BSG Urteil v. - B 11 AL 19/18 R

Überprüfungsverfahren - Rücknahme einer Sperrzeitentscheidung - Vorliegen eines wichtigen Grundes für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses durch den Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung - ständige Rechtsprechung - abweichende Verwaltungspraxis - Nichtberücksichtigung bzw fehlerhafte Interpretation bestehender ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung

Leitsatz

Die Verpflichtung zur Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts ist nicht wegen von der Verwaltungspraxis abweichender ständiger Rechtsprechung begrenzt, wenn die Arbeitsverwaltung eine bei Erlass des Verwaltungsakts bereits bestehende ständige höchstrichterliche Rechtsprechung nicht ausreichend berücksichtigt bzw fehlerhaft interpretiert hat.

Gesetze: § 159 Abs 1 S 1 SGB 3 vom , § 159 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB 3 vom , § 330 Abs 1 Alt 2 SGB 3, § 44 Abs 1 S 1 SGB 10

Instanzenzug: Az: S 5 AL 352/18 Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 8 AL 2497/18 Urteil

Tatbestand

1Die Klägerin begehrt von der Beklagten Alg vom bis im Wege des Überprüfungsverfahrens.

2Die 1954 geborene Klägerin war bei dem D -verein aG (Arbeitgeber) versicherungspflichtig beschäftigt. Am schloss sie mit dem Arbeitgeber eine Altersteilzeitvereinbarung mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden bis zum , einer anschließenden Freistellung von der Arbeitsleistung und einem Ende des Altersteilzeitbeschäftigungsverhältnisses ohne vorherige Kündigung mit dem . Sie meldete sich zum arbeitslos und beantragte Alg. Die Beklagte stellte den Eintritt einer Sperrzeit vom bis , das Ruhen des Alg-Anspruchs während dieser Zeit und eine Minderung des Leistungsanspruchs um 180 Tage fest, weil die Klägerin ihr Beschäftigungsverhältnis ohne wichtigen Grund gelöst habe (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Alg bewilligte die Beklagte erst ab (Bescheid vom ).

3Den Antrag der Klägerin auf Überprüfung des Bescheids vom mit Hinweis auf das Urteil zur Sperrzeit bei Arbeitsteilzeitvereinbarungen ( - SozR 4-4300 § 159 Nr 3) lehnte die Beklagte ab. Da diese Entscheidung als ständige Rechtsprechung erst seit dem anzuerkennen sei und die Sperrzeit bereits mit dem geendet habe, sei keine Korrektur der Entscheidung möglich (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ).

4Das SG hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom verpflichtet, "den Sperrzeitbescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom zurückzunehmen und der Klägerin unter Änderung des Bescheides vom in der Gestalt des Bescheids vom , des Widerspruchsbescheids vom und des Bescheids vom Arbeitslosengeld in gesetzlicher Höhe auch für die Zeit vom 1.6.- zu bewilligen" (Urteil vom ). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom ). Die Klägerin könne sich auf einen wichtigen Grund berufen, weil sie entsprechend der Intention des Gesetzgebers bei der Einführung der Altersteilzeit einen nahtlosen Wechsel in den Rentenbezug beabsichtigt habe. Hiervon sei auch prognostisch auszugehen gewesen. § 330 Abs 1 SGB III stehe der Anwendung von § 44 Abs 1 SGB X nicht entgegen. Die Rechtsfrage, ob der Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung einen wichtigen Grund darstellen könne, sei bereits durch das Urteil vom (B 7 AL 6/08 R - BSGE 104, 90 = SozR 4-4300 § 144 Nr 18) geklärt gewesen. In Übereinstimmung mit früheren Entscheidungen habe das BSG ausgeführt, dass maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung des wichtigen Grundes der Abschluss des Altersteilzeitvertrags sei. Soweit in der Rechtsprechung davon ausgegangen worden sei, dass der wichtige Grund nachträglich entfallen könne, wenn nicht der ursprünglichen Absicht entsprechend nahtlos Rentenleistungen in Anspruch genommen würden, habe eine Abweichung von der Rechtsprechung des BSG vorgelegen. Der interne Vermerk der Beklagten vom zum Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungsgesetz idF der Bekanntmachung vom , BGBl I 787), auf dem die Verwaltungspraxis zur Sperrzeit bei Altersteilzeitvereinbarungen beruhte, berücksichtige die Rechtsprechung des BSG nicht hinreichend und gelange zu hiervon nicht gedeckten Schlussfolgerungen.

