüglich“ weder „sofort“ bedeutet noch damit eine starre Zeitvorgabe verbunden ist, kommt es auf eine verständige Abwägung der beiderseitigen Interessen an. Dabei ist nicht allein die objektive Lage maßgebend. Solange derjenige, dem unverzügliches Handeln abverlangt wird, nicht weiß, dass er die betreffende Rechtshandlung vornehmen muss, oder es mit vertretbaren Gründen annehmen kann, er müsse sie noch nicht vornehmen, liegt kein „schuldhaftes“ Zögern vor (vgl. zu § 91 SGB IX aF  - Rn. 16). Diese Grundsätze gelten auch, wenn der Arbeitgeber die zuständigen Arbeitnehmervertretungen erst nach Abschluss des Verfahrens vor dem Integrationsamt beteiligt (aA noch  - zu II 3 b ee und ff der Gründe, BAGE 34, 20 „die Kündigung muss sofort erklärt werden“; insoweit bereits relativierend  - zu III 2 e der Gründe, BAGE 55, 9).

22cc) Die Kündigung ist iSv. § 174 Abs. 5 SGB IX „erklärt“, wenn sie dem schwerbehinderten Menschen gemäß § 130 BGB zugegangen ist (vgl. zu § 91 SGB IX aF  - Rn. 17).

23dd) Danach ist die Frist des § 174 Abs. 5 SGB IX gewahrt.

24(1) Das Integrationsamt hat keine ausdrückliche Entscheidung über den Antrag der Beklagten auf Erteilung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers getroffen, sondern der Beklagten am zutreffend bestätigt, dass die Fiktionswirkung des § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX in Bezug auf ihren am eingegangenen Zustimmungsantrag eingetreten sei. Die Frist des § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX ist nach § 26 Abs. 1 SGB X iVm. § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 1 BGB und § 26 Abs. 3 Satz 1 SGB X mit Ablauf des (Dienstag nach Ostern) abgelaufen.

25(2) Die Beklagte hat noch am selben Tag, als die Zustimmungsfiktion des § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX eingetreten und ihr dies vom Integrationsamt mitgeteilt worden war, den bei ihr bestehenden Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung angehört. Der Betriebsrat hat sich innerhalb der Frist des § 102 Abs. 2 Satz 3 BetrVG am (Montag) abschließend geäußert. Am ist dem Kläger das Kündigungsschreiben vom selben Tag zugegangen.

263. Die Regelung in § 174 Abs. 5 SGB IX ist nicht dahingehend teleologisch zu reduzieren, dass sie nur Anwendung findet, wenn der Arbeitgeber die nach § 174 Abs. 1 iVm. § 168 SGB IX erforderliche Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB beantragt. Das kann - entgegen der bisherigen Senatsrechtsprechung, die von einer „Ausdehnung“ der Frist des § 626 Abs. 2 BGB (vgl.  - Rn. 22, BAGE 117, 168) beziehungsweise einem „Aufschieben“ ihres Ablaufs (vgl.  - Rn. 33, BAGE 140, 47) ausgegangen ist (ablehnend ErfK/Niemann 20. Aufl. BGB § 626 Rn. 228b; zustimmend wohl Düwell in LPK-SGB IX 5. Aufl. § 174 Rn. 16, 28) - nicht angenommen werden. Der Senat hält insoweit an seiner Rechtsprechung in den vorgenannten Entscheidungen aus den bereits in seinem Urteil vom (- 2 AZR 390/19 - Rn. 24 ff.) angeführten Gründen nicht mehr fest (in diesem Sinn auch  - zu III 2 a der Gründe, BAGE 55, 9).

27a) Gegen ein Verständnis von § 174 Abs. 5 SGB IX als „Ausdehnung“ der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB oder „Aufschieben“ ihres Ablaufs spricht der Gesetzeswortlaut von § 174 Abs. 5 SGB IX. Die Regelung bestimmt, dass eine Kündigung gerade „auch nach Ablauf der Frist des § 626 Absatz 2 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs“ erfolgen kann, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung erklärt wird. Darin liegt keine „Ausdehnung“ der Frist oder ein „Aufschieben“ ihres Ablaufs. Der Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB ist vielmehr Anwendungsvoraussetzung von § 174 Abs. 5 SGB IX.

