Sachaufklärungspflicht des FG; Versendung von Steuerbescheiden durch ein Rechenzentrum
Leitsatz
1. NV: Das FG verstößt gegen seine Sachaufklärungspflicht, wenn es keine Ermittlungen zu einem tatsächlichen Geschehen anstellt, auf das es unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung ankommt, wenn sich solche Ermittlungen aufdrängen (vgl. , BFH/NV 2006, 1681).
2. NV: Geht das FG in rechtlicher Hinsicht davon aus, dass bei maschinell-elektronischer Versendung von Steuerbescheiden durch ein Rechenzentrum aufgrund eines Anscheinsbeweises vom Datum des Bescheids auf das Datum der Aufgabe zur Post geschlossen werden kann, hat es zu ermitteln, ob durch den Ablauf der Postversendung im Rechenzentrum gewährleistet ist, dass der Tag der Aufgabe zur Post regelmäßig mit dem Datum des Bescheids übereinstimmt.
Gesetze: FGO § 76 Abs. 1; AO § 122 Abs. 2 Nr. 1;
Instanzenzug:
Tatbestand
I.
1 Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) erließ gegen den Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) unter dem den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2016. Der Bescheid wurde maschinell erstellt. Gegen den Bescheid legte der Kläger ausweislich des Eingangsstempels des FA am Einspruch ein. Diesen Einspruch verwarf das FA mit Einspruchsentscheidung vom als unzulässig.
2 Mit seiner hiergegen gerichteten Klage machte der Kläger u.a. geltend, die Bekanntgabefiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) greife nicht ein, weil Zweifel am Zugang des Steuerbescheids innerhalb der Drei-Tages-Frist bestünden. Zur Begründung verwies er u.a. auf die im Bescheid verwendete falsche Schreibweise seines Namens sowie auf ein Schreiben des FA vom , das den Poststempel vom trage und daher nicht innerhalb von drei Tagen nach dem Bescheiddatum zugegangen sein könne.
3 Das Finanzgericht (FG) wies die Klage durch Urteil vom als unbegründet ab. Es war der Auffassung, dass der Kläger die Einspruchsfrist nicht gewahrt habe und der Einkommensteuerbescheid vom bestandskräftig geworden sei. Der Bescheid sei gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am Montag, dem , bekannt gegeben worden, so dass der am beim FA eingegangene Einspruch verfristet sei. Hinsichtlich des Zeitpunkts der Aufgabe zur Post seien die Besonderheiten maschinell erstellter Bescheide zu berücksichtigen. Bei der in den steuerlichen Massenverfahren heute überwiegend praktizierten zentralen, maschinell-elektronischen Versendung von Steuerbescheiden sei der Tag der Aufgabe zur Post regelmäßig mit dem Datum des Steuerbescheids identisch. Die Versendung geschehe vollautomatisch, ohne dass die Fehlerquelle „Mensch“ zwischengeschaltet sei, so dass im Wege eines Anscheinsbeweises vom Datum des Bescheids auf den Tag der Aufgabe zur Post geschlossen werden könne.
4 Mit seiner wegen Nichtzulassung der Revision eingelegten Beschwerde macht der Kläger u.a. geltend, das FG habe seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung verletzt, da es keine Feststellungen zum Tag der Aufgabe zur Post getroffen habe. Das FG habe darauf abgestellt, dass der Tag der Aufgabe zur Post regelmäßig mit dem Datum des Steuerbescheids identisch sei. Ob dies auch vorliegend der Fall gewesen sei, habe das FG nicht ermittelt. Angesichts des den ordnungsgemäßen Postversand bestreitenden Klägervortrags habe das FG den Sachverhalt weiter aufklären müssen.
5 Das FA hat zu der Beschwerde keine Gegenäußerung abgegeben.
Gründe
II.
6 Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Der vom Kläger der Sache nach gerügte Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) liegt vor. Denn das FG hat die Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) dadurch verletzt, dass es nicht ermittelt hat, wann der streitige Bescheid zur Post aufgegeben wurde.
7 1. Ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht liegt dann vor, wenn das FG keine Ermittlungen zu einem tatsächlichen Geschehen anstellt, auf das es unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung ankommt, wenn sich solche Ermittlungen dem FG aufdrängen mussten. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben.