5Die Beklagte rügt eine Verletzung des § 330 Abs 1 SGB III. Erst mit den Urteilen vom (B 11 AL 25/16 R - SozR 4-4300 § 159 Nr 3) und (B 11 AL 17/16 R - SozR 4-4300 § 159 Nr 4) habe das BSG entschieden, dass ein wichtiger Grund für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses nicht dadurch entfalle, dass entgegen der ursprünglichen und prognostisch belegten Absicht unmittelbar nach der Altersteilzeit keine Altersrente, sondern zunächst Alg in Anspruch genommen werde. Eine Klärung dieser Rechtsfrage sei nicht bereits durch das - BSGE 104, 90 = SozR 4-4300 § 144 Nr 18) erfolgt, weil es sich nicht um eine gleichgelagerte Fallgestaltung gehandelt habe. Entsprechend habe das BSG auch im Urteil vom (B 11 AL 99/99 R - SozR 3-4100 § 152 Nr 10) bei der Frage nach dem Vorliegen einer "ständigen Rechtsprechung" darauf abgestellt, ob die betroffenen Verwaltungen eine höchstrichterliche Entscheidung auch für andere gleichgelagerte Fälle als verbindlich akzeptierten. Ihre Dienstanweisung zur "Sperrzeit bei Altersteilzeitverträgen" habe sie erst nach dem - SozR 4-4300 § 159 Nr 3) geändert und damit als ständige Rechtsprechung anerkannt.

6Die Beklagte beantragt,das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom sowie das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7Die Klägerin beantragt,die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

8Sie bezieht sich auf das Urteil des LSG.

Gründe

9Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat die Berufung der Beklagten gegen das zusprechende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig, weil die Klägerin Alg für den Zeitraum vom bis beanspruchen kann.

101. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom , mit dem es die Beklagte abgelehnt hat, den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom zurückzunehmen. Gleichfalls in die Überprüfung der Beklagten einbezogen war der hiermit in untrennbarem Zusammenhang stehende Bescheid vom , mit dem Alg erst ab bewilligt und für den davorliegenden Zeitraum vom bis abgelehnt wurde. In diesen Bescheiden ist eine einheitliche Entscheidung zur Ablehnung von Alg für den streitigen Zeitraum und zur Minderung der Anspruchsdauer um 180 Tage zu sehen, die mit dem Eintritt einer Sperrzeit und einem Ruhen des Anspruchs auf Alg begründet wurde (zur einheitlichen rechtlichen Regelung von Sperrzeitbescheid und Leistungsablehnung vgl nur - BSGE 84, 270, 271 = SozR 3-4100 § 119 Nr 19 S 93; zuletzt - BSGE 125, 170 = SozR 4-4300 § 159 Nr 5, RdNr 10). Der Bescheid vom ist nicht zum Gegenstand der Überprüfung geworden, weil er lediglich die Übernahme von Beiträgen zur privaten Krankenversicherung, nicht jedoch das hier streitige Alg, betrifft. Gleiches gilt für den Bescheid vom , mit dem für den nicht streitbefangenen Zeitraum ab höheres Alg bewilligt worden ist.

11Das Revisionsbegehren der Beklagten ist darauf gerichtet, die nach § 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 iVm § 56 SGG statthafte kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage der Klägerin (vgl zuletzt - juris RdNr 13) abzuweisen. Mit der Anfechtungsklage begehrt die Klägerin die Aufhebung des Bescheids vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom , mit dem die Beklagte die Überprüfung des Bescheids vom (in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ) sowie des Bescheids vom abgelehnt hat. Ausgehend von ihrem Antrag im erstinstanzlichen Verfahren begehrt die Klägerin mit der Verpflichtungsklage die Rücknahme des Bescheids vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom sowie die Änderung des Bescheids vom . Da die Klägerin seit Oktober 2017 eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte bezieht, geht der Senat in Auslegung des Klage- und Revisionsbegehrens (§ 123 SGG) davon aus, dass sich die Klägerin nicht (mehr) gegen die Minderung des Alg wendet. Bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem SG hat sie ausdrücklich nur Alg vom bis beantragt und in keiner Weise auf die Verfügungen zur Minderung des Anspruchs auf Alg Bezug genommen (vgl zu einer vergleichbaren Konstellation bereits - BSGE 125, 170 = SozR 4-4300 § 159 Nr 5, RdNr 10). Die Leistungsklage zielt auf die Bewilligung von Alg für den streitigen Zeitraum dem Grunde nach.