28b) Gegen eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs von § 174 Abs. 5 SGB IX auf Fälle, in denen die Versäumung der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB durch die Besonderheiten des Sonderkündigungsschutzes bedingt war (in diese Richtung wohl auch Knittel SGB IX Kommentar 11. Aufl. § 91 Rn. 43) spricht die gesonderte Fristenregelung in § 174 Abs. 2 SGB IX. Danach kann die gemäß § 174 Abs. 1 iVm. § 168 SGB IX erforderliche Zustimmung des Integrationsamts zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber nur innerhalb von zwei Wochen beantragt werden (§ 174 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Die Frist beginnt gemäß § 174 Abs. 2 Satz 2 SGB IX mit dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Die Fristbestimmungen sind damit § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB nachgebildet. Die Systematik zeigt, dass der Gesetzgeber sie zusammen mit der Anforderung gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX als Äquivalent und damit - entgegen der bisherigen Senatsrechtsprechung ( - BAGE 117, 168; wohl auch  - Rn. 14) - als Ersatz für die Einhaltung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB konzipiert hat (vgl. auch ErfK/Niemann 20. Aufl. BGB § 626 Rn. 228b: § 174 Abs. 5 SGB IX regele die Kündigungserklärungsfrist eigenständig; aA, aber ohne nähere Begründung: Hiebert Verfahrensprobleme im Rahmen des Sonderkündigungsschutzes für schwerbehinderte Menschen nach den §§ 85 bis 92 SGB IX S. 249). Dem Problem, dass der Arbeitgeber bereits zu lange zugewartet haben kann, bevor er einen Antrag auf Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung beim Integrationsamt stellt, ist demnach durch § 174 Abs. 2 SGB IX abschließend Rechnung getragen.

29c) Diese Sichtweise vermeidet zudem eine nach Sinn und Zweck der Fristenregelung schwerlich zu rechtfertigende doppelte Prüfung der Zweiwochenfrist zwischen Kenntnis von den Kündigungsgründen und Antragstellung beim Integrationsamt einerseits durch die Gerichte für Arbeitssachen nach § 626 Abs. 2 BGB und andererseits durch das Integrationsamt bzw. die Verwaltungsgerichte nach § 174 Abs. 2 SGB IX mit möglicherweise einander widersprechenden Ergebnissen (vgl. etwa  - Rn. 14 ff., BAGE 117, 168).

304. Die Beklagte hat die Zustimmung des Integrationsamts zur außerordentlichen Kündigung vom nach § 174 Abs. 2 SGB IX rechtzeitig beantragt. Hiervon haben die mit der Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung befassten Gerichte für Arbeitssachen aufgrund der eingetretenen Zustimmungsfiktion (§ 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX) auszugehen. Ihre Prüfung ist darauf beschränkt, ob die Kündigung nach erteilter bzw. als erteilt fingierter Zustimmung unverzüglich iSv. § 174 Abs. 5 SGB IX erfolgt ist. Das war nach den vorstehenden Ausführungen (Rn. 23 ff.) der Fall.

31a) Die Frage der Rechtzeitigkeit der Antragstellung beim Integrationsamt bestimmt sich nach § 174 Abs. 2 SGB IX. Die Einhaltung der Frist ist Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Erteilung der Zustimmung ( 5 B 186.95 -). Sie ist allein vom Integrationsamt bzw. im Falle der Anfechtung der Entscheidung von den Verwaltungsgerichten zu prüfen ( - Rn. 17, BAGE 117, 168; Düwell in LPK-SGB IX 5. Aufl. § 174 Rn. 16; Knittel SGB IX Kommentar 11. Aufl. § 91 Rn. 38; Neumann in Neumann/Pahlen/Winkler/Jabben SGB IX 14. Aufl. § 174 Rn. 17). Liegt eine Zustimmung zur Kündigung vor, haben die Arbeitsgerichte dies ihren Entscheidungen zugrunde zu legen. Das gilt sowohl für ausdrückliche Entscheidungen des Integrationsamts nach § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX als auch für die Zustimmungsfiktion des § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX. Die Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten hat zur Folge, dass die Gerichte aller Rechtszweige an ihr Bestehen und ihren Inhalt gebunden sind, selbst wenn sie rechtswidrig sind, soweit dem Gericht nicht die Kontrollkompetenz eingeräumt ist ( - Rn. 33; - 10 AZR 466/10 - Rn. 19). Das folgt aus Art. 20 Abs. 3 GG und § 43 VwVfG bzw. § 39 SGB X. Ein (rechtswirksamer) Verwaltungsakt ist daher grundsätzlich von allen Staatsorganen zu beachten und ihren Entscheidungen als gegeben zugrunde zu legen (st. Rspr., vgl.  - aaO;  4 CN 14.01 - zu 1 der Gründe, BVerwGE 117, 351). Die Tatbestandswirkung entfällt nur, wenn der Verwaltungsakt nichtig ist ( - aaO; - 10 AZR 466/10 - aaO). Eine nicht nichtige Zustimmung des Integrationsamts entfaltet damit so lange Wirksamkeit, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben ist. Nach rechtskräftiger Abweisung seiner Kündigungsschutzklage steht dem Arbeitnehmer ggf. die Restitutionsklage nach § 580 ZPO offen ( - Rn. 22, 24, BAGE 145, 199).

