EuGH Urteil v. - C-168/19 und C-169/19

DBA Italien-Portugal: Italienische Steuerregelung zu Pensionen verstößt nicht gegen Grundsatz der Freizügigkeit

Leitsatz

Die Art. 18 AEUV und 21 AEUV stehen einer Steuerregelung nicht entgegen, die sich aus einem zwischen zwei Mitgliedstaaten geschlossenen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ergibt und wonach die Besteuerungsbefugnis dieser Staaten im Bereich der Besteuerung von Ruhegehältern danach aufgeteilt wird, ob die Empfänger eine Beschäftigung im privaten oder im öffentlichen Sektor ausgeübt haben und ob sie, im zweiten Fall, Staatsangehörige des Wohnsitzmitgliedstaats sind.

Instanzenzug: ,

Gründe

1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 18 AEUV und 21 AEUV.

2 Sie ergehen im Rahmen von zwischen Rechtsstreitigkeiten zwischen HB bzw. IC auf der einen und dem Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS) (Nationales Institut für soziale Sicherheit) auf der anderen Seite wegen der Weigerung des INPS, das Ruhegehalt der Kläger ohne Abzug italienischer Steuern auszuzahlen.

Rechtlicher Rahmen

3 Art. 18 der convenzione tra la Repubblica italiana e la Repubblica portoghese per evitare le doppie imposizioni e prevenire l’evasione fiscale in materia di imposte sul reddito (Zwischen der Italienischen Republik und der Portugiesischen Republik geschlossenes Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerumgehung auf dem Gebiet der Einkommensbesteuerung), unterzeichnet in Rom am , von der Italienischen Republik mit legge n. 562 (Gesetz Nr. 562) vom (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 224 vom ) ratifiziert (im Folgenden: Abkommen Italien-Portugal), bestimmt:

„Vorbehaltlich des Art. 19 Abs. 2 können Ruhegehälter und ähnliche Vergütungen, die einer in einem Vertragsstaat ansässigen Person für frühere unselbständige Arbeit gezahlt werden, nur in diesem Staat besteuert werden.“

4 Art. 19 Abs. 2 des Abkommens Italien-Portugal sieht vor:

„a) Die von einem Vertragsstaat oder von einer seiner politischen oder administrativen Untereinheiten oder einer lokalen Gebietskörperschaft entweder unmittelbar oder aus einem von diesen errichteten Sondervermögen an eine natürliche Person für die diesem Staat oder dieser lokalen Gebietskörperschaft geleisteten Dienste gezahlten Ruhegehälter werden nur in diesem Staat besteuert.

b) Diese Ruhegehälter können jedoch nur im anderen Vertragsstaat besteuert werden, wenn die natürliche Person in diesem Staat ansässig ist und ein Staatsangehöriger dieses Staates ist.“

Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefrage

5 HB und IC, italienische Staatsangehörige, sind ehemalige Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in Italien. Sie beziehen jeweils ein vom INPS ausgezahltes Ruhegehalt. Nachdem sie ihre Wohnsitze nach Portugal verlegt hatten, beantragten sie im Jahr 2015 beim INPS die Auszahlung des monatlichen Bruttobetrags ihres Ruhegehalts ohne Abzug der italienischen Steuer nach den Art. 18 und 19 Abs. 2 des Abkommens Italien-Portugal. Das INPS wies diese Anträge zurück, da Pensionisten des italienischen Staats nach Art. 19 dieses Abkommens im Unterschied zu italienischen Rentenbeziehern aus dem privaten Sektor in Italien besteuert werden müssten, und zwar ausschließlich in diesem Vertragsstaat. HB und IC erhoben beim vorlegenden Gericht, der Corte dei conti – Sezione Giruisdizionale per la Regione Puglia (Rechnungshof – Kammer für die Region Apulien, Italien), Klage gegen diese Entscheidungen.

6 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass das Abkommen Italien-Portugal eine offenkundige Ungleichbehandlung zwischen italienischen Rentnern des Privatsektors und italienischen Pensionisten des öffentlichen Sektors einführe, da Erstere mittelbar steuerlich günstiger behandelt würden als Zweitere, was eine Behinderung der allen Bürgern der Europäischen Union nach Art. 21 AEUV garantierten Freizügigkeit darstelle.

7 Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass die unterschiedliche steuerliche Behandlung der Ruhegehälter italienischer Staatsangehöriger, die ihren Wohnsitz nach Portugal verlegten, je nachdem ob es sich um ehemalige Beschäftigte des öffentlichen Dienstes oder der Privatwirtschaft handle, eine durch Art. 18 AEUV verbotene Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit sei, da für eine Besteuerung in Portugal für Zweitere die Voraussetzung des Wohnsitzes genüge, während Erstere zusätzlich die portugiesische Staatsangehörigkeit erwerben müssten.