122. Der Sachentscheidung des Senats entgegenstehende Hindernisse liegen nicht vor. Insbesondere stand der Berufungsentscheidung nicht die Wertgrenze des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG entgegen. Der angefochtene Überprüfungsbescheid betrifft abgelehntes Alg für drei Monate. Ausweislich des Bescheids vom ist von einem monatlichen Alg-Zahlbetrag in Höhe von 922,80 Euro auszugehen.

133. Die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, dass die Klägerin einen Anspruch auf Rücknahme bzw Änderung der bindenden Bescheide vom (idF des Widerspruchsbescheids vom ) und vom sowie Alg für den streitigen Zeitraum hat.

14a) Rechtsgrundlage für den von ihr verfolgten Anspruch auf Alg unter Rücknahme des zur Überprüfung gestellten Bescheids vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom und Änderung des Bewilligungsbescheids vom hinsichtlich seines ablehnenden Teils ist § 330 Abs 1 Satz 1 SGB III iVm § 44 Abs 1 und Abs 4 SGB X (sämtliche Vorschriften des SGB III hier anwendbar in der ab dem geltenden Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom , BGBl I 2854). Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs 4 Satz 1 SGB X).

15b) Der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom und der Bewilligungsbescheid vom waren anfänglich, dh nach der im Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe gegebenen Sach- und Rechtslage (vgl - BSGE 85, 151, 153 = SozR 3-2600 § 300 Nr 15 S 72), rechtswidrig iS des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X. Die Beklagte hat bei Erlass dieser Bescheide das Recht unrichtig angewandt und deswegen der Klägerin Sozialleistungen in Gestalt von Alg zu Unrecht nicht erbracht.

16Die Klägerin erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen für Alg ab . Nach § 137 Abs 1 SGB III haben Arbeitnehmer Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit, wenn sie arbeitslos sind (Nr 1), sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet (Nr 2) und die Anwartschaftszeit erfüllt haben (Nr 3). Nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts war die Klägerin ab arbeitslos (§ 138 Abs 1 SGB III), hat sich am mit Wirkung zum bei der Agentur für Arbeit persönlich arbeitslos gemeldet (§ 137 Abs 1 Nr 2 SGB III, § 141 SGB III) und die Anwartschaftszeit erfüllt (§ 137 Abs 1 Nr 3 SGB III, § 142 SGB III). Ein Ruhen des Anspruchs auf Alg wegen des Eintritts einer Sperrzeit bei verspäteter Arbeitsuchendmeldung (§ 159 Abs 1 Satz 2 Nr 7 SGB III) kommt nicht in Betracht. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin ihrer Obliegenheit zur frühzeitigen Meldung auch subjektiv vorwerfbar nicht nachgekommen ist (vgl zur "doppelten Verschuldensprüfung" zuletzt - BSGE 125, 170 = SozR 4-4300 § 159 Nr 5, RdNr 13 mwN).

17Die Beklagte hat zu Unrecht ein Ruhen des Anspruchs auf Alg wegen des Eintritts einer Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe angenommen. § 159 SGB III bestimmt in Abs 1 Satz 1, dass der Anspruch auf Alg für die Dauer einer Sperrzeit ruht, wenn sich ein Arbeitnehmer versicherungswidrig verhalten hat, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben. Versicherungswidriges Verhalten liegt vor, wenn - nur dieser Tatbestand kommt hier in Betracht - der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat (Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe, § 159 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB III). Zwar hat die Klägerin ihr Beschäftigungsverhältnis gelöst, indem sie mit ihrem Arbeitgeber im Rahmen einer Altersteilzeitvereinbarung das unbefristete Arbeitsverhältnis in ein befristetes umgewandelt hat. Sie hat ihre Arbeitslosigkeit mit dem Ende der Freistellungsphase zum auch zumindest grob fahrlässig herbeigeführt, weil sie nicht mindestens konkrete Aussichten auf einen Anschlussarbeitsplatz hatte (vgl B 11a/11 AL 49/04 R - SozR 4-4300 § 144 Nr 10 RdNr 14; - BSGE 111, 1 = SozR 4-4300 § 144 Nr 23, RdNr 15).