32b) Die Arbeitsgerichte sind danach an eine erteilte Zustimmung gebunden und auf eine Prüfung der Unverzüglichkeit der Kündigung gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX beschränkt. Das Integrationsamt hat bei seiner Entscheidung allerdings die Umstände zu berücksichtigen, die für das arbeitsrechtliche Kündigungsschutzverfahren von Bedeutung sind (zu § 21 Abs. 2 SchwbG vgl.  5 B 186.95 -). Die gesetzliche Regelung setzt gerade voraus, dass der Gegenstand der öffentlich-rechtlichen Prüfung demjenigen der arbeitsrechtlichen Prüfung entspricht (zu § 91 Abs. 4 SGB IX aF vgl.  5 C 16.11 - Rn. 18, BVerwGE 143, 325). Für die Beurteilung der Frage der Kenntniserlangung vom Kündigungsgrund iSd. § 174 Abs. 2 SGB IX gelten dieselben Erwägungen, die bei der Einhaltung der Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB zu beachten sind ( 5 B 48.05 - zu 1.2 der Gründe; - 5 B 186.95 -). Zwar beginnt die Frist im Grundsatz nicht zu laufen, bevor der Arbeitgeber von einer bereits festgestellten oder beantragten Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers Kenntnis hat (zu § 21 Abs. 2 Satz 1 SchwbG vgl.  5 B 73.94 -; zu § 18 Abs. 2 Satz 1 SchwbG 1974 vgl. auch  - zu I 3 a dd der Gründe, BAGE 39, 59; - 2 AZR 462/76 - zu B II 2 b der Gründe, BAGE 30, 141). Dies erscheint sachgerecht, wenn der Arbeitgeber erst nach einer rechtzeitig innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB erklärten Kündigung Kenntnis von der Schwerbehinderung bzw. einer entsprechenden Antragstellung erlangt (ebenso  -; KR/Fischermeier 12. Aufl. § 626 BGB Rn. 360; KR/Gallner 12. Aufl. § 174 SGB IX Rn. 10; Knittel SGB IX Kommentar 11. Aufl. § 91 Rn. 44; Kossens in Kossens/von der Heide/Maaß SGB IX 4. Aufl. § 91 Rn. 9). Ob dies auch dann gelten kann, wenn der Arbeitgeber erst nach Ablauf von zwei Wochen nach Kenntnis von den Kündigungsgründen von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers bzw. einer entsprechenden Antragstellung erfährt, aber nicht schon innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB eine Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamts erklärt hat, ist ebenfalls allein im Rahmen der Fristenprüfung nach § 174 Abs. 2 SGB IX zu klären.

33c) Nach diesen Grundsätzen war vom Landesarbeitsgericht nicht zu prüfen, ob die Beklagte gemäß § 174 Abs. 2 SGB IX innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen die Zustimmung zur Kündigung beim Integrationsamt beantragt hat.

345. Das Berufungsurteil stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Da die Versäumung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB angesichts der Zustimmung des Integrationsamts gemäß § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX und des nachfolgenden unverzüglichen Ausspruchs der Kündigung unschädlich ist, kann sich die außerordentliche Kündigung der Beklagten als wirksam erweisen. Ob das der Fall ist, kann der Senat nicht selbst entscheiden. Das führt in Bezug auf den zu 1. erhobenen Feststellungsantrag zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO).

35II. Der Senat sieht sich zu dem Hinweis veranlasst, dass das Berufungsgericht die Frage der Kündigungserklärungsfrist auch unbeschadet der Regelung in § 174 SGB IX rechtsfehlerhaft beurteilt hat. Nach seiner Auffassung war die Frist des § 626 Abs. 2 BGB zum Zeitpunkt der Antragstellung beim Integrationsamt mit Schreiben vom bereits abgelaufen. Die Beklagte habe versäumt, den Kläger während der Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit zu den bestehenden Verdachtsmomenten anzuhören, und dies auch nicht versucht. Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts war die Beklagte jedoch nicht gehalten, zur Vermeidung des Fristablaufs bereits am eine Anhörung des Klägers durchzuführen.

361. Die Kündigungserklärungsfrist beginnt nach § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Dies ist der Fall, sobald er eine zuverlässige und hinreichend vollständige Kenntnis der einschlägigen Tatsachen hat, die ihm die Entscheidung darüber ermöglicht, ob er das Arbeitsverhältnis fortsetzen soll oder nicht. Zu den maßgebenden Tatsachen gehören sowohl die für als auch die gegen die Kündigung sprechenden Umstände ( - Rn. 18; - 6 AZR 720/15 - Rn. 61, BAGE 159, 192).

372. Die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB war zum Zeitpunkt des Eingangs des Zustimmungsantrags beim Integrationsamt mit Schreiben vom noch nicht wegen eines von der Beklagten unterlassenen Versuchs einer Anhörung des Klägers am abgelaufen.

38a) Allerdings hatte die Beklagte nach ihren eigenen Angaben bereits am Kenntnis davon, dass über das Telefon mit der Durchwahl 1780 im Zeitraum bis 1487 Mal die Glücksspiel-Hotline gewählt worden ist und über das Telefon mit der Durchwahl 1734 in dem genannten Zeitraum 1269 Mal.

