BVerwG Urteil v. - 2 WD 10/19

Entfernung aus dem Dienstverhältnis wegen 14-fachen Kindesmissbrauch

Leitsatz

1. Die Bindung der Wehrdienstgerichte an die Anschuldigungsschrift gilt grundsätzlich nicht hinsichtlich der Umstände, die für die Bemessung der Disziplinarmaßnahme von Bedeutung sind.

2. Das Bedürfnis einer disziplinaren Ahndung eines außerdienstlichen Dienstvergehens nimmt mit zunehmendem Zeitablauf nicht erheblich ab, wenn noch keine strafrechtliche Verjährung eingetreten ist.

Gesetze: § 123 S 3 WDO 2002, § 107 Abs 1 WDO 2002, § 16 WDO 2002, § 16 Abs 3 S 1 WDO 2002, § 84 Abs 1 S 1 WDO 2002, § 84 Abs 1 S 2 WDO 2002, § 58 Abs 7 WDO 2002, § 38 Abs 1 WDO 2002, § 17 Abs 2 WDO 2002, § 3 WDO 2002, § 4 WDO 2002, § 115 Abs 2 WDO 2002, § 63 Abs 3 S 1 WDO 2002, § 23 Abs 1 SG, § 17 Abs 2 S 2 § 10 SG, § 176 Abs 1 StGB, § 20 StGB, § 21 StGB, § 46a Nr 1 StGB, § 49 Abs 1 Nr 3 StGB, § 78 Abs 3 Nr 3 StGB, § 78b Abs 1 Nr 1 StGB

Instanzenzug: Truppendienstgericht Süd Az: S 3 VL 16/17 Urteil

Tatbestand

1Das disziplinarrechtliche Berufungsverfahren betrifft den Vorwurf des 14-fachen Kindesmissbrauchs zwischen 2001 und 2007.

21. Der 50-jährige Soldat wuchs in einem SOS-Kinderdorf und ab dem 12. Lebensjahr bei seiner dortigen Pflegemutter außerhalb des Kinderdorfs auf, von der er mit ca. 20 Jahren adoptiert wurde. Er war als Kind sexuellen Übergriffen eines älteren Pflegebruders ausgesetzt. Nach dem Abitur wurde er 1989 Sanitätsoffizier-Anwärter, absolvierte die Grundausbildung, den Offizierslehrgang und ein Medizinstudium, wurde promoviert und approbiert.

3Ab 1999 war er Truppenarzt ..., von September 2001 bis Ende 2004 Weiterbildungsassistent ..., dabei seit Juli 2003 zudem Fliegerarzt. Ende 2003 wurde er Berufssoldat. 2004 wurde er als Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde anerkannt. Von 2005 bis 2008 war er Personaldezernent .... Es folgten Verwendungen als Grundsatzreferent und beratender Arzt im Bundesministerium der Verteidigung, als Kommandeur ..., als Chef des Stabes und der G3-Abteilung ... und - nach einem "Intensivstudium Gesundheitsökonom" - als Leiter des Referates "..." im Kommando ... Der Soldat wurde regelmäßig befördert, u.a. 2000 zum Oberstabsarzt, 2004 zum Oberfeldarzt und zuletzt 2012 zum Oberstarzt. Im Oktober 2015 wurde er ... versetzt, wo er für einen förderlichen Dienstposten des Direktors für Lehre und Ausbildung (B 3) vorgesehen war.

4Ende 2015 wurde ihm die Dienstausübung untersagt und er wurde auf ein dienstpostenähnliches Konstrukt (A 16) versetzt. Im Februar 2016 wurde er unter hälftiger Bezügeeinbehaltung vorläufig des Dienstes enthoben.

5Mit rechtskräftigem Urteil vom verhängte das Amtsgericht ... gegen ihn im sachgleichen Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von vier Kindern in 14 Fällen zwischen 2001 und 2007 eine Gesamtfreiheitsstrafe von 11 Monaten und drei Wochen auf Bewährung und erteilte ihm die Auflage, 5 000 € an den Kinderschutzbund ... zu zahlen. Vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs eines fünften Jungen im Jahr 2012 wurde er freigesprochen, weil der Betroffene zum Tatzeitpunkt knapp über 14 Jahre alt war.

6Die vorläufige Dienstenthebung und die hälftige Bezügeeinbehaltung wurden im Februar 2017 aufgehoben und der Soldat wurde als Beauftragter des Inspekteurs ... eingesetzt. Im April 2017 wurde er ohne Bezügeeinbehaltung erneut vorläufig des Dienstes enthoben.

7Der Soldat ist seit Ende 2018 ... Er hat keine Kinder. ... Er hat seine wirtschaftlichen Verhältnisse als geordnet bezeichnet.

82. Nach ordnungsgemäßer Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens schuldigte die Wehrdisziplinaranwaltschaft den Soldaten am beim Truppendienstgericht einer vorsätzlichen Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht durch folgende Taten an:

"1. Der Soldat fasste zu nicht näher bestimmbaren Zeitpunkten in den Jahren 2001 bis 2003 den am geborenen A insgesamt zehn Mal in der Wohnung der Familie A in ... teils beim gemeinsamen Baden, teils im Bett an dessen Penis an, wobei er in einer nicht näher bestimmbaren Anzahl hiervon A dazu bewegen konnte, auch das Glied des Soldaten anzufassen, um ihn zum Orgasmus zu bringen.

2. Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt im Jahr 2003 fasste der Soldat dem damals 13jährigen B in der Einliegerwohnung der Familie B ... an das nackte Geschlechtsteil, um daran herumzuspielen.

3. In der Nacht vom 11. auf den strich der Soldat in seiner Wohnung ... dem damals 13jährigen C über dessen von einer Boxershort bedecktes Glied. Nachdem der Geschädigte C zunächst von einer unabsichtlichen Handbewegung ausging und aus seinem Arm und der Bettdecke eine Barriere bildete, durchbrach der Soldat diese und strich erneut über dessen durch die Boxershort bedecktes Geschlechtsteil.

