Nichtzulassungsbeschwerde: Verfahrensmangel
Leitsatz
NV: Kommt das FG substantiierten Beweisanträgen (hier: Anträge auf —ergänzende— Zeugenvernehmung) des Klägers nicht nach, sondern geht es pauschal davon aus, dass die weitere Beweiserhebung für die Entscheidung des Streitfalls unerheblich ist, liegt ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor.
Gesetze: FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3;
Instanzenzug:
Gründe
1 Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Finanzgericht (FG) zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
2 1. Der gerügte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) in Gestalt einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht liegt vor. Denn das FG hat die ihm obliegende Pflicht zur Sachaufklärung dadurch verletzt, dass es weder die Zeugin S noch die Zeugin G (erneut) vernommen hat.
3 a) Das FG ist gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO verpflichtet, von Amts wegen den Sachverhalt zu erforschen und ihn unter allen ernstlich in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Es muss zwar nicht jeder noch so fern liegenden Erwägung nachgehen, wohl aber die sich im Einzelfall aufdrängenden Überlegungen auch ohne entsprechenden Hinweis der Beteiligten anstellen. Daher muss es substantiierten Beweisanträgen der Beteiligten in der Regel nachkommen, „ins Blaue hinein“ gestellten Beweisanträgen aber nicht (vgl. , BFH/NV 2013, 218, m.w.N.). Die Sachaufklärungspflicht ist im Falle der Nichterhebung angebotener Beweise zudem nur dann verletzt, wenn das Urteil des FG auf der unterbliebenen Beweisaufnahme beruhen kann (Senatsbeschluss vom - IX B 38/15, BFH/NV 2015, 1431).
4 b) Im Streitfall hat es das FG unterlassen, die vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) benannten Zeuginnen S und G zu den Umständen der Postaufgabe der Einspruchsentscheidung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für 1996 in der mündlichen Verhandlung (erneut) zu hören. Zutreffend hat der Kläger Beweisthema und Beweismittel benannt und dargelegt, welches Ergebnis die unterlassene Beweisaufnahme —seiner Auffassung nach— erbracht hätte und wieso dieses Ergebnis zu einer anderen Entscheidung des FG hätte führen können (vgl. dazu , BFH/NV 2018, 1155, Rz 9; Gräber/ Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 116 Rz 48 f.; Hendricks, Die Unternehmensbesteuerung 2018, 416, 418).
5 aa) In materiell-rechtlicher Hinsicht hat das FG seiner Entscheidung —zu Recht— folgende Grundsätze zu Grunde gelegt:
6 Gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs zu beweisen. Bestreitet ein Steuerpflichtiger, den Verwaltungsakt überhaupt bekommen zu haben, obliegt dem Finanzamt der volle Beweis über den Zugang. Ein Anscheinsbeweis kommt ihm hierbei nicht zugute. Eine Beweiserleichterung zugunsten des Finanzamts besteht auch nicht für den Fall, dass Verhältnisse gegeben sind, die den Zugang von Postsendungen bei normalem Postablauf nicht gewährleisten. Anders als im Falle der Behauptung eines verspäteten Zugangs des Verwaltungsakts kann von dem Adressaten des Verwaltungsakts, wenn dieser dessen Zugang bestreitet, auch nicht verlangt werden, er müsse dies substantiiert darlegen, weil er hierzu nicht in der Lage ist. Infolgedessen sind ergänzende Ausführungen des Steuerpflichtigen unbeachtlich, in denen er, nachdem er den Zugang eines Steuerbescheids bestritten hat, darlegt, aus welchen Gründen ihn der Bescheid möglicherweise nicht erreicht hat. Auch in diesem Fall kann sich die tatrichterliche Beurteilung der Frage, ob der Bescheid überhaupt zugegangen ist, nicht auf eine rechtliche Würdigung dieses möglichen, ergänzend vorgetragenen Geschehensablaufs beschränken. Es ist vielmehr notwendig, den Zugang des Verwaltungsakts mittels allgemeiner Beweisregeln nachzuweisen (, BFH/NV 2009, 1777, beginnend ab II.2.a, Rz 19 f., m.w.N.). Dieser Beweis kann auf Indizien gestützt und im Wege der freien Beweiswürdigung geführt werden. Bestimmte Verhaltensweisen des Steuerpflichtigen innerhalb eines längeren Zeitraums nach Absendung des Bescheids können im Zusammenhang mit dem Nachweis der Absendung des Bescheids vom FG dahingehend gewürdigt werden, dass —entgegen der Behauptung des Steuerpflichtigen— von einem Zugang des Bescheids ausgegangen wird (, BFH/NV 2008, 743, Rz 7; vom - X B 262/12, BFH/NV 2014, 485, Rz 15).
7 bb) Auf der Grundlage dieses materiell-rechtlichen Standpunkts hätte das FG die vom Kläger benannten Zeuginnen S und G (erneut) vernehmen müssen.
