BVerwG Urteil v. - 4 C 2/18, 4 C 3/18

Inhalt einer Rechtsbehelfsbelehrung nach § 58 Abs. 1 VwGO; Vorlagepflicht an den Gemeinsamen Senat

Leitsatz

§ 58 Abs. 1 VwGO verlangt keine Belehrung über den Beginn der einzuhaltenden Frist.

Gesetze: § 58 Abs 1 VwGO, § 2 Abs 1 RsprEinhG

Instanzenzug: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Az: 8 S 1294/17 Urteilvorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Az: 8 S 1295/17 Urteilvorgehend VG Sigmaringen Az: 9 K 206/16 Urteilvorgehend VG Sigmaringen Az: 9 K 220/16 Urteil

Tatbestand

1Die Klägerin wendet sich gegen die Fälligstellung von Zwangsgeldern sowie die Androhung weiterer Zwangsgelder wegen Nichtbeachtung bauaufsichtlicher Rückbauanordnungen.

2Am erließ die Beklagte gegenüber der Klägerin als Eigentümerin eines Grundstücks zwei bauordnungsrechtliche Rückbau- und Wiederherstellungsverfügungen. Zur Erfüllung der auferlegten Verpflichtungen setzte sie der Klägerin jeweils eine Frist von einem Monat nach Bestandskraft der Entscheidung und drohte für den Fall der Nichtbefolgung ein Zwangsgeld an.

3Beide Bescheide enthielten eine Rechtsmittelbelehrung folgenden Wortlauts:

"Gegen diese Entscheidung ist der Widerspruch gegeben, der innerhalb eines Monats bei der Stadt Rottenburg am Neckar mit Sitz in 72108 Rottenburg am Neckar schriftlich oder zur Niederschrift erhoben werden kann."

4Die Bescheide gingen der Klägerin im April 2015 zu. Über ihre im Januar 2016 erhobenen Widersprüche ist noch nicht entschieden.

5Im Juli 2015 stellte die Beklagte fest, dass die Verpflichtungen aus den Anordnungen von der Klägerin nicht erfüllt worden waren. Sie stellte daher mit den beiden streitgegenständlichen Bescheiden die angedrohten Zwangsgelder fällig und drohte weitere Zwangsgelder an. Die hiergegen eingelegten Widersprüche blieben erfolglos.

6Auf die von der Klägerin erhobenen Klagen hat das Verwaltungsgericht die Bescheide aufgehoben. Die den Vollstreckungsbescheiden zugrunde liegenden Grundverfügungen vom seien nicht unanfechtbar geworden, denn die Rechtsmittelbelehrung in den Bescheiden sei unrichtig gewesen. Es fehle der nach § 58 Abs. 1 VwGO erforderliche Hinweis auf den Beginn der Widerspruchsfrist. Die folglich gemäß § 58 Abs. 2 VwGO geltende Jahresfrist sei gewahrt.

7Auf die Berufung der Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof die Urteile geändert und die Klagen abgewiesen. Die den Grundverfügungen beigefügten Rechtsmittelbelehrungen seien nicht unrichtig gewesen. § 58 Abs. 1 VwGO verlange nur die Angabe der maßgeblichen Rechtsbehelfsfrist, nicht aber eine Belehrung über den Fristbeginn.

8Mit der vom Verwaltungsgerichtshof jeweils zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, dass die Rechtsmittelbelehrungen unrichtig gewesen seien, denn diese hätten zwingend auch eine Belehrung über den Beginn der Widerspruchsfrist enthalten müssen. Ohne einen solchen Hinweis könne eine Rechtsmittelbelehrung irreführend sein. § 58 VwGO beruhe auf dem Gedanken, dass niemand aus Rechtsunkenntnis eines Rechtsbehelfs verlustig gehen solle. Ohne Hinweis auf den Beginn der Rechtsmittelfrist aber habe die (rechtsunkundige) Klägerin nicht erkennen können, wann die Rechtsbehelfsfrist für sie zu laufen beginne.

9Die Beklagte verteidigt die angefochtenen Urteile.

10In der mündlichen Verhandlung hat der Senat die Verfahren BVerwG 4 C 2.18 und 4 C 3.18 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Gründe

11Die zulässigen Revisionen sind unbegründet. Die Berufungsurteile stehen mit Bundesrecht im Einklang.

121. Die den Bescheiden vom beigefügten Rechtsmittelbelehrungen genügen den Anforderungen des § 58 Abs. 1 VwGO. Die Angabe des Beginns der einzuhaltenden Frist ist nicht gefordert.