4. Der Soldat fasste zu nicht näher bestimmbaren Zeitpunkten in den Jahren 2006 und 2007 in seiner Wohnung ... sowie bei Familie D in ... insgesamt zwei Mal den damals 11 Jahre alten D an dessen Geschlechtsteil und ließ sich dabei auch vom Geschädigten an sein Geschlechtsteil fassen und befriedigen."

9Mit Urteil vom hat das Truppendienstgericht den Soldaten aus dem Dienstverhältnis entfernt. Die Vorwürfe seien in tatsächlicher Hinsicht aufgrund der Feststellungen im rechtskräftigen Strafurteil erwiesen. Der Soldat habe dadurch vorsätzlich seine außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht und - weil B Sohn eines seinerzeitigen Kameraden sei - insoweit zudem vorsätzlich seine Kameradschaftspflicht verletzt. Auf Grund des gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachtens sei auch unter Berücksichtigung eines vom Soldaten vorgelegten Gegengutachtens nicht von einer verminderten Schuldfähigkeit zu den Tatzeitpunkten auszugehen. Das Dienstvergehen wiege außerordentlich schwer. Es habe sich von 2001 bis 2007 erstreckt und der Soldat habe sich in mindestens 14 Fällen des Kindesmissbrauchs schuldig gemacht. Das Dienstvergehen habe sich nicht nur jedenfalls auf das Opfer C, sondern wegen der vorläufigen Dienstenthebungen auch für den Dienstherrn erheblich negativ ausgewirkt. Das Bekanntwerden der Taten bei den Strafverfolgungsbehörden sowie bei Außenstehenden durch Medien gehe ebenfalls zu Lasten des Soldaten. Durch den wiederholten Missbrauch mehrerer Kinder sowie des Vertrauensverhältnisses zu deren Eltern habe er sich in außerordentlichem Maße als Soldat und Vorgesetzter disqualifiziert. Da er sogar das Vertrauen der Familie eines Kameraden erschlichen und zum Missbrauch von dessen Kind ausgenutzt habe, sei die Höchstmaßnahme unumgänglich. Dass sich der Soldat ansonsten tadelfrei geführt, überragende dienstliche Leistungen erbracht und sich nachbewährt habe, könne ebenso wenig wie der Täter-Opfer-Ausgleich und das lange Zurückliegen des Dienstvergehens zum Absehen von der Höchstmaßnahme führen.

103. Mit seiner unbeschränkten Berufung macht der Soldat im Wesentlichen geltend, er habe im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit gehandelt. Der gerichtlich bestellte Sachverständige habe seine problematische Kindheit nicht hinreichend gewürdigt. Zu folgen sei dem von ihm beauftragten Gutachter, demzufolge er an einer Persönlichkeitsstörung gelitten und im Zustand eingeschränkter Steuerungsfähigkeit gehandelt habe. Das Truppendienstgericht habe ferner den Umstand, dass ein Opfer Sohn eines Kameraden sei, doppelt gewertet: zum einen bei der Feststellung eines Verstoßes gegen die Kameradschaftspflicht, zum anderen maßnahmeverschärfend. Sein opferschonendes Vorgehen, sein Geständnis, seine Reue, der Täter-Opfer-Ausgleich, die durchlaufene Therapie, die günstige Sozialprognose, seine überragenden dienstlichen Leistungen einschließlich seiner Nachbewährung und der ihm entgangene B3-Dienstposten seien unzureichend berücksichtigt worden. Da die Taten sehr lange zurücklägen, sei das Vertrauensverhältnis zum Dienstherrn nicht zerstört. Im Strafverfahren sei ihm der Status eines Berufssoldaten belassen worden.

11Die Wehrdisziplinaranwaltschaft ist dem entgegengetreten. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hat zudem einen Ausschluss des Unterhaltsbeitrags beantragt.

124. In der Berufungshauptverhandlung sind zur Klärung der Schulfähigkeit des Soldaten der vom Truppendienstgericht bestellte Sachverständige und der vom Soldaten beauftragte Gutachter vernommen worden. Hinsichtlich der Einzelheiten zur Person des Soldaten, zur Anschuldigung, zum truppendienstgerichtlichen Verfahren und zur Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung wird auf das Urteil des Truppendienstgerichts und das Protokoll der Berufungshauptverhandlung verwiesen. Zu den im Berufungsverfahren eingeführten Urkunden und Vernehmungsprotokollen wird auf das Protokoll der Berufungshauptverhandlung Bezug genommen.

Gründe

13Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Truppendienstgericht hat den Soldaten zu Recht aus dem Dienstverhältnis entfernt.

141. Da der Soldat die Berufung in vollem Umfang eingelegt hat, hat der Senat im Rahmen der Anschuldigung aufgrund eigener Tat- und Schuldfeststellungen über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden.

15Gemäß § 123 Satz 3 WDO i.V.m. § 107 Abs. 1 WDO dürfen zum Gegenstand der Urteilsfindung nur solche Pflichtverletzungen gemacht werden, die dem Soldaten in der Anschuldigungsschrift als Dienstvergehen zur Last gelegt wurden. Dies ist ausschließlich eine Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht durch die angeschuldigten 14 Taten zu Lasten der vier genannten Kinder.

16Nicht angeschuldigt worden ist eine Verletzung auch der Kameradschaftspflicht durch die Tat zu Lasten des B. Der einem Soldaten gegenüber erhobene Vorwurf muss in der Anschuldigungsschrift so deutlich und klar sein, dass dieser sich in seiner Verteidigung darauf einstellen kann. Dazu genügt es nicht, einen historischen Geschehensablauf zu schildern, ohne hinreichend präzise erkennen zu lassen, welche "Pflichtverletzungen ... dem Soldaten als Dienstvergehen zur Last gelegt werden" (vgl. § 107 Abs. 1 WDO). Die Darlegung eines konkreten und nachvollziehbaren Geschehensablaufs hinsichtlich des zur Last gelegten Verhaltens muss zu dem daraus abgeleiteten Vorwurf einer oder mehrerer Dienstpflichtverletzung(en) in Beziehung gesetzt werden. Entscheidend ist, dass in der konkreten Verknüpfung zwischen der Darlegung des historischen Geschehensablaufs und den daraus vom Wehrdisziplinaranwalt gezogenen Schlussfolgerungen der von diesem erhobenen Vorwurf deutlich wird (vgl. 2 WD 7.05 - Buchholz 450.2 § 107 WDO 2002 Nr. 2 Rn. 32 m.w.N.). Hier ist in der Anschuldigungsschrift weder die Kameradschaftspflicht erwähnt noch, dass B Sohn eines Kameraden des Soldaten ist. Dem entspricht, dass ausdrücklich nur eine Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht angeschuldigt worden ist.

