Keine Präklusion von Normenkontrollanträgen in Übergangsfällen
Leitsatz
§ 47 Abs. 2a VwGO steht der Zulässigkeit eines Normenkontrollantrags nicht entgegen, über den ab dem entschieden wird. Dies gilt auch, wenn der Antrag vor dem und damit vor Außerkrafttreten der Norm gestellt worden ist.
Gesetze: § 47 Abs 2a VwGO
Instanzenzug: OVG Lüneburg Az: 1 KN 87/16 Urteil
Tatbestand
1Der Antragsteller wendet sich gegen einen vorhabenbezogenen Bebauungsplan.
2Die Antragsgegnerin beschloss am die Aufstellung des vorhabenbezogenen Bebauungsplans Nr. 4 "Südlich der Hannoverschen Straße". Während der öffentlichen Auslegung des Planentwurfs vom bis zum erhob der Antragsteller keine Einwendungen. Die Antragsgegnerin machte den am beschlossenen Bebauungsplan am bekannt. Der Plan setzt auf einer Fläche von 1,19 ha zwei Sondergebiete SO1 und SO2 mit der Zweckbestimmung "Seniorenwohnen" fest. Die im südlichen Plangebiet gelegene Fläche SO2 soll nach dem Vorhabenplan der Beigeladenen mit barrierefreien Mehrfamilienhäusern bebaut werden. Westlich an das Sondergebiet SO2 grenzt das Grundstück des Antragstellers, das für einen Einzelhandelsbetrieb genutzt wird.
3Unter dem erteilte der Landkreis O. der Beigeladenen eine Baugenehmigung, mit der die Planfestsetzungen jedenfalls im südlichen Planbereich im Wesentlichen ausgenutzt werden können. Gegen diese Baugenehmigung erhob der Antragsteller Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist. Die Gebäude sind zwischenzeitlich im Wesentlichen errichtet. Der Antragsteller erhielt unter dem die Genehmigung, zwei Bestandsgebäude auf seinem Grundstück zusammenzulegen. Gegen diese Genehmigung legte die Beigeladene Widerspruch ein mit der Begründung, der Betrieb des Lebensmittelgeschäfts führe zu unzumutbaren Lärmimmissionen. Eine Entscheidung über den Widerspruch steht noch aus.
4Mit seinem am gestellten Normenkontrollantrag beanstandete der Antragsteller, die vom Plan ausgelösten Lärmkonflikte seien nicht gelöst. Dies gelte besonders für die im Nordosten seines Grundstücks gelegenen Stellplätze.
5Das Oberverwaltungsgericht hat den Normenkontrollantrag verworfen, weil er nach § 47 Abs. 2a VwGO unzulässig sei. Die Norm finde Anwendung, weil die Antragsgegnerin eine schutzwürdige Position erlangt habe, die ihr durch die zwischenzeitliche Aufhebung des § 47 Abs. 2a VwGO nicht entzogen worden sei.
6Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner vom Senat zugelassenen Revision. Antragsgegnerin und Beigeladene verteidigen das angegriffene Urteil.
Gründe
7Der Senat entscheidet nach § 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung.
8Die Revision des Antragstellers ist begründet. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Weil für eine abschließende Entscheidung die notwendigen Feststellungen fehlen, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zurückzuverweisen.
91. § 47 Abs. 2a VwGO hindert die Zulässigkeit des Normenkontrollantrags nicht.
10Nach § 47 Abs. 2a VwGO in der Fassung von Art. 3 Nr. 1 Buchst. b des Gesetzes zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte vom (BGBl. I S. 3316) war der Normenkontrollantrag einer natürlichen oder juristischen Person, der (u.a.) einen Bebauungsplan zum Gegenstand hatte, unzulässig, wenn die den Antrag stellende Person nur Einwendungen geltend machte, die sie im Rahmen der öffentlichen Auslegung (§ 3 Abs. 2 BauGB) oder im Rahmen der Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit (§ 13 Abs. 2 Nr. 2 und § 13a Abs. 2 Nr. 1 BauGB) nicht oder verspätet geltend gemacht hatte, aber hätte geltend machen können, und wenn auf diese Rechtsfolge im Rahmen der Beteiligung hingewiesen worden war. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat das Oberverwaltungsgericht bejaht; die Revision erhebt insoweit keine Einwendungen.