18Die Klägerin kann sich für ihr Verhalten jedoch auf einen wichtigen Grund berufen. Dies ist bei der Lösung des Beschäftigungsverhältnisses durch Altersteilzeitvertrag der Fall, wenn der Arbeitnehmer bei Abschluss der Vereinbarung beabsichtigt, nahtlos von der Freistellungsphase der Altersteilzeit in den Rentenbezug zu wechseln und eine entsprechende Annahme bei prognostischer Betrachtung objektiv gerechtfertigt ist. Die Beurteilung des künftigen Verhaltens des Arbeitnehmers ist abhängig von seiner rentenrechtlichen Situation sowie davon, ob bzw wie er diese unter Berücksichtigung seiner Kenntnisse und Nachfragen bei sachkundigen Stellen eingeschätzt hat ( - BSGE 104, 90 = SozR 4-4300 § 144 Nr 18; - SozR 4-4300 § 159 Nr 3; - SozR 4-4300 § 159 Nr 4). Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze lag ein wichtiger Grund vor, weil die Klägerin nach den bindenden Feststellungen des LSG bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags einen nahtlosen Wechsel von der Altersteilzeit in den Rentenbezug beabsichtigt hatte. Dies wird durch die vom Berufungsgericht festgestellten objektiven Begleitumstände (Versicherungsverlauf, Modellrechnung des Arbeitgebers, Erklärungen der Klägerin) gestützt. Dass die Klägerin die Altersrente dann nicht zu dem ursprünglich vorgesehenen Zeitpunkt beantragt hat, stellt kein eigenständiges (weiteres) versicherungswidriges Verhalten im Sinne der Sperrzeitregelung dar (vgl hierzu im Einzelnen Urteil des Senats vom - B 11 AL 25/16 R - SozR 4-4300 § 159 Nr 3 RdNr 22 ff; - SozR 4-4300 § 159 Nr 4 RdNr 20).

19c) Das LSG hat auch zu Recht angenommen, dass § 330 Abs 1 SGB III einer Rücknahme der bindenden rechtswidrigen Bescheide nicht entgegensteht. § 330 Abs 1 Alt 2 SGB III schränkt den Anwendungsbereich des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ua für den Fall ein, dass der Verwaltungsakt auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Verwaltungsakts in ständiger Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden ist. Entgegen § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein derartiger Verwaltungsakt im Arbeitsförderungsrecht dann nur mit Wirkung für die Zeit nach dem Entstehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen. Von dem Anwendungsbereich des als Ausnahmevorschrift eng auszulegenden § 330 Abs 1 Alt 2 SGB III von vornherein nicht erfasst sind Fallgestaltungen, in denen die Verwaltung eine bei Erlass des Verwaltungsakts bereits bestehende ständige höchstrichterliche Rechtsprechung nicht ausreichend berücksichtigt bzw fehlerhaft interpretiert hat (vgl Aubel in jurisPK-SGB II, § 40 RdNr 129, Stand ; vgl zur engen Auslegung der Vorschrift auch B 7a AL 2/06 R - SozR 4-4300 § 330 Nr 4 RdNr 16).