8 Vor diesem Hintergrund hat die Corte dei conti – Sezione Giruisdizionale per la Regione Puglia (Rechnungshof – Kammer für die Region Apulien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende, in den beiden verbundenen Rechtssachen identische Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind die Art. 18 AEUV und 21 AEUV dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die in Bezug auf eine in einem anderen Mitgliedstaat wohnhafte Person, die ihre gesamten Einkünfte im ersten Mitgliedstaat erworben hat, aber die Staatsangehörigkeit des zweiten Mitgliedstaats nicht besitzt, die Besteuerung ihrer Einkünfte ohne die steuerlichen Vergünstigungen des zweiten Mitgliedstaats vorsieht?

Zur Vorlagefrage

9 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 18 AEUV und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach die Einkünfte einer in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Person, die ihre gesamten Einkünfte im ersten Mitgliedstaat erworben hat, aber die Staatsangehörigkeit des zweiten Mitgliedstaats nicht besitzt, ausschließlich im ersten Mitgliedstaat besteuert werden, wodurch diese Person von den steuerlichen Vergünstigungen, die der zweite Mitgliedstaat bietet, ausgeschlossen ist.

10 Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom , Gómez del Moral Guasch, C‑125/18, EU:C:2020:138, Rn. 27).

11 Zum Ersten ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht, obwohl es nicht darlegt, ob die Kläger des Ausgangsverfahrens ihren Wohnsitz nach der Beendigung ihrer Erwerbstätigkeit nach Portugal verlegt haben, davon ausgeht, dass auf ihre Situation Art. 21 AEUV über die Freizügigkeit der Unionsbürger anzuwenden ist. Durch die Heranziehung dieser Bestimmung des AEU-Vertrags scheint das vorlegende Gericht den Gerichtshof darauf hinzuweisen, dass die Verlegung des Wohnsitzes nach der Beendigung der Erwerbstätigkeit der Kläger des Ausgangsverfahrens stattgefunden hat. Der Gerichtshof wird die Vorlagefrage demnach nur im Hinblick auf diesen Umstand prüfen.

12 Zum Zweiten ist Art. 18 AEUV, in dem der Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verankert ist, entgegen dem Vorbringen der belgischen und der schwedischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende anzuwenden.

13 Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs geht nämlich hervor, dass sich jeder Unionsbürger in einer Situation, in der er die durch Art. 21 AEUV verliehene Grundfreiheit, sich in den Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, ausübt, auf das in Art. 18 AEUV enthaltene Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit berufen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Raugevicius, C‑247/17, EU:C:2018:898, Rn. 27 und 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom , TopFit und Biffi, C‑22/18, EU:C:2019:497, Rn. 29).

14 Zum Dritten ist festzustellen, dass sich aus den dem Gerichtshof übermittelten Akten ergibt, dass mit Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 des Abkommens Italien-Portugal, die den gleichen Wortlaut wie die entsprechenden Bestimmungen des OECD-Musterabkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen, in der Fassung des Jahres 2014, haben, die Besteuerungsrechte für Ruhegehälter zwischen der Italienischen Republik und der Portugiesischen Republik aufgeteilt werden sollen und diese Bestimmungen zu diesem Zweck verschiedene Anknüpfungspunkte enthalten, je nachdem ob die Steuerpflichtigen im privaten oder im öffentlichen Sektor beschäftigt waren. Die letztgenannte Gruppe von Steuerpflichtigen wird grundsätzlich in dem Mitgliedstaat besteuert, der das Ruhegehalt schuldet, es sei denn, sie sind Staatsangehörige des anderen Vertragsstaats, in dem sie ihren Wohnsitz haben.

15 Aus diesen einleitenden Bemerkungen folgt, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen möchte, ob die Art. 18 AEUV und 21 AEUV einer Steuerregelung entgegenstehen, die sich aus einem zwischen zwei Mitgliedstaaten geschlossenen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ergibt und wonach die Besteuerungsbefugnis dieser Staaten im Bereich der Besteuerung von Ruhegehältern danach aufgeteilt wird, ob die Empfänger eine Beschäftigung im privaten oder im öffentlichen Sektor ausgeübt haben und ob sie, im zweiten Fall, Staatsangehörige des Wohnsitzmitgliedstaats sind.

