Vereinbarkeit der Mindestausbildungszeit gemäß § 5 Abs. 2 Satz 3 BAföG (jetzt § 5 Abs. 2 Satz 2 BAföG) mit dem unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht
Leitsatz
Die auf den Besuch der jeweiligen Ausbildungsstätte bezogene Mindestaufenthaltsdauer des § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG ist mit dem unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht nicht vereinbar und findet auf den Besuch von Ausbildungsstätten in Mitgliedstaaten der Europäischen Union keine Anwendung.
Gesetze: § 5 Abs 2 S 3 BAföG, § 5 Abs 2 S 1 Nr 3 BAföG, Art 20 Abs 2 Buchst a AEUV, Art 21 Abs 1 AEUV, Art 267 AEUV
Instanzenzug: Thüringer Oberverwaltungsgericht Az: 1 KO 643/14 Urteilvorgehend VG Weimar Az: 5 K 1549/10 We
Tatbestand
1Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) für Studienaufenthalte in Brüssel (Belgien) und Tilburg (Niederlande) im Rahmen eines Masterstudiengangs an einer englischen Universität zusteht.
2Der Kläger studierte vom bis Ende September 2011 an der Manchester Metropolitan University im Masterstudiengang Polis European Urban Cultures. Seinen Antrag auf Gewährung von Ausbildungsförderung für Studienaufenthalte von jeweils zwei Monaten in Brüssel und Tilburg, die er im Rahmen dieses Studienganges absolvierte, lehnte die Beklagte ab, weil die Mindestausbildungsdauer nach § 5 Abs. 2 Satz 3 BAföG nicht erreicht werde.
3Nach erfolgloser Klage vor dem Verwaltungsgericht hat das Oberverwaltungsgericht dessen Urteil geändert und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger für beide Studienaufenthalte die gesetzlich vorgesehene Ausbildungsförderung zu bewilligen. Die Ausbildung in Brüssel und Tilburg sei nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BAföG förderfähig. Die zwingend zur Erreichung des Ausbildungsziels vorgeschriebenen Studienaufenthalte seien unter Berücksichtigung der europarechtlichen Freizügigkeitsregelungen nicht separat zu betrachten, so dass die insgesamt dreizehnmonatige Ausbildung den Anforderungen des § 5 Abs. 2 Satz 3 BAföG an die Mindestausbildungsdauer genüge. Sollte eine europarechtskonforme einschränkende Auslegung nicht möglich sein, müsse die nationale Vorschrift wegen Unvereinbarkeit mit den europarechtlichen Freizügigkeitsregelungen unangewendet bleiben.
4Mit der dagegen erhobenen Revision macht die Beklagte im Wesentlichen geltend, die danach mögliche Förderung eines Gesamtaufenthalts in beliebig vielen Ländern widerspreche dem Wortlaut und dem Zweck der Mindestausbildungsdauer, Sprache, Land und Leute kennenzulernen und eine sinnvolle Teilausbildung zu ermöglichen. Darauf könne auch im Falle von Kooperationen verschiedener Universitäten in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht nicht verzichtet werden. Eine Einschränkung des Freizügigkeitsrechts sei jedenfalls gerechtfertigt, weil die mit der Mindestausbildungsdauer verfolgten Zwecke auch unionsrechtlich legitim und die Regelung verhältnismäßig sei.
5Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil.
6Der Vertreter des Bundesinteresses unterstützt die Revision der Beklagten.
Gründe
7Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das Oberverwaltungsgericht hat im Ergebnis im Einklang mit Bundesrecht (§ 144 Abs. 4 VwGO) angenommen, dass der Kläger für die in Brüssel vom 1. September bis und in Tilburg vom bis absolvierten Studienaufenthalte einen Anspruch auf Ausbildungsförderung gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 des Bundesgesetzes über individuelle Förderung der Ausbildung (Bundesausbildungsförderungsgesetz - BAföG) in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 645, 1680), zuletzt geändert durch Art. 2a des Gesetzes vom (BGBl. I S. 2846), sowie für die Zeit ab dem in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 1952) hat.
8Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BAföG wird Auszubildenden, die ihren ständigen Wohnsitz im Inland haben, Ausbildungsförderung für den Besuch einer Ausbildungsstätte im Ausland geleistet, wenn eine Ausbildung an einer Ausbildungsstätte in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in der Schweiz aufgenommen oder fortgesetzt wird. Zwischen den Beteiligten steht zu Recht nicht im Streit, dass der Kläger mit den Studienaufenthalten in Brüssel und Tilburg jeweils eine in diesem Sinne förderungsfähige Ausbildung aufgenommen hat und die weiteren formellen und materiellen Voraussetzungen für die Leistung von Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz erfüllt sind. Streitig ist allein, ob die Mindestausbildungszeit gemäß § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG erfüllt ist.
9Die jeweils zweimonatigen Studienaufenthalte des Klägers in Brüssel und Tilburg genügen entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts zwar nicht der Mindestausbildungsdauer gemäß § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG (1.). Der Kläger hat aber gleichwohl einen Anspruch auf Ausbildungsförderung nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BAföG. Denn § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG findet für Ausbildungen an einer Ausbildungsstätte in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union wegen des Vorrangs des Unionsrechts keine Anwendung. Die Vorschrift ist mit dem Recht auf Freizügigkeit aus Art. 20 Abs. 2 Buchst. a, Art. 21 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV - i.d.F. der Bekanntmachung vom (ABl. EU Nr. C 115 S. 47 und BGBl. II 2008 S. 1038 <1054>; in Kraft für die Bundesrepublik Deutschland seit dem , BGBl. II S. 1223) nicht vereinbar (2.).
101. Die Studienaufenthalte des Klägers in Brüssel und Tilburg erfüllen nicht die Mindestausbildungsdauer gemäß § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG. Danach muss die Ausbildung mindestens sechs Monate oder ein Semester dauern. Bezugspunkt der in § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG geregelten Mindestausbildungsdauer ist nicht die Ausbildung insgesamt oder der gesamte im Ausland verbrachte Teil der Ausbildung, sondern der Besuch der jeweiligen Ausbildungsstätte im Ausland. Das folgt aus dem Wortlaut (a) und insbesondere dem systematischen Zusammenhang der Regelung (b). Aus dem sich aus der Entstehungsgeschichte ergebenden Sinn und Zweck ergibt sich nichts anderes (c). Der Besuch der Ausbildungsstätten in Brüssel und Tilburg ist danach jeweils nicht förderungsfähig (d).
11a) Bereits der Begriff "Ausbildung" deutet darauf hin, dass damit der Besuch einer bestimmten Ausbildungsstätte gemeint ist. Denn im Ausbildungsförderungsrecht bildet die Ausbildungsstätte den zentralen Bezugspunkt des Ausbildungsbegriffs im Sinne des § 2 BAföG (ausbildungsstättenbezogener Ausbildungsbegriff, vgl. 5 C 4.14 - Buchholz 436.36 § 7 BAföG Nr. 126 Rn. 11 m.w.N.).
12b) Der systematische Zusammenhang, in den die Regelung des § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG gestellt ist, ergibt eindeutig, dass sich die "Ausbildung" im Sinne dieser Vorschrift auf den Besuch der jeweiligen Ausbildungsstätte bezieht. Die Regelung kann sich inhaltlich und aufgrund ihrer systematischen Stellung im zweiten Absatz des § 5 nur auf dessen Satz 1 und die danach zu fördernde Ausbildung beziehen. Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 BAföG wird Ausbildungsförderung nicht für eine Ausbildung im Ausland, sondern "für den Besuch einer im Ausland gelegenen Ausbildungsstätte" geleistet. Der Besuch einer Ausbildungsstätte im Ausland stellt demnach die für alle nachfolgend erwähnten Fallgestaltungen geltende Grundvoraussetzung dar. Mithin meint das Merkmal "Ausbildung" in § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG eine Ausbildung an einer bestimmten Ausbildungsstätte. Dies ist auch § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BAföG zu entnehmen, der ebenfalls an den Besuch einer Ausbildungsstätte anknüpft und nicht etwa an eine Ausbildung.