20Die Verwaltungspraxis der Beklagten, also ihre Auslegung des § 159 SGB III bezogen auf die Konstellationen der Altersteilzeitvereinbarungen, stimmte bereits bei Erlass des Bescheids vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom sowie des Bescheids vom nicht mit der Rechtsprechung des BSG überein. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist nicht erst durch die - SozR 4-4300 § 159 Nr 3) und vom (B 11 AL 17/16 R - SozR 4-4300 § 159 Nr 4 RdNr 20) im Sinne einer Änderung der ständigen Rechtsprechung entschieden worden, dass ein zeitlich dem Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung nachfolgendes Verhalten des Arbeitnehmers nicht sperrzeitrelevant ist. Bereits in seinem Urteil vom hat der Senat den wichtigen Grund allein bezogen auf den das Beschäftigungsverhältnis auflösenden Akt, konkret den Zeitpunkt des Abschlusses der Aufhebungsvereinbarung, geprüft. Ausdrücklich nicht gefolgt ist der Senat der Ansicht des Berufungsgerichts, wonach ein wichtiger Grund auch darin zu sehen sei, dass die im konkreten Fall bezogene Abfindung nach Auslaufen des Alg-Bezugs für den Lebensunterhalt verwendet werden könne. Es sei mit der typisierten Zielsetzung der Sperrzeitregelung, die Risiken für die Versichertengemeinschaft vermeiden wolle, nicht zu vereinbaren, wenn bei der Prüfung, ob der Versicherte für sein Verhalten einen wichtigen Grund gehabt habe, erst auf späteres Verhalten abgestellt werde ( B 11a/11 AL 69/04 R - BSGE 95, 232 = SozR 4-4300 § 144 Nr 11, RdNr 18).

21Entgegen der Ansicht der Beklagten hat auch der 7. Senat des BSG in seinem Urteil vom bei der Prüfung des Vorliegens eines wichtigen Grundes ausschließlich auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abgestellt (B 7 AL 6/08 R - BSGE 104, 90 = SozR 4-4300 § 144 Nr 18, RdNr 14). In ihrem Vermerk vom hat die Beklagte aus der Formulierung in dieser Entscheidung, dass ein wichtiger Grund nur anerkannt werden könne, "wenn nach der Altersteilzeit auch tatsächlich eine Rente beantragt werden soll" (BSG aaO RdNr 14), unzutreffend abgeleitet, dass ein wichtiger Grund für das Herbeiführen der Arbeitslosigkeit "demnach" nicht vorliege, wenn sich der Arbeitslose nach Beendigung der Beschäftigung in Altersteilzeit arbeitslos melde, anstatt planmäßig Altersrente - ggf auch mit Abschlägen - zu beziehen. Diese Textpassage bezog sich auf die durch objektive Umstände zu unterlegende subjektive Absicht des Arbeitnehmers im Zeitpunkt des Abschlusses der Altersteilzeitvereinbarung. Das spätere Revisionsvorbringen der Beklagten, wonach das Urteil vom (aaO) bei der Frage, wann eine ständige Rechtsprechung vorliege, unberücksichtigt bleiben müsse, weil es sich nicht um eine gleichgelagerte Fallgestaltung handele bzw im konkreten Fall mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen eine Zurückverweisung erfolgt sei, greift nicht. Trotz einer Zurückverweisung kommt der im Rahmen einer Urteilsbegründung vom Gericht gegebenen Antwort auf eine Rechtsfrage eine Bindungswirkung im entschiedenen Einzelfall zu (§ 170 Abs 5 SGG). Auch kommt ihr - unbesehen der Unterschiede im jeweils zu entscheidenden Sachverhalt - eine präjudizielle Bedeutung für die vorliegend zentrale Rechtsfrage zu, auf welchen Zeitpunkt bei der Beurteilung des Vorliegens eines wichtigen Grundes abzustellen ist. Entsprechend ist den Begründungen der Urteile des Senats aus dem Jahre 2017 zu entnehmen, dass das BSG die seit jeher geltenden Grundsätze für die Annahme eines wichtigen Grundes bereits in seinem Urteil vom (B 7 AL 6/08 R - BSGE 104, 90 = SozR 4-4300 § 144 Nr 18), ebenfalls für die Fallgestaltung der Lösung des Beschäftigungsverhältnisses durch Altersteilzeitvertrag, zugrunde gelegt hat. Das Vorliegen eines wichtigen Grundes ist nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich allein bezogen auf den das Beschäftigungsverhältnis auflösenden Akt zu prüfen ( - SozR 4-4300 § 159 Nr 3 RdNr 22; - SozR 4-4300 § 159 Nr 4 RdNr 16).