17Ebenso wenig angeschuldigt worden ist als sog. disziplinarer Überhang (vgl. § 16 Abs. 3 Satz 1 WDO) eine Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht durch den im Zusammenhang mit einem Bundeswehrpraktikum stehenden, mutmaßlichen sexuellen Übergriff gegenüber eines fünften Jungen im Jahr 2012, hinsichtlich dessen der Soldat rechtskräftig freigesprochen wurde, weil der Betroffene zum Tatzeitpunkt knapp über 14 Jahre alt war.

182. In tatsächlicher Hinsicht sind die Anschuldigungen objektiv und subjektiv erwiesen. Insoweit ist der Senat gemäß § 123 Satz 3 i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO an die tatsächlichen Feststellungen gebunden, die das Amtsgericht ... im sachgleichen Strafverfahren mit rechtskräftigem Urteil vom getroffen hat. Es bestand kein Anlass, nach § 123 Satz 3 i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz 2 WDO die nochmalige Prüfung dieser Feststellungen zu beschließen, weil an ihrer Richtigkeit keine hinreichenden Zweifel bestehen. Die Feststellungen sind in sich widerspruchsfrei und werden durch die vom Amtsgericht ... protokollierten Aussagen des Soldaten und der Opfer getragen.

193. In rechtlicher Hinsicht liegt ein Dienstvergehen nach § 23 Abs. 1 SG vor. Nach § 17 Abs. 2 Satz 2 SG in der zu den Tatzeitpunkten geltenden Fassung hat sich ein Soldat außer Dienst und außerhalb der dienstlichen Unterkünfte und Anlagen so zu verhalten, dass er das Ansehen der Bundeswehr oder die Achtung und das Vertrauen, die seine dienstliche Stellung erfordert, nicht ernsthaft beeinträchtigt. Eine ernsthafte Beeinträchtigung ist regelmäßig anzunehmen, wenn eine Straftat begangen wird, die zumindest mit einer Freiheitsstrafe im mittleren Bereich sanktioniert werden kann (vgl. 2 WD 21.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 65 Rn. 19). Der sexuelle Missbrauch von Kindern kann mit einer Freiheitsstrafe im hohen Bereich sanktioniert werden. § 176 Abs. 1 StGB in der für den Tatzeitraum geltenden Fassungen sieht im Regelfall eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren vor.

204. Bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme ist von der von Verfassungs wegen allein zulässigen Zwecksetzung des Wehrdisziplinarrechts auszugehen, einen ordnungsgemäßen Dienstbetrieb zu gewährleisten. Ziel des Wehrdisziplinarrechts ist es, die Integrität, das Ansehen und die Disziplin in der Bundeswehr aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen ( 2 WD 21.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 65 Rn. 23). Bei Art und Maß der zu verhängenden Disziplinarmaßnahme sind nach § 58 Abs. 7 i.V.m. § 38 Abs. 1 WDO Eigenart und Schwere des Dienstvergehens und seine Auswirkungen, das Maß der Schuld, die Persönlichkeit, die bisherige Führung und die Beweggründe des Soldaten zu berücksichtigen. Bei der konkreten Bemessung der Disziplinarmaßnahme legt der Senat ein zweistufiges Prüfungsschema zugrunde:

21a) Auf der ersten Stufe bestimmt er zwecks Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle sowie im Interesse der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die in Rede stehende Fallgruppe als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen. Dabei entspricht es der Rechtsprechung des Senats, dass ein Soldat durch den bereits einmaligen sexuellen Missbrauch eines Kindes für die Bundeswehr im Grundsatz untragbar wird. Dieser wiegt in der Regel so schwer, dass der Soldat das in ihn gesetzte Vertrauen seines Dienstherrn endgültig verloren hat und diesem bei objektiver Betrachtung eine Fortsetzung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann, der Soldat also aus dem Dienstverhältnis zu entfernen ist (vgl. 2 WD 15.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 63 Rn. 20 m.w.N.).

22b) Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob im Einzelfall im Hinblick auf die Bemessungskriterien des § 38 Abs. 1 WDO und die Zwecksetzung des Wehrdisziplinarrechts Umstände vorliegen, die es gebieten, von der im Regelfall vorgesehenen Höchstmaßnahme abzuweichen und - wie von der Verteidigung gefordert - eine mildere Maßnahme in Form der Degradierung zu ergreifen. Dies ist hier nicht der Fall, weil den für eine mildere Ahndung sprechenden Aspekten in gleichem Umfang erschwerende Umstände entgegenstehen. Für den Soldaten sprechen zwar insbesondere seine vorbildliche dienstliche Führung, sein fachlicher und militärischer Werdegang und sein Nachtatverhalten. Gegen ihn sprechen aber die besondere Schwere der Pflichtverletzung, die vorsätzliche, eigennützige und voll schuldfähige Begehung sowie die Folgen der Taten.

235. Im Einzelnen gilt für die Bemessungskriterien nach § 38 Abs. 1 WDO Folgendes:

24a) Das Dienstvergehen wiegt nach Eigenart und Schwere, die sich nach dem Unrechtsgehalt der Verfehlungen, d. h. nach der Bedeutung der verletzten Dienstpflichten bestimmen, außerordentlich schwer.

25Der Soldat hat in gravierender Weise wiederholt gegen seine außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht verstoßen. Zwar bewegen sich die Übergriffe ihrer Intensität nach im weniger schweren Bereich des Kindesmissbrauchs. Jedoch hat der Soldat nicht nur einen, sondern 14 Fälle des Kindesmissbrauchs begangen. Seine Taten erstreckten sich zudem über viele Jahre. Er ist nicht nur auf ein, sondern auf vier Kinder sexuell übergriffig geworden. Im Fall des C tritt erschwerend hinzu, dass er mit dem damals erst 13-jährigen Opfer vor der Tat Alkohol konsumierte.

