Instanzenzug: SG Dresden Az: S 42 SO 305/15 Urteilvorgehend Sächsisches Landessozialgericht Az: L 8 SO 15/16 Urteil
Tatbestand
1Im Streit ist die zuschussweise Übernahme von Kosten für die Neubeschaffung eines ausländischen Passes (Passbeschaffungskosten).
2Der 1972 geborene, erwerbsfähige Kläger ist Staatsbürger der Demokratischen Republik Kongo und verfügt über eine Niederlassungserlaubnis im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Er ist vermögenslos und bezieht laufend Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Nachdem die Gültigkeit seines kongolesischen Passes abgelaufen war, forderte ihn die Ausländerbehörde der Beklagten auf, ihr bis zum einen gültigen Pass vorzulegen, da anderenfalls eine Strafanzeige erfolgen und die Aufenthaltserlaubnis widerrufen werden könne. Hierauf beantragte der Kläger beim beklagten Sozialhilfeträger erfolglos die Übernahme der Passbeschaffungskosten (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom ). Während des laufenden Widerspruchsverfahrens beschaffte sich der Kläger einen neuen Pass. Dazu überwies er die Ausstellungsgebühren in Höhe von 170 Euro an die Botschaft der Demokratischen Republik Kongo. Für die zur Passbeschaffung durchgeführte Reise nach Berlin entstanden ihm Fahrtkosten in Höhe von 32,02 Euro.
3Das Sozialgericht (SG) Dresden hat die Klage abgewiesen (Urteil vom ). Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts <LSG> vom ). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf eine zuschussweise Übernahme der Passbeschaffungskosten. Insbesondere sei § 73 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) nicht einschlägig, da eine sog unbenannte, atypische Bedarfslage nicht vorliege. Der laufend SGB-II-Leistungen beziehende Kläger könne die Passbeschaffungskosten über die im Regelsatz berücksichtigten Aufwendungen für die Beschaffung eines Personalausweises bzw aus dem individuell einsetzbaren Ansparanteil der Regelleistung abdecken. Da er die angefallenen Kosten bereits beglichen habe, komme ein Darlehen nach § 24 Abs 1 SGB II und eine Beiladung des Jobcenters nicht in Betracht.
4Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 73 SGB XII, der auf die nicht im Regelsatz enthaltenen Passbeschaffungskosten anwendbar sei. Ausländer hätten neben den Aufwendungen für einen Pass weitere, den Personalausweiskosten ähnliche Kosten zu tragen, etwa für eine Aufenthaltskarte oder einen Aufenthaltstitel, der alle drei Jahre verlängert werden müsse, während ein Deutscher einen Personalausweis nur alle zehn Jahre benötige. Bei der Passbeschaffung handle es sich um eine verwaltungsrechtliche Pflicht, der sich ein Ausländer nicht entziehen könne. Verstöße könnten sanktioniert werden. Damit bestehe eine gewisse Nähe zur Übernahme von Bestattungskosten nach § 74 SGB XII. Auch wenn die Gewährung der Leistung im Ermessen stehe, ergebe sich bei einem verfestigten Aufenthalt ein faktischer Anspruch. Hilfebedürftige könnten nicht auf § 24 SGB II verwiesen werden, weil diese Vorschrift nur eingreife, wenn ein im Einzelfall vom Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasster Bedarf nicht gedeckt sei.
5Der Kläger beantragt,die Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts vom und des Sozialgerichts Dresden vom sowie den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Passbeschaffungskosten in Höhe von 202,02 Euro zu erstatten.
6Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.
7Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Gründe
8Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Er hat keinen Anspruch auf Erstattung der Passbeschaffungskosten nach § 73 SGB XII.
9Gegenstand des mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG) geführten Verfahrens ist der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte die Übernahme der Passbeschaffungskosten abgelehnt hat. Nicht Gegenstand des Verfahrens ist eine darlehensweise Leistungsgewährung (vgl § 24 Abs 1 SGB II), weil das Begehren des Klägers (§ 123 SGG) sich ausschließlich auf eine zuschussweise Übernahme der Passbeschaffungskosten richtet. Das LSG konnte daher von einer Beiladung des Jobcenters absehen.
