Voraussetzungen der Verwirkung eines Klagerechts
Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 58 Abs 2 VwGO, § 74 Abs 1 VwGO, § 86 Abs 1 VwGO, § 100 Abs 1 VwGO, § 108 Abs 2 VwGO, § 227 Abs 1 ZPO
Instanzenzug: VG Gera Az: 5 K 1265/17 Ge Urteil
Gründe
1Die Klage richtet sich gegen einen Bescheid der Thüringer Landesfinanzdirektion vom , mit dem nach § 2 Abs. 1 EntschG die Höhe eines der K. KG i.L. zustehenden Entschädigungsanspruchs festgesetzt wurde. Das Verwaltungsgericht hat die Klage als unzulässig abgewiesen und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die auf alle Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde des Klägers.
2Die Beschwerde ist begründet. Sie rechtfertigt zwar keine die Zulassung der Revision wegen der geltend gemachten Divergenz (1.) oder der vom Kläger ausdrücklich erhobenen Verfahrensrügen (2.). Auch die Grundsatzrüge greift nicht durch (3.). Ihr ist jedoch sinngemäß eine weitere, ausreichend substantiierte Verfahrensrüge zu entnehmen, die begründet ist und gemäß § 133 Abs. 6 i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an das Verwaltungsgericht führt (4.).
31. Eine Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) ist nicht dargelegt. Dieser Zulassungsgrund ist nach ständiger Rechtsprechung nur dann hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts oder eines anderen der in der Vorschrift aufgeführten Gerichte aufgestellten ebensolchen (abstrakten) Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Hier beanstandet die Beschwerde lediglich die unzutreffende Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Auslegung eines Klageantrags (§ 88 VwGO) durch das Verwaltungsgericht und eine daraus folgende Verkennung des klägerischen Begehrens. Auf dessen vermeintlicher Fehlinterpretation könnte das Urteil im Übrigen nicht beruhen, da das Verwaltungsgericht nur ein "mutmaßliches" Klageziel formuliert und hierzu keine Sachentscheidung getroffen hat.
42. Die vom Kläger ausdrücklich gerügten Verfahrensmängel liegen ebenfalls nicht vor.
5a) Der Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) ist nicht verletzt.
6aa) Ein derartiger Verstoß folgt nicht daraus, dass das Verwaltungsgericht im Termin zur mündlichen Verhandlung am in Abwesenheit des Klägers über die Sache verhandelt und entschieden hat, obwohl dieser mit Schreiben vom eine Erkrankung mitgeteilt und sinngemäß einen Antrag auf Verlegung oder Aufhebung des Termins gestellt hat. Das Verwaltungsgericht musste keinen erheblichen Grund für eine Terminsverlegung im Sinne von § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO annehmen. Der Kläger hat nicht durch ärztliches Attest nachgewiesen, am Tag der mündlichen Verhandlung, dem , verhandlungsunfähig zu sein (vgl. 8 B 162.98 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 285). Auch aus den sonstigen Umständen, insbesondere dem Schreiben des Klägers vom nebst beigefügter Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, ergab sich dies nicht. Dazu wird auf den heutigen, im Parallelverfahren des Klägers ergangenen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts - 8 B 1.20 - Bezug genommen.
7bb) Der Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist auch nicht im Hinblick auf seine Stellungnahme vom verletzt. Art. 103 Abs. 1 GG vermittelt den Verfahrensbeteiligten einen Anspruch darauf, dass das Gericht ihr Vorbringen vollständig in seine Entscheidungsfindung einbezieht. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Gericht das gesamte Vorbringen in den Entscheidungsgründen abhandeln muss. Vielmehr muss es auch in einem Urteil nur diejenigen tatsächlichen und rechtlichen Gründe angeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Daher kann aus dem Umstand, dass das Gericht einen Aspekt des Vorbringens eines Beteiligten in den Gründen nicht erwähnt hat, nur dann geschlossen werden, es habe diesen Aspekt nicht in Erwägung gezogen, wenn er nach dem materiell-rechtlichen Rechtsstandpunkt des Gerichts eine Frage von zentraler Bedeutung betrifft. Dabei wäre es verfehlt, aus der Nichterwähnung einzelner Vortragselemente eines umfangreichen Vorbringens - wie dem vorliegenden - zu folgern, das Gericht habe sich mit den darin enthaltenen Argumenten nicht befasst. Art. 103 Abs. 1 GG vermittelt zudem keinen Schutz davor, dass ein Gericht aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts Parteivorbringen nicht weiter aufnimmt (stRspr, vgl. 10 C 8.17 - BVerwGE 162, 244 Rn. 26 m.w.N.).