39b) Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB begann am gleichwohl noch nicht zu laufen. Die Beklagte durfte zur weiteren Aufklärung der Sachlage zunächst eine Anhörung des Klägers und seines Kollegen abwarten. Nach dem vom Landesarbeitsgericht festgestellten Sachverhalt haben besondere Umstände vorgelegen, aufgrund derer die erst am 13. und durchgeführte Anhörung noch rechtzeitig gewesen sein kann.

40aa) Der Kündigungsberechtigte, der bislang nur Anhaltspunkte für einen Sachverhalt hat, der zur außerordentlichen Kündigung berechtigen könnte, kann nach pflichtgemäßem Ermessen weitere Ermittlungen anstellen und den Betroffenen anhören, ohne dass die Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB zu laufen begänne. Dies gilt allerdings nur so lange, wie er aus verständigen Gründen mit der gebotenen Eile Ermittlungen durchführt, die ihm eine umfassende und zuverlässige Kenntnis des Kündigungssachverhalts und der Beweismittel verschaffen sollen. Soll der Kündigungsgegner angehört werden, muss dies innerhalb einer kurzen Frist erfolgen. Sie darf im Allgemeinen nicht mehr als eine Woche betragen und nur bei Vorliegen besonderer Umstände überschritten werden. Für die übrigen Ermittlungen gilt keine Regelfrist. Bei ihnen ist fallbezogen zu beurteilen, ob sie hinreichend zügig betrieben wurden. Sind die Ermittlungen abgeschlossen und hat der Kündigungsberechtigte eine hinreichende Kenntnis vom Kündigungssachverhalt, beginnt der Lauf der Ausschlussfrist. Unbeachtlich ist, ob die Ermittlungsmaßnahmen tatsächlich zur Aufklärung des Sachverhalts beigetragen haben oder überflüssig waren (vgl.  - Rn. 23; - 6 AZR 720/15 - Rn. 66, BAGE 159, 192).

41bb) Die Beklagte durfte eine Anhörung des Klägers abwarten. Zwar war ihr nach eigenen Angaben seit dem bekannt, dass unter der Nebenstellennummer eines schnurlosen Telefons, das grundsätzlich dem Kläger zugeordnet war, in erheblichem Umfang eine Glücksspiel-Hotline angerufen worden war und - in ähnlichem Umfang - auch unter der dem Kollegen des Klägers zugeordneten Nebenstellennummer, der im maßgeblichen Zeitraum überwiegend arbeitsunfähig erkrankt war. Sie durfte es aber für erforderlich halten - auch zur Ermittlung etwaig entlastender Umstände - den Kläger hierzu anzuhören. Dabei durfte sie annehmen, dass dessen schriftliche Anhörung wegen einer dann möglichen Absprache mit dem gleichfalls noch verdächtigten Kollegen nicht zweckmäßig war, sondern allein eine Anhörung in einem Personalgespräch zeitnah mit der dann ebenfalls anstehenden Anhörung des Kollegen erfolgversprechend bei der Sachverhaltsaufklärung sein würde. Das wird im Ergebnis auch vom Landesarbeitsgericht nicht in Frage gestellt.

42cc) Die Beklagte hat zwischen dem Vorliegen der Auswertungen am (Freitag) und dem (Dienstag, ein Tag nach Arbeitsantritt des Klägers nach beendeter Arbeitsunfähigkeit), als das erste Personalgespräch durchgeführt wurde, allerdings keine Maßnahmen zur Ermittlung des Kündigungssachverhalts ergriffen, sondern ist untätig geblieben. Dies führte vorliegend aber nicht dazu, dass die Frist des § 626 Abs. 2 BGB als gesetzlich konkretisierter Verwirkungstatbestand ( - Rn. 23) spätestens am zu laufen begann, wie das Landesarbeitsgericht meint. Dabei hat es unberücksichtigt gelassen, dass es der Beklagten gerade auf eine unmittelbar aufeinander folgende Anhörung des Klägers und von dessen Kollegen ankam. Überdies hat die Beklagte die Anhörung des Klägers mit der gebotenen Eile durchgeführt. Während der zweiwöchigen krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des Klägers musste sie nicht an ihn herantreten, um eine mündliche oder schriftliche Stellungnahme zu dem Kündigungssachverhalt einzuholen.

43(1) Die unbestimmten Rechtsbegriffe der „gebotenen Eile“ bzw. der „besonderen Umstände“ unterliegen im Zusammenhang mit der Anhörung eines Arbeitnehmers nur einer eingeschränkten revisionsgerichtlichen Kontrolle. Das Revisionsgericht kann nur prüfen, ob das Berufungsgericht den unbestimmten Rechtsbegriff richtig erkannt, bei der Subsumtion des Einzelfalls beibehalten, nicht gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze verstoßen und alle erheblichen Umstände berücksichtigt hat.

