Zwischenbilanz der Großen Koalition
Halbzeit und Halbwertszeit
Im Oktober dieses Jahres hatten die Große Koalition und das Parlament die erste Hälfte der 19. Legislaturperiode hinter sich gebracht. Die Halbzeit ist Anlass für eine Bilanz und auch die dazu gewählte Metapher aus dem Fussballsport erscheint nicht ganz abwegig, hatte man doch oft den Eindruck, hier spielten zwei Mannschaften gegeneinander. Dies führt uns sogleich zu der zweiten, physikalischen Metapher, der Halbwertszeit: Der Zerfall der Großen Koalition wurde oft vorausgesagt, bis zur Halbzeit hat sie aber durchgehalten und nach einem holprigen Start auch im Finanz- und Steuerwesen Fahrt aufgenommen. Den Bilanzierungsstichtag hat die Große Koalition selbst gewählt. Im Koalitionsvertrag vom heißt es zu den Zeilen 8293 bis 8296 unter der Überschrift „Evaluierung“: „Zur Mitte der Legislaturperiode wird eine Bestandsaufnahme des Koalitionsvertrages erfolgen, inwieweit dessen Bestimmungen umgesetzt wurden oder aufgrund aktueller Entwicklungen neue Vorhaben vereinbart werden müssen.“ Gemeint mit dieser unbeholfenen Formulierung war natürlich nicht eine Inventur des Koalitionsvertrags, sondern, wie sich aus der weiteren Aussage ergibt, die Bewertung der Leistungen der Koalition.
Misst man daher den Erfolg der Großen Koalition an den Vorgaben des Koalitionsvertrags, dann ist die Regierungsarbeit besser als ihr Ruf. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls eine gemeinsame Studie der Bertelsmann Stiftung und des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), die im August 2019 vorgelegt wurde. Aber gilt diese Aussage auch für das BMF, dem nach dem Koalitionsvertrag eine ganze Reihe steuerlicher Gesetzesvorhaben zugewiesen wurde? Hier gelangte dieselbe Studie zu dem eher blamablen Ergebnis, dass dieses Bundesministerium gemeinsam mit dem Ressort Kultur im Vergleich zu allen anderen am schwächsten abschnitt. So wurden die im Koalitionsvertrag erwähnten Vorhaben einer unionsgerechten Unternehmenssteuerreform sowie einer Verbesserung des Gemeinnützigkeits- und Stiftungsrechts bis zum Ende der ersten Halbzeit nicht einmal angegangen.
Mit dem als Rückführung (wohin?) bezeichneten Verzicht auf den Solidaritätszuschlag „für kleinere und mittlere Einkommen“ hat die Regierung zwar das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag eingelöst, in einem ersten Schritt 90 % der Steuerpflichtigen zu entlasten, sich aber weder zu einem zweiten Schritt geäußert noch dazu im Stande gesehen, die Öffnungsklausel aus dem Evaluierungsauftrag anzuwenden. Denn aufgrund der aktuellen Entwicklung des Steueraufkommens hätte sich durchaus auch eine Entlastung aller Steuerpflichtigen angeboten und das Risiko einer Prüfung durch das BVerfG vermeiden lassen. Die von der Großen Koalition am vorgelegte Halbzeitbilanz kommt im Wege der Selbstevaluation naturgemäß zu völlig anderen Ergebnissen, erkennt aber auch an, dass für die zweite Halbzeit im Steuerrecht noch einiges zu tun bleibt.
Hans-Joachim Kanzler
Fundstelle(n):
NWB 2019 Seite 3529
NWB AAAAH-36012