Umsatzsteuer; Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung bei Ausfuhrlieferungen; Auswirkungen der sog. Missbrauchsrechtsprechung des EuGH
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I. Anwendung der sog. Missbrauchsrechtsprechung des EuGH bei Ausfuhrlieferungen
Der EuGH hat zuletzt mehrfach entschieden, dass einerseits die Missbrauchsrechtsprechung zu innergemeinschaftlichen Lieferungen grundsätzlich auch auf Ausfuhrlieferungen zu übertragen sei und andererseits, dass es bei Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung unschädlich sein kann, wenn einzelne formelle Kriterien des Buch- und Belegnachweises nicht erfüllt sind.
Hinsichtlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit weist der EuGH darauf hin, dass eine nationale Maßnahme dann über das hinausgeht, was erforderlich ist, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen, wenn sie das Recht auf Umsatzsteuerbefreiung im Wesentlichen von der Einhaltung formeller Pflichten abhängig macht, ohne dass materielle Anforderungen berücksichtigt würden und insbesondere ohne, dass in Betracht zu ziehen wäre, ob diese erfüllt sind. Die Umsätze sind nämlich unter Berücksichtigung ihrer objektiven Merkmale zu besteuern (; C-653/18, Unitel Sp, vom 8. 11. 2018, C-495/17, Cartrans Spedition, und vom 28. 3. 2019, C-275/18, Milan Vinš).
Sind die materiellen Voraussetzungen erfüllt, erfordert ferner der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass die Umsatzsteuerbefreiung gewährt wird, auch dann, wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat (; C-653/18, Unitel Sp; Rn. 28; vom 8. 11. 2018, C-495/17, Cartrans Spedition, Rn. 39).
Nach der Rechtsprechung des EuGHs gibt es lediglich zwei Fälle, in denen die Nichteinhaltung einer formellen Anforderung den Verlust des Rechts auf Umsatzsteuerbefreiung nach sich ziehen kann:
Zum einen kann der Verstoß gegen eine formelle Anforderung zur Versagung der Mehrwertsteuerbefreiung führen, wenn er den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden (; C-653/18, Unitel Sp; Rn. 30; vom , C-495/17, Cartrans Spedition, Rn. 42; und vom 28. 3. 2019, C-275/18, Milan Vinš, Rn. 35).
Zum anderen kann sich ein Steuerpflichtiger, der sich vorsätzlich an einer das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdenden Steuerhinterziehung beteiligt hat, nicht auf den Grundsatz der Steuerneutralität berufen.
Sollte der Steuerpflichtige gewusst haben oder hätte er wissen müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft war und er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um diese zu verhindern, müsste ihm der Anspruch auf Mehrwertsteuerbefreiung versagt werden (vgl. ; C-653/18, Unitel Sp; Rn. 33; vom 8. 11. 2018, C- 495/17, Cartrans Spedition, Rn. 41, und vom 28. 3. 2019, C-275/18, Milan Vinš, Rn. 33).