44(2) Hieran fehlt es vorliegend. Das Landesarbeitsgericht hat bei der Auslegung und Anwendung der oben genannten Merkmale den Umstand der Arbeitsunfähigkeit des Klägers ab dem nicht ausreichend berücksichtigt. Die Beklagte war nicht gehalten, den Kläger vor Ende seiner Arbeitsunfähigkeit anzuhören. Ihre sich aus § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB ergebende Obliegenheit, mit der gebotenen Eile Ermittlungen durchzuführen, zu denen auch die Anhörung des Kündigungsgegners gehören kann (vgl.  - Rn. 54), kollidierte mit ihrer aus § 241 Abs. 2 BGB folgenden - und im konkreten Fall ausschlaggebenden - Pflicht, auf das Wohl und die berechtigten Interessen des betroffenen Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen und ihn vor Gesundheitsgefahren zu schützen (vgl.  - Rn. 29).

45(a) Eine schlichte Untätigkeit des Arbeitgebers reicht allerdings grundsätzlich nicht aus, um den Beginn des Laufs der Kündigungserklärungsfrist zu verhindern ( - Rn. 26).

46(b) Während der Dauer einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ist eine Kontaktaufnahme mit dem Arbeitnehmer aus Gründen der Rücksichtnahme auf dessen Genesungsprozesses nur begrenzt zulässig (zur Ausübung des Weisungsrechts  - Rn. 32, BAGE 157, 153). Der Arbeitgeber muss wegen seiner sich aus § 241 Abs. 2 BGB ergebenden Pflicht auf die Erkrankung des Arbeitnehmers Rücksicht nehmen und alles unterlassen, was dem Genesungsprozess abträglich war oder ggf. sogar eine Verschlechterung des Zustands herbeiführen konnte (vgl.  - Rn. 33).

47(c) Das Landesarbeitsgericht beruft sich in diesem Zusammenhang zu Unrecht auf die Entscheidung des - 10 AZR 596/15 - BAGE 157, 153). Dabei nimmt es nicht genügend in den Blick, dass sich diese nur zu Maßgaben verhält, was der Arbeitgeber im Rahmen seines Weisungsrechts vom Arbeitnehmer während dessen Erkrankung verlangen darf. Es verkennt zudem, dass wegen der Gefahr einer Beeinträchtigung des Genesungsprozesses und einer dadurch bedingten Verlängerung des krankheitsbedingten Ausfalls der Arbeitsleistung es die Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB gebietet, dem Arbeitgeber die Erteilung von Weisungen auf dringende betriebliche Anlässe zu beschränken und sich bezüglich der Art und Weise, der Häufigkeit und der Dauer der Inanspruchnahme am wohlverstandenen Interesse des Arbeitnehmers zu orientieren. Ist kein derartiger Anlass gegeben, hat der Arbeitgeber jegliche Weisung während der Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu unterlassen (vgl.  - Rn. 32 f., aaO). Deshalb ist schon der Anspruch des Arbeitgebers, ein „kurzes Personalgespräch“ zu führen, nur unter sehr eingeschränkten Möglichkeiten gegeben, wozu der Umstand gehört, dass das Gespräch nicht auf einen Zeitpunkt nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit aufschiebbar ist. Auch wenn diese Anforderungen erfüllt sind, ist der Arbeitgeber nur ausnahmsweise berechtigt, den erkrankten Arbeitnehmer anzuweisen, im Betrieb zu erscheinen. Dies kommt nur in Betracht, wenn die persönliche Anwesenheit des Arbeitnehmers im Betrieb dringend erforderlich ist und nicht bis nach der Genesung zugewartet werden kann (vgl.  - Rn. 34, aaO). Dass vorliegend für die Kontaktaufnahme ein dringender betrieblicher Anlass bestanden hat, der eine Kontaktaufnahme mit dem Kläger bereits im Verlauf der ersten oder zweiten Woche seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit gerechtfertigt hätte, ist vom Landesarbeitsgericht nicht festgestellt worden.

48(d) Für das Anlaufen der Frist des § 626 Abs. 2 BGB gelten bei Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers folgende Grundsätze.

49(aa) Der Arbeitgeber muss wegen seiner eingeschränkten Kontaktaufnahmemöglichkeit mit dem erkrankten Arbeitnehmer und dessen fehlender Verpflichtung, den Grund und die Auswirkungen seiner Arbeitsunfähigkeit mitzuteilen (vgl.  - zu C IV 2 der Gründe, BAGE 40, 361; ErfK/Oetker 20. Aufl. KSchG § 1 Rn. 121) regelmäßig nicht nachforschen, ob der Arbeitnehmer trotz Arbeitsunfähigkeit an einer Anhörung teilnehmen kann bzw. versuchen, ihn zu der Teilnahme an einer Anhörung zu bewegen (aA SPV/Preis 11. Aufl. Rn. 800; Eylert/Friedrichs DB 2007, 2203, 2206; Mennemeyer/Dreymüller NZA 2005, 382, 384, die eine Pflicht des Arbeitgebers annehmen aufzuklären, ob der Arbeitnehmer trotz Erkrankung in der Lage ist, sich einer Anhörung zu unterziehen; allein darauf abstellend, ob der Arbeitnehmer objektiv in der Lage ist, die erforderliche Aufklärung zu leisten, ohne eine Nachforschungspflicht des Arbeitgebers anzunehmen: KR/Fischermeier 12. Aufl. § 626 BGB Rn. 348; Däubler/Deinert/Zwanziger/Däubler KSchR 11. Aufl. § 626 BGB Rn. 337; MüKoBGB/Henssler 8. Aufl. § 626 Rn. 336).