10Als Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch kommt nur § 73 SGB XII in Betracht. Danach können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen (Satz 1). Geldleistungen können als Beihilfe oder als Darlehen erbracht werden (Satz 2). Die erforderliche Neubeschaffung seines ausländischen Passes löst keine "sonstige Lebenslage" im Sinne dieser Vorschrift aus. Die Kosten für die Passbeschaffung sind sowohl im SGB XII als auch im SGB II den laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt zuzuordnen.
11Eine sonstige Lebenslage iS des § 73 Satz 1 SGB XII zeichnet sich dadurch aus, dass sie vom (übrigen) Sozialleistungssystem nicht erfasst ist und damit einen "Sonderbedarf" (atypische Bedarfslage) darstellt (Bundessozialgericht <BSG> vom - B 8 SO 7/09 R - BSGE 107, 169 = SozR 4-3500 § 28 Nr 6, RdNr 13 mwN; B 8/9b SO 12/06 R - SozR 4-3500 § 21 Nr 1 RdNr 24). Die Vorschrift des § 27a Abs 4 SGB XII (in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom <BGBl I 3159>) macht deutlich, dass eine Bedarfslage, die vom Regelbedarf erfasst ist, aber beim Leistungsempfänger in atypischem Umfang besteht, durch eine vom Regelsatz abweichende Bemessung des Bedarfs gedeckt wird; eine atypische Bedarfslage iS des § 73 SGB XII ist in solchen Konstellationen nicht begründet.
12So liegt der Fall hier. Bei den Kosten für die Passbeschaffung bei Ausländern handelt sich um solche Kosten, die vom Regelbedarf (vgl § 20 Abs 1 und 2 iVm Abs 5 SGB II bzw § 27a Abs 2 Satz 1 SGB XII, jeweils iVm § 28 SGB XII) erfasst sind. Die Notwendigkeit der Beschaffung eines neuen kongolesischen Passes stellte für den Kläger deshalb keine unbenannte Bedarfslage dar ( - SozR 4-4200 § 20 Nr 24). Der Senat schließt sich der Rechtsprechung des 4. Senats an. Der Kläger bezog im Jahr 2015, als der streitige Bedarf anfiel, laufend Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. In die Ermittlung und Berechnung der ihm nach § 20 SGB II gewährten Regelbedarfsleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts waren mWv auch Verwaltungsgebühren, ua auch für die Passbeschaffung, eingeflossen.
13Die dem Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 SGB XII (Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz vom , RBEG 2011 <BGBl I 453>) zugrundeliegende Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 erfasste in der "Abt S Sonstige Waren und Dienstleistungen" in der Rubrik S/03 als "Sonstige Dienstleistungen" ua auch "sonstige Verwaltungsgebühren (zB für Personalausweis, Reisepass, Beglaubigungen) usw." (Statistisches Bundesamt, Wirtschaftsrechnungen, Fachserie 15 Heft 7, , Anlage: Erhebungsunterlagen der EVS 2008 - Haushaltsbuch, S 148, abrufbar unter https://www.destatis.de), die bei der Ermittlung des Regelbedarfs unter dem Code 1270 900 "Sonstige Dienstleistungen, nicht genannte" berücksichtigt wurden (BT-Drucks 17/3404 S 63 f; vgl -SozR 4-4200 § 20 Nr 24 RdNr 23). Der Abteilung S im Haushaltsbuch entspricht die Abteilung 12 "Andere Waren und Dienstleistungen" in der EVS 2008 sowie dem RBEG 2011 (vgl für Einpersonenhaushalte die Tabelle des § 5 Abs 1 RBEG; BT-Drucks 17/3404 S 141). Von den in der Rubrik S/03 ermittelten durchschnittlichen monatlichen Ausgaben der Referenzhaushalte (2,44 Euro) hat der Gesetzgeber des RBEG 2011 im Zuge einer wertenden Entscheidung als regelbedarfsrelevanten Anteil 0,25 Euro als Kosten für die Beschaffung eines Personalausweises berücksichtigt (BT-Drucks 17/3404 S 63 f). Mit diesem berücksichtigten Bedarf ua für "sonstige Verwaltungsgebühren" ist ein Bedarf in den Regelsatz eingeflossen, wie er seiner Art nach auch vom Kläger für seinen Pass zu decken war. Damit sind diese Kosten dem Regelbedarf und nicht einem "Sonderbedarf" (atypische Bedarfslage) im Sinne einer sonstigen Lebenslage gemäß § 73 Satz 1 SGB XII zuzuordnen ( -SozR 4-4200 § 20 Nr 24 RdNr 22 ff, 39).
