(Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - Unwirksamkeit der Einverständniserklärung iS des § 124 Abs 2 SGG bei wesentlicher Änderung der Prozesssituation - Zurückverweisung)
Gesetze: § 62 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 124 Abs 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, Art 103 Abs 1 GG
Instanzenzug: Az: S 182 KR 3569/15 Urteilvorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 1 KR 437/17 Urteil
Gründe
1I. In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten darüber, ob der Kläger vom bis nicht als freiwilliges Mitglied, sondern als Student krankenversichert war und über die Höhe der von ihm als freiwilliges Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und sozialen Pflegeversicherung (sPV) zu zahlenden Beiträge.
2Nachdem der 1979 geborene Kläger zunächst sozialversicherungspflichtig beschäftigt war, besuchte er ab Januar 2011 im Alter von 31 Jahren ein Kolleg. Am erwarb er im Alter von 34 Jahren die allgemeine Hochschulreife. Am nahm er ein Studium auf. Ab bezieht er Grundsicherungsleistungen. Seinen am gestellten Antrag auf Aufnahme in die Krankenversicherung der Studenten lehnte die beklagte Krankenkasse ab und führte ihn als freiwilliges Mitglied. Die zu zahlenden Beiträge setzte sie nach der Mindestbemessungsgrundlage fest. Wiederholte Widersprüche des Klägers wiesen die Beklagten zurück. Das SG Berlin hat seine Klage abgewiesen (Urteil vom ). Das LSG Berlin-Brandenburg hat seine Berufung zurückgewiesen (Urteil vom ). Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG. Er rügt ua das Vorliegen eines Verfahrensfehlers, indem das LSG ohne ein durch ihn erklärtes wirksames Einverständnis ohne mündliche Verhandlung entschieden habe.
3II. 1. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig. Ihre Begründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG. Insbesondere bezeichnet sie die Tatsachen, aus denen sich der geltend gemachte Verfahrensmangel (Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Weitergehender Ausführungen zum Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler bedarf es nicht, wenn - wie hier - ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (vgl - Juris RdNr 8 mwN).
42. Die Beschwerde ist auch begründet. Das angefochtene Urteil des Berufungsgerichts ist verfahrensfehlerhaft ergangen, weil im Zeitpunkt der Entscheidung keine wirksame Einverständniserklärung vorlag und deshalb nicht ohne mündliche Verhandlung entschieden werden durfte.
5Im Berufungsverfahren kann gemäß § 155 Abs 3 SGG im Einverständnis der Beteiligten der Vorsitzende anstelle des Senats entscheiden. Ist ein Berichterstatter bestellt, so entscheidet dieser nach § 155 Abs 4 SGG anstelle des Vorsitzenden. Das Gericht entscheidet nach § 124 Abs 1 SGG, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz der Mündlichkeit enthält § 124 Abs 2 SGG. Danach kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Als Prozesshandlung muss die Einverständniserklärung klar, eindeutig und vorbehaltlos sein ( - Juris RdNr 17 mwN). Zwar hat der Kläger im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter erklärt. Die Einverständniserklärung hat jedoch im Lauf des weiteren Verfahrens ihre Wirksamkeit verloren.
6Eine Einverständniserklärung iS des § 124 Abs 2 SGG verliert ihre Wirksamkeit, wenn sich nach ihrer Abgabe die bisherige Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit die Prozesssituation wesentlich ändert. Das ist zB der Fall, wenn Zeugen vernommen, Beteiligte angehört, Auskünfte eingeholt oder Akten beigezogen werden. Dasselbe wird für den Fall angenommen, dass ein Schriftsatz des Rechtsmittelgegners mit erheblichem neuen Vorbringen oder neuen Beweismitteln oder Anträgen eingereicht wird. Da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs 1 SGG der prozessrechtliche Regelfall ist und die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Ausnahme darstellt, muss das Gericht im Entscheidungszeitpunkt von Amts wegen das Bestehen eines wirksamen Einverständnisses nach § 124 Abs 2 SGG prüfen. Die Beteiligten sind daher bei Eintritt einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht gehalten, das Gericht darauf hinzuweisen, dass ihre Einverständniserklärung unwirksam geworden ist, oder gar ihre Einverständniserklärung dem Gericht gegenüber ausdrücklich zu widerrufen (zum Ganzen BSG, aaO RdNr 18 mwN).
7Die Prozesssituation hat sich seit der Einverständniserklärung des Klägers vom wesentlich geändert.
8a) Es kann offenbleiben, ob eine wesentliche Änderung schon darin zu sehen ist, dass der Kläger mit Schreiben vom weitere Anträge formuliert hat. Zweifel an einer dadurch verursachten wesentlichen Änderung der Prozesssituation könnten sich daraus ergeben, dass die ausdrücklich gestellten Anträge des im Berufungsverfahren unvertretenen Klägers als nicht angemessen und sachdienlich iS von § 112 Abs 2 S 2 SGG angesehen werden können. So hat der Kläger ua ausdrücklich beantragt, die Beklagten zu verurteilen, "alle Handlungen zu unterlassen, welche meiner Gesundheit schaden." Selbst wenn man diesen Antrag als offensichtlich fernliegend und unsachgemäß ansehen würde, liegt eine solche Beurteilung bei dem weiteren Antrag des Klägers, "die Zusage meiner Mitgliedschaft in der studentischen Krankenversicherung vom endlich umzusetzen", jedenfalls nicht ohne weiteres auf der Hand.
9b) Eine wesentliche Änderung der Prozesssituation ist jedenfalls deshalb eingetreten, weil die Beklagten dem LSG am weitere "Folgebescheide" übersandt haben, die das LSG in den sinngemäß von ihm selbst formulierten Anfechtungsantrag des Klägers übernommen hat. Der im Klageverfahren noch anwaltlich vertretene Kläger hatte in der mündlichen Verhandlung vor dem SG Berlin am ua die Aufhebung der Bescheide der Beklagten vom in der Fassung des Bescheides vom in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom und die Aufhebung des Bescheides vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom beantragt. Darüber hinaus formulierte das LSG in dem ohne mündliche Verhandlung ergangenen Urteil des im Berufungsverfahren nicht mehr anwaltlich vertretenen Klägers als dessen sinngemäßen Antrag auch die Aufhebung der Bescheide der Beklagten vom 8.1., 28.10., 26.11., , 2.11. und . Auch wenn diese von den Beklagten als "Folgebescheide" bezeichneten Bescheide möglicherweise materiell keine relevante und entscheidungserhebliche Änderung bzw Erweiterung gegenüber dem grundlegenden klägerischen Begehren enthalten, stellt deren Einbeziehung in den sinngemäß formulierten Antrag des Klägers eine gegenüber der Situation des erklärten Einverständnisses mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung wesentliche Änderung der Prozesssituation dar. Hinzu kommt, dass nach Aktenlage nicht nachvollzogen werden kann, ob dem Kläger die per Telefax am dem LSG übermittelten "Folgebescheide" zur Kenntnis gebracht wurden bzw er über die Anforderung und Vorlage der Bescheide informiert wurde.
103. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
114. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2019:160719BB12KR10218B0
Fundstelle(n):
HAAAH-30804