8Gemessen daran hat das Verwaltungsgericht nicht gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen. Das Verwaltungsgericht hat im Tatbestand des Urteils darauf hingewiesen, dass sich der Kläger ausführlich mit dem Urteil des Verwaltungsgerichts vom (5 K 184/16 Ge) auseinandergesetzt habe. Der Schluss, das Verwaltungsgericht habe die Stellungnahme vom , die sich mit diesem Urteil befasst, nicht berücksichtigt, ist daher nicht berechtigt. Die Beschwerde legt in diesem Zusammenhang auch nicht dar, welches mit dieser Stellungnahme vorgetragene Argument gerade im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht angenommene Verwirkung des Klagerechts entscheidungserheblich gewesen wäre.
9cc) Die Rüge, das Verwaltungsgericht habe den mit der Einlegung der Beschwerde verbundenen Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht gemäß § 100 Abs. 1 VwGO prozessordnungswidrig behandelt, greift nicht durch. Zum einen könnte das angegriffene Urteil auf dem vermeintlichen Verfahrensverstoß nicht beruhen. Zum anderen ist bei der gebotenen Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ( 8 B 2.18 - juris Rn. 9) von Bedeutung, dass die Akteneinsicht nicht schlechthin verweigert, sondern nur um die vorherige Vorlage einer Vollmacht gebeten wurde. Dies steht mit § 67 Abs. 6 Satz 1 und 2 VwGO im Einklang und begründet daher keinen Verfahrensmangel.
10b) Soweit der Kläger - sinngemäß - eine Verletzung des Aufklärungsgrundsatzes wegen der unzureichenden Beiziehung von Behördenakten rügt, fehlt die gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderliche substantiierte Darlegung des angeblichen Aufklärungsmangels (vgl. auch hierzu erneut den im Parallelverfahren des Klägers ergangenen Beschluss des Senats vom - 8 B 1.20 - Rn. 10). Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, die Entscheidung der Vorinstanz aufzuheben und den Rechtsstreit nach § 133 Abs. 6 VwGO an das Verwaltungsgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
113. Die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage zu den Voraussetzungen einer Verwirkung des Klagerechts verleiht der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung.
12Das Verwaltungsgericht ist der Auffassung, der Kläger habe sein Klagerecht gegen den Bescheid vom verwirkt. Zwar habe die Klagefrist (§ 74 Abs. 1 VwGO) im Hinblick auf diesen Bescheid mangels Zustellung oder Bekanntgabe nicht zu laufen begonnen. Doch seien die Grundsätze, die im Bereich des Baurechts für eine Verwirkung des Klagerechts Drittbetroffener entwickelt worden seien, auf den vorliegenden Fall zu übertragen. Danach müsse ein Drittbetroffener binnen eines Jahres, nachdem er von dem Erlass eines begünstigenden Verwaltungsaktes sichere Kenntnis oder wenigstens die Möglichkeit hierzu erlangt habe, das statthafte Rechtsmittel einlegen. Unterbleibe dies, sei das Rechtsmittel verwirkt. Es bestehe kein Grund dafür, den Kläger anders zu behandeln als einen Dritten, der nicht Adressat des Verwaltungsaktes sei.
13Die hierzu sinngemäß gestellte Frage,
ob die Verwirkung des Klagerechts gegen einen nicht ordnungsgemäß bekanntgegebenen vermögensrechtlichen Bescheid mit Ablauf der Frist eintritt, die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für die Anfechtung einer nicht amtlich bekannt gegebenen Baugenehmigung durch einen Nachbarn läuft,
rechtfertigt keine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung. Diese Frage ist ohne Weiteres aus der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung - verneinend - zu beantworten (dazu sogleich 4. a). Dementsprechend zeigt die Beschwerdebegründung keinen rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf auf, sondern kritisiert lediglich die Rechtsanwendung des Verwaltungsgerichts im Einzelfall.
144. Darin liegt jedoch der Sache nach eine substantiierte Rüge fehlerhafter Anwendung der verwaltungsprozessualen Sachentscheidungsvoraussetzungen. Diese stellt einen Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dar, der zur Zurückverweisung der Sache führt.
15Wird mit der Grundsatzrüge ausschließlich eine fehlerhafte Anwendung von Verfahrensrecht beanstandet, aufgrund derer das Verwaltungsgericht über das Begehren des Klägers zu Unrecht nicht in der Sache entschieden habe, ist dieses Beschwerdevorbringen zugleich als Verfahrensrüge zu verstehen (vgl. dazu BVerwG, Beschlüsse vom - 6 B 64.06 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 36 Rn. 9, vom - 6 B 61.06 - Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 24 Rn. 8 und vom - 4 B 34.18 - Buchholz 310 § 70 VwGO Rn. 7).