50(bb) Andererseits kann der Arbeitgeber auch während einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit außerordentlich kündigen. Daher darf er, sofern er sich die Möglichkeit zur außerordentlichen Kündigung offenhalten will, auch im Fall der Erkrankung des Arbeitnehmers, nicht beliebig lang zuwarten, bis er versucht, mit diesem auch während der Arbeitsunfähigkeit die erforderliche Sachverhaltsaufklärung durchzuführen. Dies wäre mit dem Normzweck des § 626 Abs. 2 BGB nicht zu vereinbaren. Insoweit ist der Arbeitgeber nach einer angemessenen Frist gehalten, mit dem Arbeitnehmer Kontakt aufzunehmen, um zu klären, ob dieser gesundheitlich in der Lage ist, an der gebotenen Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken. Diese Anfrage kann der Arbeitgeber mit einer kurzen Erklärungsfrist verbinden. Wartet der Arbeitgeber, dem der Arbeitnehmer mitteilt, er könne sich wegen einer Erkrankung nicht, auch nicht schriftlich äußern, dessen Gesundung ab, um ihm eine Stellungnahme zu den Vorwürfen zu ermöglichen, liegen in der Regel hinreichende besondere Umstände vor, aufgrund derer der Beginn der Frist des § 626 Abs. 2 BGB entsprechend lange hinausgeschoben wird. Dem Arbeitgeber, der die Möglichkeit einer weiteren Aufklärung durch den Arbeitnehmer trotz der Zeitverzögerung nicht ungenutzt lassen möchte, wird regelmäßig nicht der Vorwurf gemacht werden können, er betreibe keine hinreichend eilige Aufklärung. Umgekehrt verletzt der Arbeitgeber in einem solchen Fall nicht notwendig seine vor einer Verdachtskündigung gegebene Aufklärungspflicht aus § 626 Abs. 1 BGB, wenn er von einem weiteren Zuwarten absieht. Ihm kann - abhängig von den Umständen des Einzelfalls - eine weitere Verzögerung unzumutbar sein. Das ist anzunehmen, wenn der Arbeitgeber davon ausgehen darf, der Arbeitnehmer werde sich in absehbarer Zeit nicht äußern (können) (vgl.  - Rn. 27 f.).

51(cc) Für die Dauer der „angemessenen“ Frist, binnen welcher der Arbeitgeber an den erkrankten Arbeitnehmer zur Klärung seiner Fähigkeit herantreten muss, an der Aufklärung des möglichen Kündigungssachverhalts mitzuwirken, bestehen keine starren Grenzen. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom (- 2 ABR 2/19 - Rn. 34; offengelassen von  - Rn. 26) einen Zeitraum von drei Wochen für die Kontaktaufnahme mit einer arbeitsunfähig erkrankten Zeugin wegen der Entbindung von einer Vertraulichkeitsvereinbarung noch als ausreichend angesehen und nicht beanstandet.

52(dd) Daran gemessen musste die Beklagte nicht vor dem Ende der zweiwöchigen Arbeitsunfähigkeit des Klägers an diesen herantreten, um zu klären, ob er gesundheitlich in der Lage ist, an der gebotenen Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken. Eine Pflicht der Beklagten, bereits früher Erkundigungen beim Kläger einzuholen, ob er auch während der Arbeitsunfähigkeit zu einem Personalgespräch in den Betrieb kommen kann, bestand umso weniger, als dies - wie ausgeführt - dem berechtigten Wunsch der Beklagten zuwidergelaufen wäre, den Kläger zur Vermeidung etwaiger Absprachen nicht frühzeitig über den gegen ihn bestehenden Verdacht in Kenntnis zu setzen.

53B. Das Landesarbeitsgericht hat ferner rechtsfehlerhaft der negativen Feststellungsklage des Klägers stattgegeben. Mit der gegebenen Begründung durfte es nicht annehmen, dass der Beklagten die mit Anschreiben vom geltend gemachte Forderung iHv. 1.913,62 Euro gegenüber dem Kläger nicht zusteht.

54I. Hinsichtlich des 1.435,24 Euro übersteigenden Betrags ist die negative Feststellungsklage mangels Feststellungsinteresses iSv. § 256 Abs. 1 ZPO bereits unzulässig, weshalb über deren Begründetheit insoweit nicht zu befinden war.