13Für ein ausbildungsstättenorientiertes Verständnis des § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG streitet auch dessen Zusammenhang mit § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 2 BAföG. Danach muss die Ausbildung mindestens zwölf Wochen dauern, wenn sie im Rahmen einer mit der besuchten Ausbildungsstätte vereinbarten Kooperation stattfindet. Die Bestimmung bezieht die Ausbildung ausdrücklich auf eine solche an einer besuchten Ausbildungsstätte. Da es naheliegt, dass § 5 Abs. 2 Satz 3 BAföG einen einheitlichen Ausbildungsbegriff verwendet, ist auch derjenige des Halbsatzes 1 auf den Besuch einer bestimmten Ausbildungsstätte zu beziehen.
14Das bisherige Auslegungsergebnis wird bestätigt durch den systematischen Zusammenhang von § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG mit § 5 Abs. 4 BAföG. Die zuletzt genannte Bestimmung verlangt für die Förderungsfähigkeit, dass der Besuch von im Ausland gelegenen Ausbildungsstätten dem Besuch inländischer Ausbildungsstätten gleichwertig ist. Geboten ist eine institutionelle Gleichwertigkeit im Sinne eines Vergleichs von Ausbildungsstätten (vgl. 5 C 14.11 - BVerwGE 143, 314 Rn. 20 ff. m.w.N.). Bezugspunkte dieser Gleichwertigkeitsprüfung sind also Ausbildungsstätten, nicht etwa Ausbildungen. Auch dies gebietet, den Ausbildungsbegriff des § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG an dem Besuch einer bestimmten Ausbildungsstätte auszurichten. Dafür spricht auch, dass aus § 5 Abs. 4 BAföG folgt, dass der Besuch einer ausländischen Ausbildungsstätte nur dann gefördert werden kann, wenn diese förderungsrechtlich selbstständig ist, ihr also die vermittelte Ausbildung selber zugerechnet werden kann (vgl. 5 C 8.17 - NVwZ-RR 2019, 372 Rn. 8 ff.). Dieses Erfordernis bezieht sich ebenfalls auf konkrete Ausbildungsstätten.
15c) Der sich aus der Entstehungsgeschichte ergebende Sinn und Zweck der Mindestausbildungszeit steht dem bisherigen Ergebnis der Auslegung jedenfalls nicht entgegen. Die Mindestausbildungszeit soll nicht nur das Kennenlernen von Sprache, Land und Leuten (BT-Drs. 11/5961 S. 19) ermöglichen, sondern insbesondere auch eine sinnvolle Teilausbildung (BT-Drs. 14/4731 S. 31) gewährleisten. Dem ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG das Merkmal der Ausbildung nicht auf den Besuch einer konkreten Ausbildungsstätte bezieht.
16d) Die jeweils zwei Monate dauernden Studienaufenthalte des Klägers an Ausbildungsstätten in Brüssel und Tilburg erfüllen die Mindestausbildungsdauer des § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG von sechs Monaten oder einem Semester demnach nicht.
172. Der Kläger hat gleichwohl einen Anspruch auf Ausbildungsförderung aus § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BAföG für die Studienaufenthalte in Brüssel und Tilburg. Die auf den Besuch der jeweiligen Ausbildungsstätte bezogene Mindestaufenthaltsdauer des § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG ist mit dem unionsrechtlichen Recht auf Freizügigkeit nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. a, Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht vereinbar. § 5 Abs. 2 Satz 3 BAföG stellt eine Beschränkung des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts dar (a), die nach unionsrechtlichen Maßstäben nicht gerechtfertigt ist (b). Einer Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV bedarf es nicht (c). Der Vorrang des Unionsrechts führt dazu, dass die Vorschrift nicht anzuwenden ist (d).
18a) Die Mindestaufenthaltsdauer des § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG beschränkt das unionsrechtliche Recht auf Freizügigkeit nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. a, Art. 21 Abs. 1 AEUV. Nach diesen Bestimmungen hat jeder Unionsbürger und damit auch jeder deutsche Staatsangehörige das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Auf dieses Recht kann sich ein Unionsbürger auch gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat berufen. Die Mitgliedstaaten sind zwar nach Art. 165 Abs. 1 AEUV für die Lehrinhalte und die Gestaltung ihrer jeweiligen Bildungssysteme zuständig. Sie müssen aber diese Zuständigkeit unter Beachtung des Unionsrechts ausüben, und zwar insbesondere unter Beachtung des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. a, Art. 21 Abs. 1 AEUV.