16 Der Gerichtshof hat in Bezug auf Vorabentscheidungsersuchen über die Frage, ob die zwischen den Unionsmitgliedstaaten geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung und im Allgemeinen mit den vom Primärrecht garantierten Verkehrsfreiheiten vereinbar sein müssen, bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen bilateraler Abkommen zur Beseitigung der Doppelbesteuerung die Anknüpfungspunkte für die Bestimmung ihrer jeweiligen Steuerhoheit festlegen können (Urteil vom , Bukovansky, C‑241/14, EU:C:2015:766, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

17 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass ein bilaterales Doppelbesteuerungsabkommen wie das Abkommen Italien-Portugal verhindern soll, dass ein und dieselben Einkünfte in beiden Vertragsstaaten des Abkommens besteuert werden, und nicht gewährleisten soll, dass die Steuern, die von dem Steuerpflichtigen in dem einen Vertragsstaat erhoben werden, nicht höher sind als diejenigen, die von ihm in dem anderen Vertragsstaat erhoben würden (vgl. entsprechend Urteil vom , Bukovansky, C‑241/14, EU:C:2015:766, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

18 Für diese Zwecke ist es für die Mitgliedstaaten nicht abwegig, die in der völkerrechtlichen Besteuerungspraxis befolgten Kriterien heranzuziehen, insbesondere – wie die Italienische Republik und die Portugiesische Republik im vorliegenden Fall, wie aus Rn. 14 des vorliegenden Urteils hervorgeht – das OECD-Musterabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen, dessen Art. 19 Abs. 2 in der Fassung des Jahres 2014 Anknüpfungspunkte wie das Kassenstaatsprinzip und die Staatsangehörigkeit vorsieht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Gilly, C‑336/96, EU:C:1998:221, Rn. 31, und vom , Sauvage und Lejeune, C‑602/17, EU:C:2018:856, Rn. 23).

19 Wenn daher in einem zwischen den Mitgliedstaaten geschlossenen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung das Kriterium der Staatsangehörigkeit in einer Bestimmung aufgeführt wird, mit der die Steuerhoheit aufgeteilt werden soll, kann diese auf die Staatsangehörigkeit gestützte Unterscheidung nicht so gewertet werden, als begründe sie eine verbotene unterschiedliche Behandlung (Urteil vom , Bukovansky, C‑241/14, EU:C:2015:766, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20 Die Festlegung des Staats, der das Ruhegehalt schuldet (Kassenstaat), als für die Besteuerung der im öffentlichen Sektor erzielten Ruhegehälter zuständigen Staates kann als solche keine nachteiligen Auswirkungen auf die betroffenen Steuerpflichtigen haben, da sich die Vorteilhaftigkeit oder Nachteiligkeit der steuerlichen Behandlung der betroffenen Steuerpflichtigen nicht so sehr aus der Wahl des Anknüpfungsfaktors, sondern aus dem Niveau der Besteuerung in dem angesichts der mangelnden unionsrechtlichen Harmonisierung der Steuersätze für die direkten Steuern zuständigen Staat ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Gilly, C‑336/96, EU:C:1998:221, Rn. 34).

21 Aus der Anwendung der durch die in den Rn. 16 bis 20 dargelegten Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt sich, dass die unterschiedliche Behandlung, die den Klägern des Ausgangsverfahrens widerfahren sein soll, die Folge der Aufteilung der Steuerhoheit zwischen den Parteien des Abkommens Italien-Portugal und der Unterschiede zwischen den Steuerordnungen dieser Vertragsparteien ist. Jedoch kann die Wahl verschiedener Anknüpfungspunkte, die zur Aufteilung der Steuerhoheit unter diesen Parteien vorgenommen wird, wie im vorliegenden Fall der Staat, der das Ruhegehalt schuldet, und die Staatsangehörigkeit, als solche nicht als begründend für eine durch die Art. 18 AEUV und 21 AEUV verbotene unterschiedliche Behandlung angesehen werden (vgl. entsprechend Urteil vom , Bukovansky, C‑241/14, EU:C:2015:766, Rn. 45).

22 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 18 AEUV und 21 AEUV einer Steuerregelung nicht entgegenstehen, die sich aus einem zwischen zwei Mitgliedstaaten geschlossenen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ergibt und wonach die Besteuerungsbefugnis dieser Staaten im Bereich der Besteuerung von Ruhegehältern danach aufgeteilt wird, ob die Empfänger eine Beschäftigung im privaten oder im öffentlichen Sektor ausgeübt haben und ob sie, im zweiten Fall, Staatsangehörige des Wohnsitzmitgliedstaats sind.

Kosten

23 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 18 AEUV und 21 AEUV stehen einer Steuerregelung nicht entgegen, die sich aus einem zwischen zwei Mitgliedstaaten geschlossenen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ergibt und wonach die Besteuerungsbefugnis dieser Staaten im Bereich der Besteuerung von Ruhegehältern danach aufgeteilt wird, ob die Empfänger eine Beschäftigung im privaten oder im öffentlichen Sektor ausgeübt haben und ob sie, im zweiten Fall, Staatsangehörige des Wohnsitzmitgliedstaats sind.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2020:338

Fundstelle(n):
VAAAH-48162