551. Ein rechtliches Interesse an einer alsbaldigen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses ist gegeben, wenn dem Recht oder der Rechtslage eine gegenwärtige Gefahr der Unsicherheit droht und das erstrebte Urteil geeignet ist, diese Gefahr zu beseitigen. Eine solche Gefährdung liegt in der Regel schon darin, dass der Beklagte sich eines Anspruchs gegen den Kläger berühmt (vgl.  - zu II 1 der Gründe).

562. Eine solche Gefährdung liegt hinsichtlich des 1.435,24 Euro übersteigenden Betrags nicht (mehr) vor.

57a) Die Beklagte hat vom Kläger zwar zunächst außergerichtlich mit Schreiben vom einen Betrag von 1.913,62 Euro verlangt, später aber einen Rechenfehler eingeräumt. Sie berühmt sich nunmehr noch eines Anspruchs von insgesamt 1.435,24 Euro. Der Kläger hat aber seine negative Feststellungsklage weder teilweise zurückgenommen noch teilweise für erledigt erklärt.

58b) Insoweit handelt es sich um eine andere Konstellation als im Fall des - IX ZR 38/91 - zu II 3 der Gründe), in dem die dortige Beklagte von ihrer ursprünglichen Geltendmachung nicht eindeutig abgerückt war. Vorliegend hat die Beklagte klar zum Ausdruck gebracht, dass der zuvor geltend gemachte Betrag auf einem Rechenfehler beruhe.

59II. Das Landesarbeitsgericht durfte im Übrigen mit der gegebenen Begründung die negative Feststellungsklage nicht als begründet ansehen, weil die Beklagte nicht den Nachweis erbracht habe, der Kläger habe die insgesamt 2756 unerlaubten Anrufe bei einer kostenpflichtigen Glücksspiel-Hotline getätigt oder zumindest die 109 Anrufe zu Zeiten, zu denen er der einzige eingestempelte Mitarbeiter mit Zugang zum Hausmeisterraum gewesen sein soll.

601. Zu Recht hat das Berufungsgericht zugrunde gelegt, dass die Beklagte für die Voraussetzungen des Anspruchs, dessen Bestehen der Kläger mit seiner negativen Feststellungsklage bestreitet, darlegungs- und beweispflichtig ist. Dabei ist von dem allgemeinen prozessualen Grundsatz auszugehen, dass jede Partei diejenigen Tatsachen darlegen und beweisen muss, aus denen sie ihren Anspruch herleitet. Den Anspruchsteller trifft daher die Beweislast für alle rechtsbegründenden Tatsachen, wobei es gleichgültig ist, in welcher Parteirolle er sich dabei befindet. Bei der negativen Feststellungsklage muss der Feststellungskläger deshalb lediglich beweisen, dass sich der Beklagte eines Anspruchs aufgrund eines bestimmten Lebenssachverhalts berühmt. Demgegenüber obliegt dem Anspruchsteller in der Rolle des Feststellungsbeklagten der Beweis derjenigen Tatsachen, aus denen er seinen Anspruch herleitet, denn auch bei der leugnenden Feststellungsklage ist - wenn auch mit umgekehrten Parteirollen - Streitgegenstand der materielle Anspruch, um dessen Nichtbestehen gestritten wird. Deshalb ist die Umkehr der Parteirollen bei der negativen Feststellungsklage auf die Darlegungs- und Beweislastverteilung ohne Einfluss (vgl.  - Rn. 35 mwN).

612. Das Landesarbeitsgericht hat an die Überzeugungsbildung in Bezug auf den von der Beklagten geltend gemachten Anspruch zu hohe Anforderungen gestellt und damit § 286 Abs. 1 ZPO verletzt.

62a) Eine Überzeugungsbildung iSd. § 286 Abs. 1 ZPO setzt nicht immer eine mathematisch lückenlose Gewissheit voraus. Selbst nach dem strengen Maßstab des § 286 ZPO bedarf es keines naturwissenschaftlichen Kausalitätsnachweises und auch keiner an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, vielmehr genügt ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der verbleibenden Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (vgl.  - Rn. 8). Das Gericht muss ggf. begründen, warum es Restzweifel nicht überwinden konnte. Insbesondere darf es das Nichterreichen eines ausreichenden Grads an Gewissheit nicht allein darauf stützen, es seien andere Erklärungen theoretisch denkbar (vgl.  - Rn. 36, BAGE 165, 255).