19Eine Beschränkung dieses Rechts stellt es dar, wenn eine nationale Regelung eines Ausbildungsförderungssystems bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben sowie sich dort frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch machen. Die von Art. 20 Abs. 2 Buchst. a, Art. 21 Abs. 1 AEUV auf dem Gebiet der Freizügigkeit den Unionsbürgern gewährten Erleichterungen könnten nämlich nicht ihre volle Wirkung entfalten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten werden könnte, die seinem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat infolge einer Regelung seines Herkunftsstaats entgegenstehen, die ihn allein deshalb ungünstiger stellt, weil er von diesen Erleichterungen Gebrauch gemacht hat. Dies gilt angesichts des mit Art. 165 Abs. 2 Spiegelstrich 2 AEUV verfolgten Ziels, die Mobilität von Lernenden und Lehrenden zu fördern, besonders im Bereich der Bildung. Ein Mitgliedstaat hat daher, wenn er ein Ausbildungsförderungssystem vorsieht, wonach Auszubildende bei einer Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat eine Ausbildungsförderung in Anspruch nehmen können, dafür Sorge zu tragen, dass die Modalitäten der Bewilligung dieser Förderung das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht ungerechtfertigt beschränken (vgl. und C-12/06 [ECLI:EU:C:2007:626], Morgan und Bucher - Rn. 22 und 24 - 28 m.w.N.; 5 C 22.12 - BVerwGE 146, 294 Rn. 13 m.w.N.).
20Nach Maßgabe dieser unionsrechtlichen Vorgaben liegt in der Förderungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG eine Beschränkung des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts. Knüpft eine Regelung die Gewährung einer Ausbildungsförderung im Ausland wie hier an die Voraussetzung der Einhaltung einer Mindestausbildungszeit, stellt dies eine Beschränkung im Sinne von Art. 21 AEUV dar, wenn einem Antragsteller unter den gleichen persönlichen Voraussetzungen für eine vergleichbare Ausbildung in Deutschland Ausbildungsförderung gewährt würde, was hier - wie die Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt haben - der Fall ist. Eine solche Voraussetzung ist geeignet, Unionsbürger wie den Kläger von der Ausübung der Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, abzuhalten, weil er die Ausbildungsförderung zwar für eine vergleichbare Ausbildung im Inland erhalten würde, für eine Ausbildung in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union aber nur, wenn für jede besuchte Ausbildungsstätte die Mindestausbildungszeit erfüllt ist. Die mit der Mindestaufenthaltsdauer verbundenen beschränkenden Wirkungen sind auch nicht so ungewiss oder unbedeutend, dass sie deshalb keine Beschränkung der Freizügigkeit und des Rechts auf Aufenthalt darstellen würden (vgl. [ECLI:EU:C:2013:684], Elrick - Rn. 28 - 29).
21b) Die Beschränkung des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts durch das Erfordernis einer Mindestausbildungszeit gemäß § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG ist nicht gerechtfertigt. Hierfür ist nach Unionsrecht erforderlich, dass die Beschränkung der Freizügigkeit auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht. Das verlangt, dass die Beschränkung der Freizügigkeit zur Erreichung des nach Unionsrecht zulässigen ("legitimen") Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was dazu notwendig ist (vgl. und C-12/06 - Rn. 33 und vom - C-275/12 - Rn. 30 m.w.N.). Dies hat das Oberverwaltungsgericht zu Recht verneint.
22aa) Soweit der Gesetzgeber mit der Mindestausbildungsdauer gemäß § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG ausweislich der Gesetzesmaterialien gewährleistet wissen wollte, dass der Auszubildende Sprache, Land und Leute des Aufenthaltsstaates kennenlernen kann (BT-Drs. 11/5961 S. 19), knüpft er die Ausbildungsförderung an einen über die eigentliche Ausbildung hinausgehenden Nutzen. Ein solcher Mehrwert der Ausbildung im Ausland im Vergleich zu einer Inlandsausbildung ist kein legitimer Zweck im Sinne des Unionsrechts, sondern eine nicht gerechtfertigte Diskriminierung. Das nationale Recht macht damit die Ausbildungsförderung für einen grenzüberschreitenden Vorgang von höheren Anforderungen abhängig als einen rein inländischen Vorgang und behandelt jenen damit notwendig schlechter als diesen, wofür hinreichende Gründe des Allgemeinwohls nicht erkennbar sind (vgl. 5 C 22.12 - BVerwGE 146, 294 Rn. 21 f.)