26Die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht ist keine bloße Nebenpflicht, sondern hat funktionalen Bezug zur Erfüllung des grundgesetzmäßigen Auftrags der Streitkräfte und zur Gewährleistung des militärischen Dienstbetriebs. Wer durch derart schwerwiegende Straftaten im außerdienstlichen Bereich Achtung und Vertrauen, die seine dienstliche Stellung erfordern, ernsthaft beeinträchtigt, gefährdet damit auch die Voraussetzungen seiner Verwendungsfähigkeit und beeinträchtigt den Ablauf des militärischen Dienstes (vgl. 2 WD 10.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 57 Rn. 23). Durch den strafbaren sexuellen Missbrauch von Kindern durch einen Soldaten, der als Teil der staatlichen Gewalt die Würde des Menschen zu achten und zu schützen hat (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) und insbesondere Schwächere schützen und verteidigen soll, wird das Vertrauen, das der Dienstherr in die Selbstbeherrschung, Zuverlässigkeit und moralische Integrität des Soldaten setzt, zutiefst erschüttert.

27Erschwerend wiegt, dass der Soldat aufgrund seiner damaligen Dienstgrade als Oberstabsarzt und Oberfeldarzt eine Vorgesetztenstellung innehatte. Denn ein Vorgesetzter soll nach § 10 SG in Haltung und Pflichterfüllung ein Beispiel geben. Wer in dieser Stellung seine Dienstpflichten verletzt, gibt ein besonders schlechtes Vorbild ab. Dies gilt auch bei außerdienstlichem strafbarem Fehlverhalten (vgl. 2 WD 3.18 - BVerwGE 163, 16 <22> Rn. 62, vom - 2 WD 22.18 - juris Rn. 24 und vom - 2 WD 21.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 65 Rn. 28).

28b) Die Schuld des Soldaten wird vor allem durch sein vorsätzliches Handeln bestimmt. Milderungsgründe in den Umständen der Tat oder in der Person des Soldaten liegen nicht vor.

29Insbesondere war der Soldat zu den Tatzeitpunkten uneingeschränkt schuldfähig. Dass seine Schuldfähigkeit nicht nach § 20 StGB ausgeschlossen war, ergibt sich bereits aus den bindenden Feststellungen des rechtskräftigen Urteils des Amtsgerichts ... Auf der Grundlage des in der Berufungshauptverhandlung erstatteten Gutachtens des vom Truppendienstgericht bestellten Sachverständigen Dr. E steht zur Überzeugung des Senats ferner fest, dass der Soldat die Taten auch nicht im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit i.S.d. § 21 StGB beging.

30(1) Die richterliche Entscheidung, ob i.S.d. § 21 StGB die Fähigkeit des Soldaten, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe zum Zeitpunkt des Dienstvergehens erheblich vermindert war, erfolgt mehrstufig. Zunächst ist festzustellen, ob bei dem Soldaten zu den Tatzeitpunkten eine psychische Störung vorlag, die ein solches Ausmaß erreichte, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Begehung der Taten beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist das Gericht jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds ebenso wie bei der Prüfung der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit um vom Gericht zu beantwortende Rechtsfragen (vgl. - NStZ-RR 2019, 170 m.w.N.). Lässt sich nach erschöpfender Sachaufklärung ohne vernünftigen Zweifel ein Sachverhalt nicht ausschließen, der eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit ergibt, ist dieser Gesichtspunkt zugunsten des Soldaten in die Gesamtwürdigung einzustellen (vgl. 2 WD 21.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 65 Rn. 32 m.w.N.).

31(2) Ausgehend davon ist ohne vernünftige Zweifel auszuschließen, dass der Soldat zu den Tatzeitpunkten an einer psychischen Störung von einem solchen Ausmaß litt, dass sie unter das allein in Betracht kommende Eingangsmerkmal einer anderen seelischen Abartigkeit i.S.d. § 20 StGB fällt.

32(a) Eine derartige Störung ist nicht in der von beiden Sachverständigen mit nachvollziehbaren Erläuterungen beim Soldaten diagnostizierten "Pädophilie, sexuell orientiert auf Jungen, nicht ausschließlicher Typus (ICD-10: F 65.4)" zu sehen. Ein abweichendes Sexualverhalten kann nicht ohne weiteres mit einer schweren anderen seelischen Abartigkeit i.S.d. § 20 StGB gleichgesetzt werden. Eine Pädophilie kann im Einzelfall eine schwere andere seelische Abartigkeit und eine hierdurch beeinträchtigte Steuerungsfähigkeit begründen, wenn Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz der devianten Handlungen, Ausbau des Raffinements und gedankliche Einengung des Täters auf diese Praktik auszeichnen. Ob die sexuelle Devianz in Form einer Pädophilie einen solchen Ausprägungsgrad erreicht, der dem Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit zugeordnet werden kann, ist aufgrund einer Gesamtschau der Täterpersönlichkeit und seiner Taten zu beurteilen. Dabei kommt es darauf an, ob die sexuellen Neigungen die Persönlichkeit des Täters so verändert haben, dass er nicht die zur Bekämpfung seiner Triebe erforderlichen Hemmungen aufzubringen vermag (vgl. - NStZ-RR 2019, 168 m.w.N.).

33Diese Voraussetzungen lagen beim Soldaten zu den Tatzeitpunkten nicht vor. Zwar liefen seine Übergriffe nach einem gleich bleibenden Muster ab. Der Sachverständige Dr. E hat aber überzeugend dargelegt, dass beim Soldaten im Tatzeitraum keine progrediente Zunahme und Überflutung durch dranghafte paraphile Impulse mit ausbleibender Befriedigung festzustellen sei. Vielmehr verteilten sich die 14 Taten, die sich jeweils aus einer vorbestehenden freundschaftlichen und vertrauensvollen Beziehung zu den Kindern entwickelten, die vom Soldaten langsam erotisiert wurden, auf sechs Jahre. Für ein dabei immer ausgefeilteres Raffinement ist nichts ersichtlich. Der Soldat war auf die konkreten Praktiken gedanklich nicht eingeengt, weil seine Sexualstruktur nicht überwiegend durch die paraphile Neigung bestimmt wurde. Auch hat der Soldat die zur Bekämpfung seiner Triebe erforderlichen Hemmungen aufzubringen vermocht. Dr. E hat hierzu nachvollziehbar anhand von Beispielen ausgeführt, dass sich der Soldat bei der Anbahnung der Kontakte Zeit ließ, vorsichtig und einfühlsam mit den Opfern umging und immer in der Lage war, mit den Übergriffen aufzuhören, wenn die Kinder Ablehnung signalisierten oder Enttarnung drohte.