II. Änderung des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses
Unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Erörterung mit den obersten Finanzbehörden der Länder wird der Umsatzsteuer-Anwendungserlass (UStAE) vom , BStBl I 2010 S. 864, der zuletzt durch das (2020/0590350), BStBl 2020 I S. 581, geändert worden ist, wie folgt geändert:
In Abschnitt 6.5 Abs. 1 werden nach Satz 7 die folgenden Sätze 8 bis 10 angefügt:
„8Kann der Unternehmer den beleg- und buchmäßigen Nachweis nicht, nicht vollständig oder nicht zeitnah führen, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung nicht erfüllt sind. 9Etwas anderes gilt im Falle der Nichteinhaltung einer formellen Anforderung ausnahmsweise dann, wenn nach objektiven Kriterien zweifelsfrei feststeht, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Steuerfreiheit der Ausfuhrlieferung vorliegen, insbesondere, wenn objektiv erkennbar feststeht, dass der Gegenstand der Lieferung das Gemeinschaftsgebiet tatsächlich verlassen hat (Grundsatz der Steuerneutralität und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, vgl. , Unitel Sp, vom 28. 3. 2019, C-275/18, Milan Vinš, und vom 8. 11. 2018, C-495/17, Cartrans Spedition). 10Allerdings kann sich der liefernde Unternehmer nicht auf die Grundsätze steuerlicher Neutralität und der Verhältnismäßigkeit berufen, wenn
sich der liefernde Unternehmer vorsätzlich an einer das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdenden Steuerhinterziehung beteiligt hat bzw. davon Kenntnis hatte oder nach der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns hätte haben müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft war und er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden, zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um diese zu verhindern (vgl. , Unitel Sp, vom 8. 11. 2018, C-495/17, Cartrans Spedition, und vom 28. 3. 2019, C-275/18, Milan Vinš) oder
der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Steuerbefreiung erfüllt wurden (vgl. , Unitel Sp, vom , C-495/17, Cartrans Spedition, und vom 28. 3. 2019, C-275/18, Milan Vinš).“
Abschnitt 6.6 Abs. 6 wird wie folgt geändert:
a)Satz 1 wird wie folgt gefasst:
„1Ist der Nachweis der Ausfuhr durch Belege mit einer Bestätigung der Grenzzollstelle oder der Abgangsstelle nicht möglich oder nicht zumutbar, z.B. bei der Ausfuhr von Gegenständen im Reiseverkehr an Flughäfen, an denen die Zollverwaltung nicht im gesamten Transit- bzw. Sicherheitsbereich präsent ist, durch die Kurier- und Poststelle des Auswärtigen Amts oder durch Transportmittel der Bundeswehr oder der Stationierungstruppen, kann der Unternehmer den Ausfuhrnachweis auch durch andere Belege führen.“
b)Nach Satz 6 wird folgender Satz 7 angefügt:
„7Können die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung anhand objektiver Kriterien zweifelsfrei nachgewiesen werden, gebietet es der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass die Steuerbefreiung für die Ausfuhrlieferung zu gewähren ist, selbst wenn der liefernde Unternehmer bestimmten formellen Anforderungen nicht genügen konnte (vgl. , Unitel Sp, vom 8. 11. 2018, C-495/17, Cartrans Spedition, und vom 28. 3. 2019, C-275/18, Milan Vinš).“
Abschnitt 6.11. Abs. 7 Satz 1 wird wie folgt gefasst:
„1Die Verbringung des Liefergegenstands in das Drittlandsgebiet muss grundsätzlich durch eine Ausfuhrbestätigung der den Ausgang des Gegenstands aus dem Gemeinschaftsgebiet überwachenden Grenzzollstelle eines EU-Mitgliedstaats (Ausgangszollstel- le) nachgewiesen werden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStDV, Abschnitt 6.6 Abs. 3).“
In Abschnitt 6.11. Abs. 8 wird nach Satz 3 folgender Satz 4 angefügt:
„4Ist der Ausfuhrnachweis durch Belege mit einer Bestätigung der Grenzzollstelle nicht möglich oder nicht zumutbar, kann der Nachweis im begründeten Einzelfall auch durch geeignete Alternativbelege geführt werden (vgl. Abschnitt 6.6 Abs. 6).“
Abschnitt 6.11. Abs. 12 Satz 4 wird wie folgt gefasst:
„4Absatz 8 Sätze 2 und 4 sind für Abnehmerbestätigungen entsprechend anzuwenden.“
III. Anwendung
Die Grundsätze dieses Schreibens sind auf alle offenen Fälle anzuwenden.
BMF v. - III C 3 - S 7134/19/10003 :001
Auf diese Anweisung wird Bezug genommen in folgenden Verwaltungsanweisungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2020 I Seite 582
DB 2020 S. 1429 Nr. 27
DStR 2020 S. 1440 Nr. 27
DStR 2021 S. 964 Nr. 17
UR 2020 S. 696 Nr. 17
UStB 2020 S. 221 Nr. 7
UVR 2020 S. 294 Nr. 10
UAAAH-51900