Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach der alten Gesetzesfassung
Gesetze: § 66 Abs 1 StGB vom , § 176 Abs 1 StGB, § 176a Abs 2 Nr 1 StGB
Instanzenzug: Az: 5 StR 103/19 Beschlussvorgehend Az: 23 KLs 12/14
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, von denen zwei Monate wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten. Soweit dem Angeklagten 23 weitere Sexualstraftaten und zwei Fälle der versuchten Nötigung zum Nachteil der Nebenklägerin zur Last lagen, hat es den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die mit der Sachrüge geführte Revision der Staatsanwaltschaft richtet sich gegen den Teilfreispruch, den Strafausspruch und die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung. Der Angeklagte greift das Urteil mit seinem auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Rechtsmittel an, soweit er verurteilt worden ist. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Ihr weitergehendes Rechtsmittel und die Revision des Angeklagten sind unbegründet.
I.
2Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
31. Der seit 1982 mehrfach wegen Sexual- und Gewaltdelikten in Erscheinung getretene, seit 2009 nach § 63 StGB im Maßregelvollzug untergebrachte Angeklagte lernte die am geborene Nebenklägerin im Februar oder März 2012 über ein Internetportal kennen. Nachdem er ihr Vertrauen erlangt hatte, nutzte er Vollzugslockerungen, um eine „Art Liebesbeziehung“ mit ihr zu führen. Obwohl er um das kindliche Alter der Nebenklägerin wusste, vollzog er „jedenfalls“ am den Beischlaf mit dem zu diesem Zeitpunkt 13-jährigen Mädchen. Das Landgericht hat dies als einen schweren sexuellen Missbrauch von Kindern gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB in der ab geltenden Fassung gewertet.
42. Von der Richtigkeit der weiteren Anklagevorwürfe vermochte sich das Landgericht nicht zu überzeugen. Zwar sei es zu weiteren sexuellen Handlungen zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin gekommen. Mangels Konstanz der Aussagen der Zeugin habe aber nicht zweifelsfrei festgestellt werden können, dass diese vor Vollendung des 14. Lebensjahres der Nebenklägerin oder gegen deren Willen stattgefunden hätten. Die Strafkammer konnte auch keine Feststellungen treffen, die die Vorwürfe der versuchten Nötigung belegen. Es hat den Angeklagten deshalb insoweit aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.
53. An der Anordnung der Sicherungsverwahrung sah sich das Landgericht trotz des Vorliegens der formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB in der Fassung vom und der hangbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten für die Allgemeinheit mit Blick auf die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung gehindert. Eine Unterbringung nach § 66 StGB setze danach für den vorliegenden Tatzeitraum eine aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleitende Gefahr „schwerster“ Gewalt- oder Sexualstraftaten voraus. Dies sei hier nicht der Fall. Zwar bestehe die Gefahr, dass der Angeklagte Straftaten wie die Anlasstat begehen werde. Da diese aber einer „Art Beziehung“ entsprungen und der sexuelle Kontakt freiwillig erfolgt sei, seien die zu erwartenden Straftaten „nicht von so großer Erheblichkeit“, dass sie die Anordnung der Sicherungsverwahrung erforderlich machten.
II.
6Die Revision der Staatsanwaltschaft hat teilweise Erfolg. Soweit sie sich mit der Rüge einer fehlerhaften Beweiswürdigung gegen den Teilfreispruch und den Strafausspruch richtet, ist sie aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet. Hingegen dringt sie insoweit durch, als sie die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beanstandet.
71. Die Strafkammer hat bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung einen zu engen rechtlichen Maßstab angelegt. Zwar geht sie zutreffend davon aus, dass die Anordnung der Sicherungsverwahrung sich nach den Regelungen des § 66 Abs. 1 StGB in der zur Tatzeit (Juni 2012) geltenden Fassung vom richten (Art. 316e Abs. 1 Satz 1, Art. 316f Abs. 2 Satz 1 EGStGB), die nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden dürfen (vgl. , BGHR StGB § 66 strikte Verhältnismäßigkeit bei bis zum begangenen Anlasstaten 1). Sie hat aber verkannt, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Regel bereits dann gewahrt ist, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus den konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Angeklagten abzuleiten ist (vgl. , BVerfGE 128, 326, 406, Rn. 172). Um „schwerste“ Gewalt- oder Sexualdelikte im Sinne von Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB (vgl. insofern auch BVerfGE aaO, Rn. 173) - wie das Landgericht meint - muss es sich bei den zu erwartenden Taten mithin nicht handeln. Die Strafkammer hat sich dadurch den Blick dafür verstellt, dass Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 1, § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB im Hinblick auf die für die Tatopfer oftmals gewichtigen psychischen Auswirkungen und die hohe Strafandrohung unabhängig von körperlicher Gewaltanwendung - unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls - grundsätzlich als schwere Sexualstraftaten im Sinne der Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts zu werten sind (vgl. BGH, aaO; Urteile vom - 5 StR 617/12; vom - 5 StR 525/11, NStZ-RR 2012, 205, 206).
82. Zudem sind die Ausführungen zur Gefährlichkeitsprognose widersprüchlich. Denn das Landgericht teilt an einer Stelle des Urteils mit, dass lediglich die Gefahr der Begehung von Straftaten bestehe, die mit der Anlasstat vergleichbar sind (UA S. 124). An anderer Stelle legt es aber dar, dass - dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen folgend - von dem Angeklagten vergleichbare Sexualstraftaten zu erwarten sind, „wie er sie bereits begangen hat“ (UA S. 122). Dazu zählen neben Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern auch zwei Vergewaltigungen.
93. Der Senat hebt das Urteil deshalb mit den zugehörigen Feststellungen auf, soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist. Die verhängte Strafe kann bestehen bleiben. Denn die Strafzumessungserwägungen lassen keine Anhaltspunkte dafür erkennen, dass das Landgericht die schuldangemessene Strafe in rechtsfehlerhafter Weise wegen des Absehens von der Maßregel überschritten hätte. Vielmehr kann der Senat insbesondere angesichts der Vorstrafen und der Tatbegehung während des Maßregelvollzugs ausschließen, dass das Landgericht bei einer Anordnung der Sicherungsverwahrung eine niedrigere als die ohnehin im unteren Bereich des Strafrahmens liegende Strafe verhängt hätte (vgl. ; vom - 3 StR 679/93, BGHR StGB § 66 Strafausspruch 1).
104. Mit Blick auf die missverständlichen Ausführungen zum Normcharakter des § 66 Abs. 1 StGB weist der Senat für die neue Hauptverhandlung darauf hin, dass bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Regelung die Sicherungsverwahrung zwingend anzuordnen ist.
III.
11Die Revision des Angeklagten ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet, da die Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben hat.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2019:250919U5STR103.19.0
Fundstelle(n):
IAAAH-39547