63b) Soll ein Vortrag mittels Indizien bewiesen werden, hat das Gericht zu prüfen, ob es die vorgetragenen Hilfstatsachen - deren Richtigkeit unterstellt - von der Wahrheit der Haupttatsache überzeugen. Es hat die insoweit maßgebenden Umstände vollständig und verfahrensrechtlich einwandfrei zu ermitteln und alle Beweisanzeichen erschöpfend zu würdigen. Dabei sind die Tatsacheninstanzen grundsätzlich frei darin, welche Beweiskraft sie den behaupteten Indiztatsachen im Einzelnen und in einer Gesamtschau beimessen. Revisionsrechtlich ist ihre Würdigung allein daraufhin zu überprüfen, ob alle Umstände vollständig berücksichtigt und Denk- und Erfahrungsgrundsätze nicht verletzt wurden. Um diese Überprüfung zu ermöglichen, haben sie nach § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO die wesentlichen Grundlagen ihrer Überzeugungsbildung nachvollziehbar darzulegen ( - Rn. 24; - 2 AZR 57/17 - Rn. 38, BAGE 160, 221; - 2 AZR 85/15 - Rn. 35). Dies erfordert zwar keine ausdrückliche Auseinandersetzung mit allen denkbaren Gesichtspunkten. Die Urteilsgründe müssen aber erkennen lassen, dass überhaupt eine sachentsprechende Beurteilung stattgefunden hat (vgl.  - Rn. 29; - 8 AZR 655/13 - Rn. 40, BAGE 149, 47;  - Rn. 18). Es genügt daher nicht, allein durch formelhafte Wendungen ohne Bezug zu den konkreten Fallumständen zum Ausdruck zu bringen, das Gericht sei von der Wahrheit einer Tatsache überzeugt oder nicht überzeugt (vgl.  - zu I 4 a der Gründe; - III ZR 295/98 - zu II 2 b aa der Gründe).

64c) Diesen Anforderungen wird die Würdigung des Landesarbeitsgerichts nicht gerecht.

65aa) Es hat ausgeführt, die Beklagte habe nur Verdachtsindizien benannt, denn bei keinem der Telefonanrufe habe jemand den Kläger gesehen und/oder gehört. Auch der Umstand, dass der Kläger bei 109 Telefonanrufen der einzige zu diesem Zeitpunkt eingestempelte Mitarbeiter mit Zutrittsberechtigung zum Hausmeisterraum gewesen sei, belege nicht, dass er die Anrufe getätigt habe. Die Überlegung, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich ein anderer Mitarbeiter frühmorgens ohne einzustempeln Zutritt zum Hausmeisterraum verschafft habe, bezeichnet das Landesarbeitsgericht allerdings selbst als „spekulativ“.

66bb) Dabei begründet das Berufungsgericht nicht, warum es Restzweifel nicht überwinden konnte, obwohl jedenfalls bei den 109 Telefonanrufen alles für eine „Täterschaft“ des Klägers spricht und es deshalb auch naheliegt, dass er die anderen Anrufe getätigt hat. Insbesondere hat das Landesarbeitsgericht das Nichterreichen eines ausreichenden Grads an Gewissheit allein darauf gestützt, dass eine andere Erklärung theoretisch denkbar sei. Ferner hat es den Vortrag der Beklagten nicht gewürdigt, dass kein Anruf außerhalb der Anwesenheitszeit des Klägers getätigt worden sei und die Glücksspiel-Hotline ab dem nicht mehr angerufen wurde, nachdem der Kläger arbeitsunfähig erkrankte.

673. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine rechtsfehlerfreie Würdigung aller relevanten Umstände die tatrichterliche Überzeugung von der Begehung der Tat durch den Kläger und dem Bestehen der von der Beklagten geltend gemachten Ansprüche erbringt. Die erforderliche Würdigung der Indiztatsachen kann der Senat nicht selbst vornehmen (vgl.  - Rn. 29; - 8 AZR 483/09 - Rn. 40; - 8 AZR 1012/08 - Rn. 83).

68C. Der Rechtsstreit ist an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Im fortgesetzten Berufungsverfahren wird es insbesondere zu prüfen haben, ob ein wichtiger Grund für die außerordentliche Kündigung iSv. § 626 Abs. 1 BGB vorlag und der Betriebsrat nach § 102 BetrVG bzw. die Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 2 SGB IX ordnungsgemäß angehört bzw. beteiligt wurden, was es bislang - nach seiner Begründungslinie konsequent - unterlassen hat. Darüber, ob die Beklagte - unabhängig von der Frage der Anhörung des Klägers - die Ermittlungen im Übrigen mit der gebotenen Eile betrieben hat, ist nach Maßgabe der Ausführungen in Rn. 31 ff. im fortgesetzten Berufungsverfahren nicht mehr zu befinden. Ferner wird das Landesarbeitsgericht hinsichtlich der negativen Feststellungsklage zu prüfen haben, ob die von der Beklagten geschilderten Umstände bezüglich der Telefonanrufe bei zutreffender Anwendung des § 286 Abs. 1 ZPO den Schluss zulassen, dass ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit besteht, der verbleibenden Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen, dass der Kläger sie geführt hat. Dies erscheint jedenfalls nach seinen bisherigen Feststellungen naheliegend. Ferner wird das Berufungsgericht ggf. den Parteien Gelegenheit zu geben haben, betreffend den unzulässigen Teil der negativen Feststellungsklage, prozessuale Erklärungen abzugeben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0

Fundstelle(n):
BB 2020 S. 2227 Nr. 40
NJW 2020 S. 10 Nr. 42
NJW 2020 S. 3546 Nr. 48
GAAAH-58814