34Soweit demgegenüber Dr. F darauf verwiesen hat, dass sich die Taten im familiär-häuslichen Kontext ereignet hätten, was wegen der damit verbundenen Entdeckungsgefahr durch die Eltern für ein unkontrolliertes Handeln spreche, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Der Soldat ist nie ein besonders hohes Risiko eingegangen. Die Tat zu Lasten des B ereignete sich in einer Einliegerwohnung, diejenige zum Nachteil des C sowie eine der beiden Taten betreffend D in der Wohnung des Soldaten. Zudem genoss der Soldat das vollste Vertrauen der Eltern.

35(b) Eine psychische Störung vom Ausmaß einer anderen seelischen Abartigkeit i.S.d. § 20 StGB bestand auch nicht in der vom Sachverständigen Dr. F diagnostizierten "gemischten Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und dependenten Anteilen" (ICD-10: F 61). Eine solche Persönlichkeitsstörung liegt schon deswegen nicht vor, weil - wie der Sachverständige Dr. E zutreffend ausgeführt hat - dies eine Beeinträchtigung in mehreren Lebensbereichen voraussetzen würde. Beim Soldaten ist jedoch nur eine sexuelle Orientierungsstörung feststellbar. Für die Beurteilung dieser Frage fehlt es dem gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. E auch nicht deswegen an der notwendigen Expertise, weil er über keine psychotherapeutische Ausbildung verfügt.

36Es liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters, ob er zur Beurteilung der Schuldfähigkeit einen Psychiater oder einen Psychologen zuzieht. Denn im Regelfall besitzt auch der Psychiater die hierfür erforderliche Sachkunde (vgl. - NStZ 1990, 400 <401>). Dies gilt insbesondere für den Sachverständigen Dr. E, der als Facharzt für Psychiatrie mit dem Schwerpunkt Forensische Psychiatrie und als früherer Chefarzt der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie ... für die Begutachtung wissenschaftlich qualifiziert ist und über langjährige Erfahrungen verfügt (so bereits 2 WD 20.13 - juris Rn. 33).

37Im Übrigen wäre die Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung noch nicht mit der "schweren anderen seelischen Abartigkeit" in § 20 StGB gleichzusetzen. Vielmehr sind insoweit der Ausprägungsgrad der Störung und der Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit entscheidend (vgl. - NStZ-RR 2019, 334 <335> m.w.N.). Maßgeblich ist im Allgemeinen, ob sie Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Betroffenen vergleichbar schwer und mit ähnlichen - auch sozialen - Folgen stören, belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen (vgl. - juris Rn. 11 m.w.N.). Es kommt darauf an, ob es im Alltag außerhalb der angeschuldigten Tat zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist (vgl. - NStZ-RR 2017, 176 <177> Rn. 16 m.w.N.).

38Der Senat teilt die Einschätzung von Dr. E, dass dies beim Soldaten nicht der Fall war. Der Soldat war vielmehr kontaktfreudig, sozial gut integriert und anpassungsfähig. Er kam im beruflichen Alltag bestens zurecht, unternahm zahlreiche Freizeitaktivitäten mit befreundeten Familien, ging gemeinschaftlichen sportlichen Aktivitäten ... nach und war aktives Mitglied in einem ...club. Dass er nach jahrelangen "Alibi-Beziehungen" mit Frauen erst im Alter von 37 Jahren eine ihn befriedigende mehrjährige Beziehung zu einem erwachsenen Mann einging und sich erst dadurch zunächst als homosexuell und später als bisexuell wahrnahm, begründet keine schwere seelische Abartigkeit.

39(c) Ungeachtet dessen war die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Soldaten zu den Tatzeitpunkten nicht infolge seiner Pädophilie und einer etwaigen zusätzlichen Persönlichkeitsstörung erheblich vermindert.

40Die Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit kann - von offenkundigen Ausnahmefällen abgesehen - nur in Bezug auf die konkrete Tat erfolgen. Beurteilungsgrundlage ist das jeweilige Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass zur Tat, die Motivlage und das Verhalten nach der Tat von Bedeutung sein können (vgl. - juris Rn. 10 m.w.N.).

41Ausgehend davon war der Soldat, der nach eigenen Angaben bei seinen Taten wusste, dass er sich falsch verhielt, uneingeschränkt einsichtsfähig, wovon auch beide Sachverständige übereinstimmend ausgehen.

42Der Senat hat auch in Ansehung der Ausführungen beider Sachverständigen durchgreifende Zweifel daran, dass der Soldat - wie der Sachverständige Dr. F vorgetragen hat - aufgrund einer neurotischen Zwangsstörung bei seinen Taten in der Steuerungsfähigkeit eingeschränkt war. Zwar konnte der Senat mit Blick auf die problematische Kindheit des Soldaten die Erläuterungen von Dr. F zur distalen Ursache für eine Persönlichkeitsstörung gut nachvollziehen. Hingegen haben ihn dessen Ausführungen, dass mit dem Eintritt des Soldaten in das Berufsleben auch die proximale Ursache für eine Persönlichkeitsstörung vorlag, weil der Soldat habe mitansehen müssen, wie Gleichaltrige zu einem geordneten Familien- und Sexualleben gefunden hätten, während er insoweit keine Fortentwicklung durchlaufen hätte, was zu zwanghaften und stereotyp verlaufenden Täter-Opfer-Umkehr-Handlungen wegen der selbst erlittenen sexuellen Übergriffe geführt habe, nicht überzeugt. Auch wenn eine Täter-Opfer-Umkehr nicht zu einer exakten "1:1-Wiederholung" der als Opfer erlittenen Handlungen führen muss, unterschieden sich nach den Schilderungen des Soldaten - worauf Dr. E zutreffend verwiesen hat - die Übergriffe ihrer Art nach diametral voneinander. Während der ältere Pflegebruder mit Erpressungen und Drangsalierungen gegen den Soldaten vorging, agierte dieser ohne jede Drohung oder Zwang. Soweit der Soldat bei Eintritt in das Berufsleben allgemein unzufrieden darüber gewesen sein mag, dass Kollegen im Gegensatz zu ihm ein glückliches Familienleben hatten, hält der Senat eine solche allgemeine Unzufriedenheit als Auslöser für einen Zwangsmechanismus für fernliegend. Dr. E hat insoweit nachvollziehbar darauf verwiesen, dass dem Soldaten dieser Umstand ebenso wie der frühere Missbrauch durch seinen Pflegebruder voll bewusst war, sodass das für Zwangsneurosen typische Element des Unbewussten fehlte.