23bb) Ebenso wenig ist die Beschränkung des Freizügigkeitsrechts im Hinblick auf den weiteren Zweck der Mindestausbildungszeit gerechtfertigt, zu gewährleisten, dass innerhalb der an der ausländischen Ausbildungsstätte üblichen Ausbildungsperiode eine sinnvolle Teilausbildung betrieben werden kann (BT-Drs. 14/4731 S. 31). Die Sicherung der Qualität der Ausbildung stellt zwar ein legitimes Ziel im Sinne des Unionsrechts dar. Das Erfordernis einer Mindestausbildungszeit im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG steht aber ohne Berücksichtigung von Art und Inhalt der Ausbildung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Niveau der gewählten Ausbildung, wenn eine in Deutschland absolvierte Ausbildung gefördert wird, obwohl sie das Erfordernis einer Mindestausbildungszeit nicht erfüllt. Es ist daher mangels Kohärenz im unionsrechtlichen Sinne schon nicht geeignet, die Qualität der Ausbildung zu gewährleisten (vgl. - Rn. 32 f.).
24c) Der Senat kann ohne Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Union entscheiden, dass das unionsrechtliche Freizügigkeitsrecht der Anwendung des nationalen Rechts entgegensteht. Der unionsrechtliche Maßstab für die Annahme einer Beschränkung des Freizügigkeitsrechts nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. a, Art. 21 Abs. 1 AEUV und deren Rechtfertigung lässt sich gerade auch in Bezug auf nationale Regelungen der Ausbildungsförderung - wie dargelegt - bereits aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union klar und eindeutig ("acte clair") entnehmen, sodass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (vgl. [ECLI:EU:C:1982:335], Cilfit u.a. - Rn. 16 und 21). Die davon zu unterscheidende Frage, ob die nationale Vorschrift des § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG und ihre Anwendungspraxis tatsächlich den Zielen, die sie rechtfertigen könnten, entspricht und ob die damit verbundene Beschränkung der unionsrechtlichen Freizügigkeit nicht im Hinblick auf diese Ziele unverhältnismäßig ist, ist vom nationalen Gericht zu beantworten (stRspr des EuGH, vgl. z.B. Urteil vom - C-258/08 [ECLI:EU:C:2010:308], Ladbrokes - Rn. 22 m.w.N.; s.a. 2 C 18.94 - Buchholz 232 § 80b BBG Nr. 2, vom - 8 C 15.09 - NWVBl 2011, 307 und vom - 5 C 22.12 - BVerwGE 146, 294 Rn. 27 f.).
25d) Die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit Art. 20 Abs. 2 Buchst. a, Art. 21 Abs. 1 AEUV führt mangels einer möglichen unionsrechtskonformen Auslegung zu einem Anwendungsverbot des § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG, soweit es sich um die Förderung des Besuchs einer Ausbildungsstätte in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union handelt. Eine unionsrechtskonforme Auslegung findet ihre Grenze in dem Wortlaut der jeweiligen Vorschrift und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers (vgl. 2 C 49.03 - BVerwGE 122, 244 <249>). Wie oben unter 1. dargelegt, setzt die Bewilligung von Ausbildungsförderung nach dem Wortlaut des § 5 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BAföG und dem sich aus der Systematik und der Gesetzesbegründung ergebenden Willen des Gesetzgebers stets voraus, dass die einzelne im Ausland gelegene Ausbildungsstätte mindestens ein Semester oder sechs Monate besucht wird. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede - auch spätere - entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt (vgl. [ECLI:EU:C:2013:105], Aklagaren/Fransson - NVwZ 2013, 561 m.w.N.; 5 C 22.12 - BVerwGE 146, 294 Rn. 27 ff.).
263. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung zur Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 Abs. 2 Halbs. 1 VwGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2019:170719U5C8.18.0
Fundstelle(n):
NJW 2020 S. 82 Nr. 1
JAAAH-30261