14Auch die am einmalig angefallenen Fahrkosten unterfallen dem Regelbedarf, da sie in der EVS 2008 unter der Rubrik J/13 "sonstige fremde Verkehrsdienstleistungen" ua Personenbeförderung im Öffentlichen Personennahverkehr und Schienenverkehr (Eisenbahn, S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahn) erfasst (Statistisches Bundesamt, Wirtschaftsrechnungen, Fachserie 15 Heft 7, , Anlage: Erhebungsunterlagen der EVS 2008 - Haushaltsbuch, S 136) und bei der Ermittlung des Regelbedarfs in Abteilung 7 (Verkehr) unter dem Code 0730901 "Fremde Verkehrsdienstleistungen" berücksichtigt sind (BT-Drucks 17/3404 S 59).
15Die Bestimmung der Höhe des Regelbedarfs durch den Gesetzgeber im Rahmen des RBEG 2011 genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine hinreichend transparente, auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigende Bemessung der Leistungshöhe (Bundesverfassungsgericht <BVerfG> vom - 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 - BVerfGE 137, 34 = SozR 4-4200 § 20 Nr 20, RdNr 89 ff; - BSGE 111, 211 = SozR 4-4200 § 20 Nr 17, RdNr 26 ff). Bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums hat der Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum, der die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die sachgerecht zu treffende wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs umfasst (, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12, RdNr 138, 171). Der Gesetzgeber darf außerdem grundsätzlich darauf verweisen, dass punktuelle Unterdeckungen intern ausgeglichen werden, wenn ein im Regelbedarf nicht berücksichtigter Bedarf nur vorübergehend anfällt oder ein Bedarf - wie hier - deutlich kostenträchtiger ist als der statistische Durchschnittswert, der zu seiner Deckung berücksichtigt worden ist (, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 - BVerfGE 137, 34 = SozR 4-4200 § 20 Nr 20 RdNr 117 ff). Das Eintreten einer existenzgefährdenden Unterdeckung beim Kläger, der während des Widerspruchsverfahrens die Kosten für den neuen Pass beglichen hat, ist nicht ersichtlich.
16Eine erweiternde oder analoge Anwendung des § 73 SGB XII kommt mangels Regelungslücke nicht in Betracht, weil für Bedarfe, die der Sache nach vom Regelbedarf umfasst sind, neben den Fällen der abweichenden Bemessung nach § 27 Abs 4 SGB XII nur die - vom Kläger nicht gewollte - darlehensweise Gewährung von Leistungen in Betracht kommt (§ 24 Abs 1 SGB II; vgl dazu - für SozR 4 vorgesehen). Soweit § 73 Satz 1 SGB XII in der früheren Rechtsprechung des BSG aus verfassungsrechtlichen Gründen auf bestimmte Fälle eines der Höhe nach atypischen laufenden (Regel-)Bedarfs erweiternd ausgelegt worden ist, ist auch für diese Auslegung nach Schaffung einer Mehrbedarfsregelung in § 21 Abs 6 SGB II kein Bedürfnis mehr (vgl bereits - SozR 4-3500 § 73 Nr 3 RdNr 24).
17Ein Anspruch des Klägers aus § 21 Abs 6 SGB II scheidet schon deshalb aus, weil trotz fortlaufender Passpflicht der Bedarf hinsichtlich der Kosten des Passes nur im Zeitpunkt seiner Beschaffung entsteht und die Erneuerung nach zehn Jahren den Bedarf nicht zu einem "laufenden" iS des § 21 Abs 6 Satz 1 SGB II macht ( - SozR 4-4200 § 20 Nr 24, RdNr 38).
18Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2019:290519UB8SO1417R0
Fundstelle(n):
EAAAH-31761