43Der Senat ist davon überzeugt, dass auch die Steuerungsfähigkeit des Soldaten nicht erheblich eingeschränkt war. Dies folgt aus den bereits dargelegten Erläuterungen von Dr. E, wonach der Soldat die zur Bekämpfung seiner Triebe erforderlichen Hemmungen aufbringen und sich kontrollieren konnte.

44c) Die eigennützigen Beweggründe des Soldaten wiegen zu seinem Nachteil. Er ist zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse und seines über das Wohl der Kinder gestellten Wunsches nach Nähe und Geborgenheit übergriffig geworden.

45d) Zu Lasten des Soldaten sind ferner die nachteiligen Auswirkungen des Dienstvergehens einzustellen.

46Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist der sexuelle Missbrauch eines Kindes in hohem Maße persönlichkeits- und sozialschädlich. Denn der Täter greift damit in die sittliche Entwicklung eines jungen Menschen ein und gefährdet die harmonische Entwicklung seiner Gesamtpersönlichkeit sowie seine Einordnung in die Gemeinschaft, weil Kinder wie Jugendliche wegen ihrer fehlenden bzw. noch nicht hinreichenden Reife intellektuell und gefühlsmäßig das Erlebte in der Regel gar nicht oder nur schwer verarbeiten können. Zugleich benutzt der Täter die Person eines Jugendlichen als "Mittel" zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs und verletzt dadurch dessen durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte unantastbare Menschenwürde (vgl. 2 WD 15.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 63 Rn. 21 m.w.N.). Das Dienstvergehen hatte vor allem auf das Opfer C nachteilige Folgen. Dieser gab vor dem Amtsgericht ... zu Protokoll, dass er den seinerzeit 12 Jahre zurückliegenden Übergriff des Soldaten auf ihn noch nicht verarbeitet und dieser sich seither auf sein gesamtes Sexualleben ausgewirkt habe.

47Zum Nachteil des Soldaten fällt auch ins Gewicht, dass sein Fehlverhalten durch die Berichterstattung in den Medien öffentlich bekannt geworden ist und damit ein schlechtes Licht auf die Bundeswehr und ihre Angehörigen geworfen hat (vgl. 2 WD 4.15 - BVerwGE 154, 163 Rn. 79 m.w.N.). Nach den Angaben des früheren Disziplinarvorgesetzten Generalarzt Dr. G in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung wurde dadurch in der Einheit bekannt, dass gegen den Soldaten ein Verfahren wegen Kindesmissbrauchs geführt wurde. Der aktuelle Disziplinarvorgesetzte Oberstarzt Dr. H hat in der Berufungshauptverhandlung ergänzt, in der Einheit sei über das Dienstvergehen geredet worden. Dabei sei auch kolportiert worden, ein Sohn eines Kameraden gehöre zu den Opfern.

48Zudem führte das Dienstvergehen dazu, dass der Soldat zunächst von seiner Tätigkeit entbunden und auf einem dienstpostenähnlichen Konstrukt eingesetzt, sodann unter hälftiger Bezügeeinbehaltung vorläufig des Dienstes enthoben und nach kurzzeitiger Aufhebung dieser Maßnahmen ohne Bezügeeinbehaltung erneut vorläufig des Dienstes enthoben wurde. Nach der Rechtsprechung des Senats kann es zu Lasten des Soldaten gewichtet werden, wenn er durch sein Verhalten eine vorläufige Dienstenthebung verursacht und dem Bund dadurch - wie hier - ein erheblicher finanzieller Schaden entsteht (vgl. 2 WD 4.19 - juris Rn. 27 m.w.N.). Die Rechtmäßigkeit der vorläufigen Dienstenthebung unterliegt auch keinen durchgreifenden Zweifeln. Der Soldat hat dagegen auch kein Rechtsmittel eingelegt.

49e) Hinsichtlich des Bemessungskriteriums "Persönlichkeit" ist zunächst festzustellen, dass in einem strafbaren sexuellen Missbrauch von Kindern erhebliche Mängel in der Persönlichkeit des Täters zum Ausdruck kommen (vgl. 2 WD 15.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 63 Rn. 21 m.w.N.). Auch die schweren Vertrauensbrüche, durch welche die Taten gekennzeichnet sind, werfen ein ausgesprochen schlechtes Licht auf seine Persönlichkeit. Der Soldat hat jeweils zunächst durch gemeinsame Aktivitäten ein so großes Vertrauen der Eltern und ihrer Kinder zu ihm aufgebaut, dass die Eltern ihm Übernachtungen entweder in ihren Wohnungen bei ihren Kindern oder diesen Übernachtungen in der Wohnung des Soldaten gestatteten. Sodann hat er dieses Vertrauen missbraucht, indem er im Rahmen dieser Übernachtungen übergriffig geworden ist.

50Dabei scheute er nicht einmal davor zurück, das Kind eines Kameraden, der für ihn dienstlich die Funktion eines Mentors hatte, während einer von dieser ausgesprochenen Übernachtungseinladung in dessen Einliegerwohnung zu missbrauchen. Eine solche Tat offenbart grundlegende charakterliche Mängel, einen Verlust des unverzichtbaren Respekts und der Achtung vor dem Kameraden und dessen Familie und beeinträchtigt die Vertrauenswürdigkeit, das Ansehen und die Autorität des Soldaten zutiefst (vgl. 2 WD 43.01 - Buchholz 236.1 § 12 SG Nr. 18 Rn. 9 m.w.N. zum sog. Einbruch in die Kameradenehe).