8 a) Das FG ist in rechtlicher Hinsicht davon ausgegangen, dass die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nur dann eingreift, wenn feststeht, wann die mit einfachem Brief übersandten Steuerbescheide tatsächlich zur Post aufgegeben worden sind (vgl. Senatsurteil vom - VIII R 53/00, BFH/NV 2002, 1417). Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger behauptet, den streitigen Bescheid nicht innerhalb der Drei-Tages-Frist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, sofern der Bescheid tatsächlich zu dem Zeitpunkt, der auf diesem als Bescheiddatum jeweils aufgedruckt ist, zur Post aufgegeben worden sein sollte. Bestreitet ein Steuerpflichtiger nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern macht er geltend, es nicht innerhalb der Drei-Tages-Frist erhalten zu haben, dann sind, sofern der Tag der Aufgabe zur Post feststeht, der Sachverhalt unter Berücksichtigung des substantiierten Vorbringens des Steuerpflichtigen über den Zugang des Schriftstücks aufzuklären und die festgestellten oder unstreitigen Umstände im Wege der freien Beweiswürdigung nach § 96 Abs. 1 FGO gegeneinander abzuwägen (, BFH/NV 1993, 75). Ermittlungen zum Zeitpunkt der Aufgabe des angefochtenen Bescheids zur Post waren auch nicht deshalb entbehrlich, weil in den Akten des FA der Aufgabezeitpunkt nicht festgehalten ist. Denn eine gesetzliche Pflicht des FA, den Tag der Aufgabe zur Post gesondert aufzuzeichnen, besteht —insbesondere bei Absendung durch ein Rechenzentrum— nicht (, BFH/NV 2007, 1454).
9 b) Das FG ist weiter in rechtlicher Hinsicht davon ausgegangen, dass bei maschinell-elektronischer Versendung von Steuerbescheiden im Wege eines Anscheinsbeweises vom Datum des Bescheids auf den Tag der Aufgabe zur Post geschlossen werden könne. Zum Beleg für seine Auffassung hat es auf die Ausführungen von Seer in Tipke/Kruse (Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 122 AO Rz 50) Bezug genommen, wonach es für die Heranziehung des Anscheinsbeweises ausreicht, wenn die zentrale Versendungsstelle (z.B. das Rechenzentrum) darlegt, dass an dem im Bescheid ausgewiesenen Datum keinerlei Unregelmäßigkeiten aufgetreten sind. Der Senat kann offenlassen, ob er sich dieser Auffassung anschließen könnte. Jedenfalls musste sich dem FG auf der Grundlage dieser Auffassung aufdrängen, dass es im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht gehalten war, Ermittlungen dazu anzustellen, wie im Einzelnen der Ablauf der Postversendung durch das Rechenzentrum gestaltet und in welcher Weise sichergestellt war, dass Bescheide zu dem im Bescheid angegebenen Zeitpunkt auch tatsächlich zur Post aufgegeben wurden (, BFH/NV 2006, 1681). An derartigen Ermittlungen fehlt es im Streitfall. Das FG hat insbesondere nicht festgestellt, dass bei der Versendung durch das Rechenzentrum an dem im angefochtenen Bescheid ausgewiesenen Datum keinerlei Unregelmäßigkeiten aufgetreten sind.
10 c) Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht aus der vom FG unter Verweis auf die Kommentierung von Seer in Bezug genommenen BFH-Rechtsprechung (vgl. Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 122 AO Rz 50, unter Berufung u.a. auf BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 1454). Denn in dem der Entscheidung in BFH/NV 2007, 1454 zugrundeliegenden Fall hatte das FG sachverhaltsbezogene Ermittlungen dazu angestellt, wie die Postversendung durch das Rechenzentrum im konkreten Fall gestaltet war, und war auf dieser Grundlage zu dem Ergebnis gelangt, dass das durchgeführte Verfahren die Gewähr für die Übereinstimmung von maschinellem Bescheiddatum und tatsächlichem Aufgabetag biete (BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 1454, Rz 11).
11 2. Der erkennende Senat hält es für angezeigt, gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, um es dem FG zu ermöglichen, die notwendigen Ermittlungen nachzuholen.
12 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2020:B.260220.VIIIB56.19.0
Fundstelle(n):
BB 2021 S. 2329 Nr. 40
BFH/NV 2020 S. 1074 Nr. 11
UAAAH-55221