13Nach § 58 Abs. 1 VwGO beginnt die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist. Der Senat stimmt mit dem Berufungsgericht darin überein, dass sich weder dem Wortlaut noch dem systematischen Zusammenhang noch der Entstehungsgeschichte des § 58 Abs. 1 VwGO eine eindeutige Antwort darauf entnehmen lässt, ob die Belehrung über die einzuhaltende Frist auch einen Hinweis auf deren Beginn enthalten muss. Immerhin kann festgestellt werden, dass im Wortlaut der Norm ein solcher Hinweis nicht angelegt ist und der Senat § 58 Abs. 1 VwGO bisher restriktiv ausgelegt hat (vgl. 4 C 74.74 - Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 31). Auch der Begriff der Frist führt zu keinem anderen Ergebnis, denn nach dem Sprachgebrauch des Bürgerlichen Gesetzbuches, auf den nach § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO abzustellen ist, bestimmt eine Frist einen abgegrenzten, bestimmten oder jedenfalls bestimmbaren Zeitraum (vgl. bereits RG, Urteil vom - III 426/27 - RGZ 120, 355 <362>). Das sind in der Verwaltungsgerichtsordnung Wochen (z.B. § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO), Monate (z.B. § 70 Abs. 1, § 74 Abs. 1, § 124a Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 VwGO etc.) oder ein Jahr (z.B. § 60 Abs. 3 VwGO). Ein Erfordernis, zumindest das für den Fristbeginn maßgebliche Ereignis zu benennen, lässt sich hieraus nicht ableiten.

14Das bedarf indessen keiner Vertiefung, denn jedenfalls nach Sinn und Zweck des § 58 VwGO ist eine Belehrung über den Fristbeginn nicht erforderlich. Die Vorschrift beruht auf dem Gedanken, dass niemand aus Rechtsunkenntnis eines Rechtsbehelfs verlustig gehen soll (Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 58 Rn. 1). Mit Blick auf die Belehrung über die einzuhaltende Frist bedeutet das, dass durch die Rechtsbehelfsbelehrung die Versäumung der für den Rechtsbehelf maßgeblichen Frist verhindert werden soll. Dem Beteiligten soll vor Augen geführt werden, dass er einerseits zwar nicht sofort gegen eine ihn belastende Entscheidung vorgehen muss, dass er aber andererseits auch nicht unbegrenzt Zeit für einen Rechtsbehelf hat ( 3 C 23.08 - BVerwGE 134, 41 Rn. 14). Damit ist eine Warnfunktion verbunden. Der Belehrte soll auf den drohenden Rechtsverlust bei Fristablauf aufmerksam gemacht und veranlasst werden, sich alsbald Rechtsrat einzuholen oder sich anders über die konkreten Fristanforderungen des Rechtsbehelfs zu informieren (vgl. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 37 Rn. 180).

15§ 58 VwGO bezweckt demgegenüber nicht, eine Rechtsmittelbelehrung zu sanktionieren, die dem Beteiligten die konkrete Fristberechnung nicht bereits aus sich heraus ermöglicht. Im Hinblick auf die in Betracht kommenden unterschiedlichen fristauslösenden Ereignisse (Bekanntgabe oder Zustellung) und Modalitäten (etwa Übermittlung durch die Post, § 41 Abs. 2 VwVfG; öffentliche Bekanntgabe, § 41 Abs. 4 VwVfG; Zustellung durch die Post oder mittels Empfangsbekenntnis, §§ 3 ff. VwZG) ist eine konkrete Belehrung über den Fristbeginn in der Regel gar nicht möglich und wäre im Übrigen fehleranfällig. Durch einen nur allgemein gehaltenen Hinweis auf die in Betracht kommenden fristauslösenden Ereignisse wäre für den rechtsunkundigen Adressaten des Verwaltungsakts nichts gewonnen. Der Senat hält deshalb an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, dass § 58 Abs. 1 VwGO auch in Bezug auf die einzuhaltende Frist eng auszulegen ist und eine Rechtsmittelbelehrung, die - wie hier - keinen Hinweis auf den Beginn der einzuhaltenden Frist beinhaltet, nicht allein deshalb gegen § 58 Abs. 1 VwGO verstößt. Hiervon ist das Bundesverwaltungsgericht auch schon in der Vergangenheit ausgegangen, wenngleich seine diesbezüglichen Ausführungen entweder nicht zu § 58 VwGO ergangen sind ( 7 C 20.61 - NJW 1962, 1218 zu §§ 32, 39 Hess.VGG) oder jedenfalls nicht entscheidungstragend waren (vgl. 6 C 162.82 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 132 und vom - 8 C 92.83 - NVwZ 1985, 900; Beschlüsse vom - 6 C 47.69 - Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 19, vom - 7 B 58.73 - Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 25, vom - 7 B 151.75 - Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 30, vom - 8 C 70.88 - NJW 1991, 508 <509> und vom - 8 B 16.99 - Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 73).