51Einer Berücksichtigung dieses Umstands bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme steht dessen mangelnde Erwiderung in der Anschuldigungsschrift nicht entgegen. Denn die Bindung des Gerichts an die Anschuldigungsschrift beschränkt sich auf den zur Anschuldigung gestellten Sachverhalt und dessen Qualifikation als Dienstvergehen. Hinsichtlich der Umstände, die für die Bemessung der Disziplinarmaßnahme von Bedeutung sind, gilt sie nicht (vgl. 1 D 92.90 - ZBR 1992, 59 <60>). Vielmehr hat das Gericht die angemessene Disziplinarmaßnahme aufgrund einer Gesamtwürdigung aller in § 38 WDO vorgeschriebenen Bemessungskriterien zu bestimmen. Dies schließt eine Berücksichtigung aller erschwerenden und mildernden Umstände ein, die für die Persönlichkeit des Soldaten und den Umfang der Beeinträchtigung des in ihn gesetzten Vertrauens bedeutsam sind. Anderenfalls hätte es der Dienstherr in der Hand, durch den Inhalt der Anschuldigungsschrift festzulegen, welche bemessungsrelevanten Gesichtspunkte berücksichtigt und welche außer Acht gelassen werden (vgl. auch 2 B 60. 14 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 26 Rn. 13 ff.). Nur Umstände, die - anders als hier - für sich genommen eine selbstständige Dienstpflichtverletzung begründen, aber nicht Teil des in der Anschuldigungsschrift vorgeworfenen einheitlichen Dienstvergehens geworden sind, sind bei der Bemessungsentscheidung nicht zu Lasten des Soldaten zu berücksichtigen, damit die der Gewährleistung einer effektiven Verteidigung des Soldaten dienenden Anforderungen an die Bestimmtheit der Anschuldigung nicht leer laufen (vgl. 2 WD 5.12 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 44 Rn. 30).

52f) Bei der Würdigung der Persönlichkeit des Soldaten ist positiv hervorzuheben, dass er trotz einer schweren Kindheit familiären Halt gesucht und gefunden hat und durch Verlässlichkeit und Fleiß im Schul- und Berufsleben überzeugt hat.

53Für den Soldaten spricht auch sein Nachtatverhalten. Dass er allen Opfern Schmerzensgeld gezahlt hat, entlastet ihn zwar disziplinarrechtlich nicht erheblich, weil dem bereits im Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt des Täter-Opfer-Ausgleichs nach § 46a Nr. 1, § 49 Abs. 1 Nr. 3 StGB strafreduzierende Bedeutung beigemessen wurde und dies mit ursächlich dafür war, dass dort keine bereits kraft Gesetzes zur Entfernung aus dem Dienstverhältnis führende Freiheitsstrafe verhängt wurde (vgl. 2 WD 15.18 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 63 Rn. 26 m.w.N.).

54Auch der letztendlichen Geständigkeit des Soldaten kommt nur geringes Gewicht zu. Der Soldat wäre der Taten - abgesehen von den beiden Taten zu Lasten des D, der daran keine Erinnerungen hatte - auch ohne sein Geständnis durch die Aussagen der ohne das Mitwirken des Soldaten ermittelten Opfer überführt worden.

55Mit größerem Gewicht spricht für den Soldaten seine Reue und seine Unrechtseinsicht. Diese kommen in seinen Aussagen in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht ... am und seinen dortigen persönlichen Entschuldigungen bei den Opfern, bei denen er sich zuvor bereits schriftlich entschuldigt hatte, zum Ausdruck. Auch im disziplinargerichtlichen Verfahren hat er sich einsichtig und reuig gezeigt.

56Ebenfalls für den Soldaten spricht, dass er die Konfrontation mit den Tatvorwürfen zum Anlass nahm, sich ab Januar 2014 einer längeren Psychoanalyse und Psychotherapie zu unterziehen. Allerdings hat er keine Nachweise über einen erfolgreichen Abschluss der Therapie vorgelegt. Zwar hat Dr. F die durchlaufene Therapie zum Anlass genommen, die Prognose im Hinblick auf seine beiden Diagnosen als "ausgesprochen positiv" zu bewerten. Die Therapie hat aber jedenfalls nicht dazu geführt, dass dem Soldaten seine fortbestehende "Pädophilie, sexuell orientiert auf Jungen, nicht ausschließlicher Typ" bewusst ist, obwohl sie nach den Aussagen beider Sachverständigen bei ihm vorliegt und nach deren übereinstimmenden Angaben nicht heilbar ist. Der Soldat hat vielmehr sowohl in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung als auch in der Berufungshauptverhandlung darauf beharrt, dass eine Pädophilie bei ihm nicht vorliege.

57g) Das Bemessungskriterium "bisherige Führung" fällt hingegen deutlich zugunsten des Soldaten aus. Bei ihm liegen die Voraussetzungen einer Nachbewährung vor, weil er sein hohes Leistungsniveau durchweg beibehalten und sich während des Verfahrens in jeder Hinsicht ohne Anlass zu Beanstandungen durch seine Vorgesetzten geführt hat (vgl. 2 WD 10.12 - juris Rn. 48 und vom - 2 WD 18.18 - Buchholz 450.2 § 63 WDO 2002 Nr. 3 Rn. 31 m.w.N.). Seine dienstlichen Leistungen waren bereits vor und während des Tatzeitraums sehr gut. Dies zeigen seine Beurteilungen, seine förmlichen Anerkennungen aus den Jahren 1998 und 2012, die 2006 gewährte Leistungsprämie, die Bewährung in drei Auslandseinsätzen in den Jahren 1999/00, 2004 und 2004/05 sowie seine zahlreichen erworbenen Abzeichen und Auszeichnungen. Zudem bewährte sich der Soldat in drei weiteren Auslandseinsätzen in den Jahren 2010/11 und 2012/13. Ferner erwarb er 2008 das Tätigkeitsabzeichen Fliegerarzt in Silber und 2014 zum 15. Mal das Leistungsabzeichen im Truppendienst in Gold. Nach dem Dienstvergehen erbrachte er ausweislich seiner Beurteilungen weiterhin ausgezeichnete dienstliche Leistungen. In seiner letzten planmäßigen Beurteilung vom wurde seine Aufgabenerfüllung im Schnitt mit 8,1 und in der Sonderbeurteilung vom mit durchschnittlich 8,5 bewertet. Generalarzt Dr. G, der zwischen den vorläufigen Dienstenthebungen der Disziplinarvorgesetzte des Soldaten war, hat ausgesagt, der Soldat habe sich in der Leistungsskala im obersten Bereich befunden, sei eine Spitzenkraft und verfüge trotz des Disziplinarverfahrens über eine gleichbleibend hohe Präzision.