8 (1) Der Kläger hat —zumindest sinngemäß— beantragt, die (ohnehin zur mündlichen Verhandlung geladene und erschienene) Zeugin S zu den Fragen zu hören, wieso eine Recherche zur Bekanntgabeproblematik im Nachgang zur Erstellung des Aktenvermerks am erfolgte (vgl. klägerischen Schriftsatz vom , Seite 5) und vor welchem Hintergrund die Zeugin bereits zum Zeitpunkt der Erstellung der Einspruchsentscheidung für 1996 () aufgrund des beim FG Mecklenburg-Vorpommern anhängigen Verfahrens 3 K 404/13 auf die von ihr vorgenommenen Absendevermerke unter exakter Bezeichnung der verwendeten Briefumschlagsgröße sensibilisiert war (vgl. klägerischen Schriftsatz vom , Seite 2). Die Antworten auf diese Fragen hätten bei der tatrichterlichen Beurteilung der Frage, ob dem Kläger die Einspruchsentscheidung zugegangen ist, Berücksichtigung finden müssen. Dem schließt sich der Senat an. Das FG hätte diese Umstände durch ergänzende Vernehmung der Zeugin S aufklären müssen. Es durfte nicht pauschal davon ausgehen, dass die weitere Beweiserhebung „für die Entscheidung des Streitfalls unerheblich“ ist (s. im Urteil unter I.1.a gg (3.) der Entscheidungsgründe).
9 Dem steht nicht entgegen, dass die Zeugin S bereits am vom Berichterstatter als beauftragtem Richter vernommen worden war. Es kann dahinstehen, ob in der erneuten Vernehmung in der mündlichen Verhandlung am eine wiederholte Vernehmung (zum selben Beweisthema) oder nachträgliche Vernehmung i.S. des § 398 Abs. 1, 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) zu sehen gewesen wäre. Jedenfalls waren die vorgenannten tatsächlichen Umstände nicht explizit Gegenstand der Zeugenvernehmung am , so dass eine Einschränkung der Beweiserhebung nicht gerechtfertigt erscheint.
10 (2) Zudem hat der Kläger —zumindest sinngemäß— beantragt, die Zeugin G zu den Abläufen bei der Erstellung der Einspruchsentscheidung im Juni 2014 und zu den Abläufen Anfang Januar 2015 zu vernehmen (vgl. auch den klägerischen Schriftsatz vom , Seite 2, sowie den klägerischen Schriftsatz vom , Seite 5). Die Zeugin würde bestätigen, dass trotz des Verfahrens 3 K 404/13 keine Veranlassung für die Sachbearbeiterin bestanden habe, derart genaue Versendevermerke zu erstellen, und dass die Sachbearbeiter der Rechtsbehelfstelle trotz der Anweisung zur möglichst kosteneffizienten Bearbeitung in besonders alten Fällen, in denen bereits in der Vergangenheit der Erhalt eines Verwaltungsakts bestritten worden sei, eine Bekanntgabe mittels Zustellungsurkunde veranlassten. Auch die Zeugenaussage zu diesen Umständen hätte bei der tatrichterlichen Beurteilung der Frage, ob dem Kläger die Einspruchsentscheidung zugegangen ist, Berücksichtigung finden müssen. Das FG durfte den Beweisantrag des Klägers nicht unter Hinweis auf die glaubhafte Aussage der Zeugin S als von vornherein „unerheblichen Einwand“ (s. im Urteil unter I.1 a hh der Entscheidungsgründe) abtun.
11 cc) Der Kläger hat die unterbliebene (erneute) Vernehmung der Zeuginnen S und G —anders als die fehlende Zeugeneinvernahme des (im erstinstanzlichen Verfahren bevollmächtigten) Steuerberaters P— ausweislich des insoweit maßgeblichen Sitzungsprotokolls (§ 94 FGO i.V.m. § 160 Abs. 4, § 164 ZPO) in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gerügt. Ein Verlust des Rügerechts (§ 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO) ist daher nicht eingetreten.
12 c) Auf diesem Verfahrensmangel kann die Vorentscheidung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruhen. Denn auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG besteht die Möglichkeit, dass das Urteil bei mangelfreiem Verfahren anders ausgefallen wäre (vgl. dazu , BFH/NV 2010, 445, unter 2., Rz 5; Gräber/Ratschow, a.a.O., § 115 Rz 303 f.). Das FG hat seine Überzeugung von der Absendung der Einspruchsentscheidung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung für 1996 maßgebend auf die Aussage der Zeugin S gestützt. Hätte es die Zeugin S ergänzend zu den vom Kläger angeführten Umständen gehört und auch deren Sachgebietsleiterin (G) als Zeugin vernommen, wäre eine andere Entscheidung zumindest nicht auszuschließen gewesen.
13 2. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob (zudem) der Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 und § 119 Nr. 3 FGO) verletzt worden ist bzw. ob das FG gegen den klaren Inhalt der Akten (§ 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO) verstoßen hat.
14 3. Auf die Frage, ob die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (Divergenz, § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO) zuzulassen ist, kommt es ebenfalls nicht mehr an.
15 4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO).
16 5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2019:B.041019.IXB37.19.0
Fundstelle(n):
BFH/NV 2020 S. 95 Nr. 2
BAAAH-38401