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EuGH Urteil v. - C-182/19

Instanzenzug:

Gründe

Zur Vorlagefrage

34Mit seiner Frage zweifelt das vorlegende Gericht an der Gültigkeit der Durchführungsverordnung 2016/1140.

35Vorweg ist darauf hinzuweisen, dass die von Pfizer eingeführten Waren, um die es im Ausgangsverfahren geht, wie sie in der Vorlageentscheidung beschrieben werden, mit den beiden Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140 identisch oder diesen zumindest hinreichend ähnlich sind und die Durchführungsverordnung daher anwendbar ist.

36Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union haben der Kommission, die mit den Zollsachverständigen der Mitgliedstaaten zusammenarbeitet, bei der näheren Bestimmung des Inhalts der Tarifpositionen, die für die Einreihung einer bestimmten Ware in Frage kommen, ein weites Ermessen eingeräumt. Die Kommission hat jedoch aufgrund ihrer Befugnis zum Erlass von Maßnahmen gemäß Art. 57 Abs. 4 des Zollkodex nicht das Recht, den Inhalt oder die Tragweite der Tarifpositionen zu ändern (Urteil vom , Amoena, C-677/18, EU:C:2019:1142, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37Daher ist zu prüfen, ob die Kommission dadurch, dass sie die Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140 in die KN-Unterposition 3824 90 96 und nicht in die Position 3005 eingereiht hat, den Inhalt oder die Tragweite dieser Tarifpositionen verändert hat.

38Hierzu ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass im Interesse der Rechtssicherheit und der leichten Nachprüfbarkeit das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen ist, wie sie im Wortlaut der Position der KN und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln festgelegt sind (Urteil vom , Kubota [UK] und EP Barrus, C-545/16, EU:C:2018:101, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39Zudem kann der Verwendungszweck der Ware ein objektives Tarifierungskriterium sein, sofern er dieser Ware innewohnt, was sich anhand der objektiven Merkmale und Eigenschaften der Ware beurteilen lassen muss (Urteil vom , Kubota [UK] und EP Barrus, C-545/16, EU:C:2018:101, Rn. 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

40Im vorliegenden Fall handelt es sich bei den Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140, wie sich aus dem Wortlaut der Spalte 1 der Tabelle im Anhang dieser Verordnung ergibt, um Wärme erzeugende Auflagen oder Gürtel zur Schmerzlinderung. Diese Auflagen bestehen aus einem haftenden Material, mit dem sie auf der Haut befestigt werden können, während die Gürtel aus nicht haftendem Material bestehen, das mit einem selbstklebenden Streifen befestigt wird. Diese Waren sind aus einem weichen synthetischen Material, das sich der Körperform anpasst und eine Reihe von mit Eisenpulver, Holzkohle, Salz und Wasser gefüllte Zellen enthält, die bei Kontakt mit der Luft aufgrund einer exothermischen Reaktion Wärme erzeugen.

41Nach dem Wortlaut der KN-Position 3824 sind die unter diese Position fallenden Waren Erzeugnisse, die „anderweit weder genannt noch inbegriffen“ sind.

42Daher ist vorweg zu prüfen, ob die Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140 unter die KN-Position 3005 fallen.

43Bei den Waren, die zur KN-Position 3005 gehören, handelt es sich nach deren Wortlaut um „Watte, Gaze, Binden und ähnliche Erzeugnisse (z. B. Verbandzeug, Pflaster zum Heilgebrauch, Senfpflaster), mit medikamentösen Stoffen getränkt oder überzogen oder in Aufmachungen für den Einzelverkauf zu medizinischen, chirurgischen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Zwecken“.

44Insoweit trägt Pfizer vor, dass die in Rede stehenden Waren als „ähnliche Erzeugnisse“ im Sinne dieser Position, die in ihrer Aufmachung für den Einzelverkauf zu medizinischen Zwecken gedacht seien, anzusehen seien.

45Was als Erstes das Kriterium der Aufmachung für den Einzelverkauf betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass zwar in Spalte 1 der Tabelle im Anhang der Durchführungsverordnung 2016/1140 die Aufmachung der Waren im Sinne dieser Durchführungsverordnung nicht näher erläutert wird.

46Unbestritten ist jedoch, dass diese Waren in ihrer Aufmachung für den Einzelverkauf gedacht sind, wofür im Übrigen auch die Entstehungsgeschichte dieser Durchführungsverordnung spricht.

47Was als Zweites den Ausdruck „zu medizinischen … Zwecken“ im Sinne der Position 3005 der KN anbelangt, wird dieser weder in der KN noch in ihren Erläuterungen definiert.

48Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Prüfung der Frage, ob eine Ware für medizinische Zwecke bestimmt ist, jedoch alle relevanten Aspekte des konkreten Falles zu berücksichtigen, soweit es sich dabei um dieser Ware innewohnende objektive Merkmale und Eigenschaften handelt. Als solche relevanten Aspekte sind die Verwendung, die der Hersteller für die betreffende Ware vorgesehen hat, sowie die Art und Weise und der Ort der Verwendung dieser Ware zu prüfen (vgl. entsprechend Urteil vom , Oliver Medical, C-547/13, EU:C:2015:139, Rn. 51 und 52). Genauer gesagt muss die betreffende Ware eigens zum Gebrauch für solche Zwecke hergestellt sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Nederlandsch Bevrachtingskantoor, 37/82, EU:C:1982:340, Rn. 11).

49Es ist auch darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, anhand ihres Sinns nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten Ziele zu bestimmen sind (vgl. Urteil vom , Kreyenhop & Kluge, C-471/17, EU:C:2018:681, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50Daher ist, da zum einen das Adjektiv „medizinisch“ auf den Begriff „Medizin“ Bezug nimmt und zum anderen dieser allgemein als namentlich Wissenschaft der Vorbeugung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten oder Verletzungen verstanden werden kann, davon auszugehen, dass eine Ware, die speziell zur Vorbeugung, Diagnose oder Behandlung von Krankheiten oder Verletzungen hergestellt wird, „medizinische Zwecke“ im Sinne der KN-Position 3005 verfolgt.

51Im vorliegenden Fall trifft das auf die Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140 zu. Wie sich aus ihrer Bezeichnung im Anhang dieser Durchführungsverordnung ergibt, sind diese Waren nämlich zur Schmerzlinderung mittels Wärmeerzeugung durch exothermische Reaktion bestimmt, sobald die in ihnen enthaltenen Zellen der Luft ausgesetzt werden. Somit handelt es sich um eine Form der Wärmebehandlung durch Hyperthermie, die in Anbetracht der so verschafften physiologischen Vorteile als Behandlung anerkannt ist.

52Im Übrigen stellt der Umstand, dass diese Waren gemäß der Richtlinie 93/42 als „aktive Medizinprodukte“ eingestuft werden, insoweit ein zusätzliches Indiz dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Oliver Medical, C-547/13, EU:C:2015:139, Rn. 53).

53Hingegen deutet nichts darauf hin, dass diese Waren in erster Linie darauf abzielen würden, ästhetische Verbesserungen vorzunehmen, was ein Indiz wäre, mit dem widerlegt werden könnte, dass sie für medizinische Zwecke bestimmt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Oliver Medical, C-547/13, EU:C:2015:139, Rn. 52).

54Was als Drittes die Frage angeht, ob die Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140 als „ähnliche Erzeugnisse“ wie „Watte, Gaze [oder] Binden“ im Sinne der KN-Position 3005 angesehen werden können, so bestreitet dies die Kommission, indem sie geltend macht, dass der allgemeine Zweck der zu dieser Position gehörenden Waren darin bestehe, Schmerzen oder Verletzungen zu behandeln, während auf den in Rede stehenden Waren selbst vor deren Anbringung auf der Haut zum Verbinden von Verletzungen, Prellungen oder Ödemen gewarnt werde.

55Dem kann nicht gefolgt werden. Durch den Umstand, dass diese Waren in bestimmten Fällen nicht verwendet werden sollten, lässt sich nämlich nicht in Zweifel ziehen, dass sie zur Behandlung von Schmerzen und Verletzungen dienen.

56Folglich gehören die Waren im Sinne der Durchführungsverordnung 2016/1140 zur KN-Position 3005 und können daher, wie sich aus Rn. 40 des vorliegenden Urteils ergibt, nicht unter die KN-Position 3824 fallen.

57Mithin sind diese Erzeugnisse in die KN-Position 3005 einzureihen.

58Demnach hat die Kommission durch die zolltarifliche Einreihung dieser Waren in die KN-Unterposition 3824 90 96 und nicht in die Position 3005 den Inhalt dieser Tarifpositionen verändert und die ihr durch Art. 57 Abs. 4 des Zollkodex eingeräumten Befugnisse überschritten.

59Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Durchführungsverordnung 2016/1140 ungültig ist.

Kosten

60Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Die Durchführungsverordnung (EU) 2016/1140 der Kommission vom zur Einreihung bestimmter Waren in die Kombinierte Nomenklatur ist ungültig.

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2020:243

Fundstelle(n):
OAAAH-47363