11§ 47 Abs. 2a VwGO durfte indes keine Anwendung finden. Art. 5 des Gesetzes zur Anpassung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer Vorschriften an europa- und völkerrechtliche Vorgaben vom (BGBl. I S. 1298) hat die Vorschrift mit Wirkung zum aufgehoben. Diese Rechtsänderung war zu berücksichtigen.
12Nach den Grundsätzen des intertemporalen Prozessrechts erfasst eine Änderung des Verfahrensrechts anhängige Rechtsstreitigkeiten ( - BVerfGE 87, 48 <64>; 4 CN 3.09 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 178 Rn. 16 und vom - 4 A 5.14 - BVerwGE 154, 73 Rn. 46). Daher hält die Mehrheit der Oberverwaltungsgerichte § 47 Abs. 2a VwGO nicht für anwendbar, wenn über einen Normenkontrollantrag nach dem Außerkrafttreten dieser Norm entschieden wird (.NE - juris Rn. 41 und vom - 7 D 55/16.NE - juris Rn. 28; OVG Schleswig, Urteil vom - 1 KN 19/16 - NVwZ-RR 2019, 351 Rn. 23 unter Abweichung von Urteil vom - 1 KN 10/16 - juris Rn. 46 ff.; - BauR 2018, 1372 <1373>; .N - juris Rn. 44; 2 A 6.16 - juris Rn. 24; OVG Bautzen, Urteil vom - 1 C 16/17 - SächsVBl 2019, 221 Rn. 31; - KommJur 2018, 78 <79>; - juris Rn. 33; offen gelassen in 1 N 15.1832 - juris Rn. 22; VGH Mannheim, Urteile vom - 8 S 2368/16 - ZfBR 2019, 47 <50> und vom - 5 S 2405/17 - ZfBR 2019, 806; .N - BauR 2018, 940). Diese Auffassung trifft zu.
13Die Gegenmeinung (VGH Mannheim, Urteil vom - 3 S 642/16 - ZfBR 2018, 74 <75>; OVG Saarlouis, Beschluss vom - 2 C 427/17 - KommJur 2019, 104 <106>) weist allerdings mit Recht darauf hin, dass § 47 Abs. 2a VwGO einer Gemeinde als Antragsgegnerin eine schutzwürdige Verfahrensstellung vermitteln konnte (vgl. 4 CN 12.97 - BVerwGE 106, 237 <239>), weil die Vorschrift ihr einen Anspruch auf ein den Antrag verwerfendes Prozessurteil einräumte (vgl. 6 B 133.18 - Buchholz 442.066 § 47 TKG Nr. 5 Rn. 21). Diese Position hatte besondere Bedeutung, wenn eine Gemeinde nach Ablauf der Antragsfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO weitere Normenkontrollanträge nicht zu gewärtigen und damit eine allgemein verbindliche Unwirksamkeitserklärung nach § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht zu befürchten hatte. Diese Verfahrensstellung genießt Vertrauensschutz, auch wenn die Antragsgegnerin eine öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaft ist. Denn der Gedanke des Vertrauensschutzes hat seine Grundlage nicht in der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG, sondern im Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG ( a.a.O.). Zudem verschaffte § 47 Abs. 2a VwGO auch beigeladenen natürlichen oder juristischen Personen eine schutzwürdige Verfahrensstellung, wirkte also nicht nur zugunsten öffentlich-rechtlicher Körperschaften.