22Anders als die Beklagte meint, stellen die durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz erfolgten Änderungen im Rentenrecht keine die Sperrzeitregelung berührende Rechtsänderungen dar, die maßgebenden Einfluss auf die Auslegung des wichtigen Grundes iS des § 159 SGB III durch die ständige Rechtsprechung des BSG haben konnten (vgl - SozR 4-4300 § 159 Nr 3 RdNr 20). Gleiches gilt für die Regelungen zur frühzeitigen Arbeitsuche. Lediglich mit Rücksicht auf die Bezugnahme der Vorinstanz auf ein obiter dictum aus einer älteren Entscheidung des BSG (vom - 7 RAr 112/75 - BSGE 43, 269, 274 = SozR 4100 § 119 Nr 2 S 6) hat der Senat ergänzend dargelegt, dass es auf die vom Berufungsgericht angenommene Pflicht zu weiteren Bemühungen zur Arbeitsuche im Anschluss an den das Beschäftigungsverhältnis auflösenden Akt sperrzeitrechtlich auch deshalb nicht ankommen könne, weil dies im Widerspruch zu weiteren gesetzgeberischen Grundentscheidungen, insbesondere der eigenständigen versicherungsrechtlichen Obliegenheit zur frühzeitigen Arbeitsuche, stehe ( - SozR 4-4300 § 159 Nr 3 RdNr 24).

23Bei der Beurteilung der für die Anwendbarkeit des § 330 Abs 1 SGB III zentralen Frage, ob bzw ab wann eine ständige Rechtsprechung zu einer Rechtsnorm vorliegt, kann es nicht auf das Verständnis, die Akzeptanz oder konkrete Umsetzung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung durch die Verwaltung ankommen. Ginge man hiervon aus, könnten Zeiträume der Rechtsunsicherheit, ggf bis zu einer erneuten Klarstellung durch das BSG, entstehen. Die Frage, ob die Unrichtigkeit einer iS des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X rechtswidrigen Verwaltungsentscheidung auf einer bereits vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung, einer nach Erlass dieses Verwaltungsakts erstmals gebildeten oder einer geänderten ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung beruht, ist daher im Streitfall ggf vom Revisionsgericht unter Berücksichtigung der Begründungen der jeweils vorangegangenen höchstrichterlichen Entscheidungen zu beantworten (vgl Düe in Brand, SGB III, 8. Aufl 2018, § 330 RdNr 14; - BSGE 58, 27, 33 = SozR 1300 § 44 Nr 16 S 32 zur Annahme besonders eingehender Begründungen bei Rechtsprechungsänderungen). Soweit der Senat in seiner Entscheidung vom (B 11 AL 99/99 R - SozR 3-4100 § 152 Nr 10 S 37) in anderem Zusammenhang ausgeführt hat, es komme für die Entstehung einer ständigen Rechtsprechung auf deren Akzeptanz durch die Verwaltung an, hält er hieran nicht fest (vgl zur Kritik an dieser Entscheidung bereits Pohl, VSSR 2011, 383 ff, 393; Köhler, SdL 2016, 13 ff, 24). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem vom Gesetzgeber des vormaligen § 152 AFG verfolgten Zweck dieser Regelung, die Verwaltung von massenhaft anfallenden Überprüfungsverfahren zu entlasten (vgl B 7a AL 2/06 R - SozR 4-4300 § 330 Nr 4 RdNr 16 mit Bezug auf BT-Drucks 12/5502 S 37 zu Nr 43; vgl BT-Drucks 16/3794 S 45 zur lediglich redaktionellen Änderung durch § 330 Abs 1 SGB III). Auch dies setzt jedenfalls voraus, dass die Agentur für Arbeit ihre Verwaltungspraxis an einer bereits vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung orientiert hat, weil sie andernfalls selbst den Grund für spätere Überprüfungsverfahren gesetzt hat.

24Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2019:120919UB11AL1918R0

Fundstelle(n):
NJW 2020 S. 1389 Nr. 19
NWB-Eilnachricht Nr. 39/2019 S. 2839
StuB-Bilanzreport Nr. 20/2019 S. 804
DAAAH-39553