16Wie die Beschwerdebegründung zutreffend ausführt, hat das Verwaltungsgericht die Klage zu Unrecht für unzulässig gehalten, weil es von unrichtigen Annahmen zur Verwirkung des Klagerechts ausgegangen ist. Die von ihm angewendeten Grundsätze zur Verwirkung nachbarlicher Klagerechte betreffen nicht die prozessuale Verwirkung, sondern lediglich die Bestandskraft einer Baugenehmigung (a). Die Annahme, das Klagerecht sei verwirkt, erweist sich auch nicht entsprechend § 144 Abs. 4 VwGO aus anderen Gründen als richtig. Die Voraussetzungen einer solchen Verwirkung liegen hier nicht vor (b).
17a) Wer geltend macht, durch eine Baugenehmigung, die ihm zwar nicht vorschriftsmäßig bekanntgegeben worden ist, von der er aber in anderer Weise sichere Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen müssen, in seinen Rechten verletzt zu sein, verliert seine Anfechtungsbefugnis, wenn er nicht innerhalb der Frist des § 70 Abs. 1 oder § 74 Abs. 1 i.V.m. § 58 Abs. 2 VwGO das statthafte Rechtsmittel einlegt (stRspr, vgl. 4 C 2.72 - BVerwGE 44, 294 <300 f.> und vom - 4 N 3.86 - BVerwGE 78, 85 <88 und LS 1>; Beschluss vom - 4 B 34.18 - Buchholz 310 § 70 VwGO Rn. 9). Der Verlust der Anfechtungsbefugnis nach Ablauf der Jahresfrist folgt daraus, dass der betroffene Nachbar sich so behandeln lassen muss, als sei ihm die Baugenehmigung zu dem genannten Zeitpunkt bekanntgegeben worden. Dies führt nach Verstreichen der Frist des § 58 Abs. 2 VwGO nicht zur Verwirkung des Klagerechts des Nachbarn, sondern zum Eintritt der Bestandskraft der Baugenehmigung (vgl. 4 B 34.18 - Buchholz 310 § 70 VwGO Rn. 8). Hierbei handelt es sich um eine Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben, der seine Grundlage im nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis findet (vgl. 4 C 2.72 - BVerwGE 44, 294 <299 f.> und vom - 4 N 3.86 - BVerwGE 78, 85 <88 f.>). Der Annahme der Vorinstanz, ein derartiger Verlust der Anfechtungsbefugnis könne auch in Fallkonstellationen eintreten, die nicht von diesem nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis geprägt sind, ist daher nicht zu folgen. Die Erwägung des Verwaltungsgerichts, es stehe in Fällen wie dem vorliegenden ebenfalls die Verletzung eigener Rechte im Raum und die Kenntnis von der in dem Verwaltungsakt enthaltenen Regelung sei von Bedeutung, trifft der Sache nach auf jede Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage zu (vgl. § 42 Abs. 2 sowie § 70 Abs. 1 und § 74 VwGO) und rechtfertigt die erweiternde Auslegung der im nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis wurzelnden Grundsätze nicht. Der Grundsatz von Treu und Glauben gebietet keine derartige Einschränkung der Möglichkeiten zur Anfechtung eines vermögensrechtlichen Bescheids.
18b) Die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärten Voraussetzungen der Verwirkung eines Rechts sind hier nicht gegeben. Die Verwirkung ist ein Hauptanwendungsfall des Verbots widersprüchlichen Verhaltens, wonach ein Recht nicht mehr ausgeübt werden darf, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, welche die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (stRspr, vgl. nur 10 C 2.19 - Rn. 17). Das ist insbesondere der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete ferner darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde ( 4 B 34.18 - Buchholz 310 § 70 VwGO Rn. 15).
19Das Verwaltungsgericht hat diese Voraussetzungen für die Verwirkung des Klagerechts verkannt. Nach seiner Auffassung tritt die Verwirkung schon aufgrund bloßen Zeitablaufs ein. Allein mit dem Verstreichen der Frist des § 58 Abs. 2 VwGO lässt sich die Verwirkung eines Klagerechts indessen nicht begründen. Das außerdem erforderliche Vorliegen besonderer Gründe, die die Klageerhebung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen könnte, hat das Verwaltungsgericht hingegen nicht festgestellt.
20Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, die Entscheidung der Vorinstanz aufzuheben und den Rechtsstreit nach § 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.
21Die Entscheidung über die Kosten ist der Schlussentscheidung vorzubehalten. Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2020:130320B8B2.20.0
Fundstelle(n):
IAAAH-50436