16Die Klägerin hält dem entgegen, dass ohne einen Hinweis auf den Beginn der einzuhaltenden Frist eine Rechtsmittelbelehrung irreführend sein könne, denn in diesem Fall könne der Betroffene nicht erkennen, wann die Rechtsbehelfsfrist für ihn zu laufen beginne; es drohe der Verlust des Rechtsbehelfs. Dem folgt der Senat nicht. Eine Rechtsmittelbelehrung muss, um § 58 Abs. 1 VwGO zu genügen, nicht allen tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten Rechnung tragen und muss dem Beteiligten nicht jede eigene Überlegung ersparen ( 4 C 40.70 - Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 23 und vom - 4 C 74.74 - Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 31 S. 7 f.). Auch ist nicht ersichtlich, inwiefern eine Rechtsmittelbelehrung, die keinen Hinweis auf den Beginn der einzuhaltenden Frist enthält, irreführend, d.h. geeignet sein soll, bei dem Betroffenen einen Irrtum über die formellen und materiellen Voraussetzungen des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs hervorzurufen und ihn dadurch abzuhalten, den Rechtsbehelf überhaupt, rechtzeitig und in der richtigen Form einzulegen (vgl. hierzu etwa 4 C 2.01 - Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 83 S. 16 m.w.N.; Beschluss vom - 2 B 61.14 - Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 92 Rn. 8). Soweit die Klägerin schließlich auf das Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern vom zu neuen Mustern für die Belehrung über Rechtsbehelfe nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz und darauf verweist, dass dort auch die Angabe des Beginns der Rechtsbehelfsfrist ("ab Bekanntgabe") enthalten sei, ist darauf zu antworten, dass diese Belehrungsmuster vor dem Hintergrund der vom Senat vorgenommenen verbindlichen Normauslegung (vgl. dazu - BVerfGE 135, 1 Rn. 45) über das von § 58 Abs. 1 VwGO Geforderte hinausgehen.

172. Für den Senat bestand keine Vorlagepflicht nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RSprEinhG).

18Nach dieser Vorschrift entscheidet der Gemeinsame Senat, wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats abweichen will. Die Rechtsfrage muss sich auf der Grundlage von Vorschriften stellen, die in ihrem Regelungsgehalt gänzlich übereinstimmen und nach denselben Prinzipien auszulegen sind. Darüber hinaus muss die Rechtsfrage sowohl für den erkennenden Senat in der anhängigen Sache als auch für den divergierenden Senat in der bereits entschiedenen Sache entscheidungserheblich sein. Eine i.S.v. § 2 Abs. 1 RSprEinhG erhebliche Abweichung liegt nur vor, wenn es für die eine wie für die andere Entscheidung auf den Punkt, in dem die Meinungen auseinandergehen, tragend ankommt ( 4 C 25.75 - Buchholz 445.4 § 31 WHG Nr. 4; - juris Rn. 32). An letztgenannter Voraussetzung fehlt es hier.

19Der Bundesfinanzhof ( - BFH/NV 1987, 12, vom - V R 19/85 - juris, vom - XR 18/05 - BFHE 212, 407, vom - VIII B 228/09 - BFH/NV 2010, 2080 und vom - III R 63/10 - BFH/NV 2014, 12 jeweils zu § 55 FGO; - BFH/NV 1996, 106; ferner Urteil vom - IX R 48/98 - NVwZ 2001, 960 = juris Rn. 8 zu § 356 AO 1977 und - BFH/NV 2015, 1074 = juris Rn. 15 zu § 356 AO) und das Bundessozialgericht ( - BSGE 79, 293 zu § 66 SGG und vom - B 14 AS 46/13 R - BSGE 115, 288 zu § 85 Abs. 3 Satz 4 SGG) hatten sich zwar wiederholt mit den Anforderungen an Rechtsmittelbelehrungen nach Vorschriften in ihren Verfahrensordnungen zu befassen, die mit § 58 VwGO vergleichbar sind. In keinem Fall handelte es sich jedoch um vergleichbare Rechtsbehelfsbelehrungen; gegenständlich waren vielmehr stets solche Belehrungen, die einen irgendwie gearteten Hinweis auf den Beginn der Rechtsbehelfsfrist enthielten. Die Rechtsfrage, ob eine Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig ist, weil sie keinen Hinweis auf den Beginn der Rechtsmittelfrist enthält, war in keinem dieser Verfahren entscheidungserheblich; die Ausführungen zum Erfordernis der Angabe des fristauslösenden Ereignisses stellen sich daher durchgängig als obiter dicta dar.

20Gleiches gilt für die Beschlüsse des Kartellsenats des (NVwZ-RR 2014, 449) und EnVR 24/13 (EnWZ 2014, 315) -; in diesen Entscheidungen ging es zudem um den hier nicht gegebenen Fall einer Rechtsbehelfsbelehrung bei öffentlicher Bekanntgabe.

213. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2019:090519U4C2.18.0

Fundstelle(n):
XAAAH-27719