58h) Dem Umstand, dass das Dienstvergehen, welches 2001 begann und 2007 endete, inzwischen viele Jahre zurückliegt, kommt kein erheblich milderndes Gewicht zu. Zwar lässt mit zunehmendem Zeitablauf in der Regel die Notwendigkeit nach, das Geschehen aus individual- oder generalpräventiven Gründen zur Aufrechterhaltung des Ansehens, der Integrität oder der Disziplin in der Bundeswehr zu ahnden. Dementsprechend geht der Senat davon aus, dass es in disziplinarrechtlicher Hinsicht regelmäßig für einen minderschweren Fall spricht, wenn eine außerdienstliche Pflichtverletzung eines Soldaten strafrechtlich bereits verjährt ist (vgl. 2 WD 21.18 - NVwZ-RR 2019, 961 Rn. 29 f.). Dies ist hier aber nicht der Fall, weil die Taten nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB einer zehnjährigen Verjährungsfrist unterliegen und die Verjährung wegen des Alters der Kinder jeweils viele Jahre lang ruhte (vgl. § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB). Diese strafrechtliche Wertung, dass bei Kindesmissbrauch ein Sanktionsbedürfnis auch noch lange Zeit nach der Tat besteht, muss auch im Disziplinarrecht berücksichtigt werden. Die lange strafrechtliche Verjährungsfrist hat ihren Grund darin, dass die Opfer eines Kindesmissbrauchs sich erst nach Eintritt der Volljährigkeit selbst rechtlich zur Wehr setzen können und oft viele Jahre nach dem Geschehen unter der Tat leiden; erfolgt deswegen die strafrechtliche Ahndung eines Soldaten erst relativ lange Zeit nach der Tat, gibt es keinen Grund allein wegen des Zeitablaufs ohne gesetzliche Grundlage die erforderlichen disziplinarischen Schritte nicht zu ergreifen. Ebenso wenig ist maßnahmemildernd zu berücksichtigen, dass dem Soldaten durch das Disziplinarverfahren ein B3-Dienstposten entgangen ist. Denn dies ist die Folge des allein von ihm zu verantwortenden Dienstvergehens.

59i) Ohne Bedeutung ist auch, dass gegen den Soldaten im sachgleichen Strafverfahren eine Freiheitsstrafe von unter einem Jahr verhängt wurde, sodass das Dienstverhältnis nicht bereits mit Eintritt der Rechtskraft des Strafurteils zur Beendigung des Soldatenverhältnisses führte. Steht im Einzelfall - wie hier - § 16 WDO der Zulässigkeit des Ausspruchs einer Disziplinarmaßnahme nicht entgegen, ist die Art oder Höhe einer Kriminalstrafe oder sonstigen Strafsanktion für die Gewichtung der Schwere des sachgleichen Dienstvergehens regelmäßig nicht von ausschlaggebender Bedeutung ( 2 WD 33.11 - juris Rn. 74). Eine die disziplinare Maßnahmebemessung begrenzende Indizwirkung kommt ihr nicht zu. Dies beruht auf den unterschiedlichen Zwecken von Straf- und Disziplinarrecht. Während die konkrete Strafzumessung strafrechtlichen Kriterien folgt, wird die disziplinarrechtliche Maßnahmebemessung insbesondere durch den Vertrauensverlust des Dienstherrn und der Allgemeinheit bestimmt (vgl. 2 C 3.18 - IÖD 2020, 53 <57>).

60j) Da Milderungsgründe umso gewichtiger sein müssen je schwerer ein Dienstvergehen wiegt, liegt hier bei Abwägung aller be- und entlastenden Umstände kein minderschwerer Fall vor. Denn das Dienstvergehen wiegt sehr schwer und es gibt zwar erhebliche für, aber auch erhebliche gegen den Soldaten sprechenden Umstände. Da die persönliche Integrität eines Soldaten gleichberechtigt neben dem Erfordernis der fachlichen Qualifikation steht, können gravierende Defizite der persönlichen Integrität, die - wie hier - bei objektiver Betrachtung zu einem endgültigen Vertrauensverlust des Dienstherrn führen müssen, nicht durch fachliche Kompetenz ausgeglichen werden können ( 2 WD 8.18 - juris Rn. 39 und vom - 2 WD 18.18 - Buchholz 450.2 § 63 WDO 2002 Nr. 3 Rn. 40). Ist danach die Höchstmaßnahme zu verhängen, kann auch eine etwaige überlange Verfahrensdauer keine maßnahmemildernde Wirkung mehr entfalten (vgl. 2 WD 32.18 - juris Rn. 41 m.w.N.).

616. Die Kostenentscheidung beruht auf § 139 Abs. 2, § 140 Abs. 2 Satz 1 WDO. Auf den Antrag des Bundeswehrdisziplinaranwalts, die Gewährung des Unterhaltsbeitrags für den Soldaten auszuschließen, hat der Senat in Ausübung des ihm durch § 115 Abs. 2 WDO eingeräumten Ermessens die Gewährung des Unterhaltsbeitrags nach § 63 Abs. 3 Satz 1 WDO mangels wirtschaftlicher Bedürftigkeit des Soldaten auf den Zeitraum bis einschließlich beschränkt. Dieser Zeitraum ermöglicht eine berufliche Umorientierung des Soldaten, der weiterhin über seine Approbation als Arzt verfügt.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2020:040620U2WD10.19.0

Fundstelle(n):
IAAAH-55909