14Die verfahrensrechtliche Stellung der Antragsgegnerin und der Beigeladenen hat der Gesetzgeber indes mit einer noch hinreichend deutlichen gesetzlichen Regelung entzogen. § 47 Abs. 2a VwGO wurde ohne Übergangsregelung aufgehoben. Im Anschluss an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom - C-137/14 [ECLI:EU:C:2015:683] - (NJW 2015, 3495) hielt der Gesetzgeber eine Einschränkung des § 47 Abs. 2a VwGO für geboten, weil es für die Norm in Art. 11 der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 26 S. 1) (UVP-Richtlinie) und Art. 25 der Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung) (ABl. L 334 S. 17) keine Grundlage gebe (BT-Drs. 18/9526 S. 51). Damit erschien § 47 Abs. 2a VwGO im Anwendungsbereich der UVP-Richtlinie unionsrechtswidrig (vgl. 4 CN 4.16 - Buchholz 406.11 § 13a BauGB Nr. 3 Rn. 30). Dies zugrunde gelegt, begründete § 47 Abs. 2a VwGO in diesen Fällen keine schutzwürdige Verfahrensposition. Die Anwendung des § 47 Abs. 2a VwGO in Übergangsfällen war damit ohne Übergangsregelung ausgeschlossen, um dem Anliegen zu genügen, das Unionsrecht "1:1" umzusetzen (BT-Drs. 18/9526 S. 2).
15Für Bebauungspläne, die - wie der verfahrensgegenständliche (vgl. UA S. 13) - nicht in den Anwendungsbereich der UVP-Richtlinie fallen, gilt nichts Anderes: Über das aus seiner Sicht unionsrechtlich Gebotene hinaus hat der Gesetzgeber § 47 Abs. 2a VwGO im Ganzen aufgehoben, weil ein teilweises Fortgelten der Vorschrift nicht praxisgerecht wäre (BT-Drs. 18/9526 S. 51). Diesem pragmatischen Ansatz stünde eine unterschiedliche Regelung in Übergangsfällen entgegen. Der Gesetzgeber unterscheidet - wie auch in anderem Zusammenhang (vgl. § 50 Abs. 1 UVPG) - nicht danach, ob Bebauungspläne in den Anwendungsbereich der UVP-Richtlinie fallen. Materiell-rechtlich ist das unbedenklich: Die schutzwürdige Verfahrensstellung der Gemeinde und der Beigeladenen hatte nur geringes Gewicht, weil § 47 Abs. 2a VwGO die inzidente Kontrolle des Bebauungsplans im gerichtlichen Verfahren unberührt ließ ( 4 CN 1.13 - BVerwGE 149, 88 Rn. 16).
162. Der Antrag scheitert nicht am Fehlen des Rechtsschutzbedürfnisses.
17Bei bestehender Antragsbefugnis ist regelmäßig das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis gegeben. Das Erfordernis dieses Bedürfnisses soll nur verhindern, dass Gerichte in eine Normprüfung eintreten, deren Ergebnis für den Antragsteller wertlos ist, weil es seine Rechtsstellung nicht verbessern kann. Ist ein Bebauungsplan durch genehmigte oder genehmigungsfreie Maßnahmen vollständig verwirklicht, so wird der Antragsteller allerdings in der Regel seine Rechtsstellung durch einen erfolgreichen Angriff auf den Bebauungsplan nicht mehr aktuell verbessern können (vgl. zuletzt 4 BN 15.18 - juris Rn. 5 m.w.N.). Dies bedarf keiner Vertiefung. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Erklärung des Bebauungsplans als unwirksam für den Antragsteller vorteilhaft ist. Dies gilt sowohl für das Widerspruchsverfahren gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung als auch für das Widerspruchsverfahren gegen die Baugenehmigung, die der Antragsteller erhalten hat. Im Revisionsverfahren haben im Übrigen weder die Antragsgegnerin noch die Beigeladene das Rechtsschutzbedürfnis in Zweifel gezogen.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2020:250620U4CN3.19.0
Fundstelle(n):
QAAAH-54233