BSG Urteil v. - B 11 AL 18/18 R

Arbeitslosengeldanspruch - Mindestbemessungsentgelt - Bewilligung von Arbeitslosengeld in den letzten 2 Jahren vor Anspruchsentstehung - Nichtauszahlung des Arbeitslosengeldes wegen Ruhens - Entstehung eines Stammrechts

Leitsatz

Hat innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld ein Stammrecht auf Arbeitslosengeld bestanden, ist Bemessungsentgelt mindestens das der Berechnung des Arbeitslosengelds aus diesem Stammrecht zugrunde liegende Entgelt.

Gesetze: § 151 Abs 4 SGB 3

Instanzenzug: Az: S 84 AL 609/14 Urteilvorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 18 AL 26/18 Beschluss

Tatbestand

1Die Klägerin begehrt für die Zeit vom bis höheres Alg. Im Streit ist, ob der Berechnung anstelle des Verdienstes aus der letzten anwartschaftsbegründenden Beschäftigung das Bemessungsentgelt aus einem früher erworbenen Stammrecht zugrunde zu legen ist.

2Das Arbeitsverhältnis der Klägerin, die seit März 1979 bei der Deutschen Telekom AG beschäftigt war, endete am durch Aufhebungsvertrag gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe von 215 589,83 Euro. Zum meldete sich die Klägerin arbeitslos und beantragte Alg. Die Beklagte bewilligte Alg (erst) ab in Höhe eines täglichen Leistungsbetrages von 47,78 Euro, ausgehend von einem täglichen Bemessungsentgelt von 136,58 Euro (Bescheid vom ). Vom bis ruhe der Anspruch wegen des Eintritts von Sperrzeiten und wegen der Berücksichtigung der Entlassungsentschädigung. Nachdem die Klägerin bereits am eine bis zum andauernde befristete Beschäftigung aufgenommen hatte, hob die Beklagte die Bewilligung auf (Bescheid vom ), ohne dass es zu einer Auszahlung von Alg gekommen war.

3Zum meldete sich die Klägerin erneut arbeitslos und beantragte Alg, das die Beklagte für die Zeit ab in Höhe eines täglichen Leistungsbetrages von 28,30 Euro auf der Grundlage eines täglichen Bemessungsentgelts von 70,12 Euro bewilligte (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Der Leistungsbezug der Klägerin endete zum wegen der Aufnahme einer neuen Beschäftigung zum . Klage und Berufung, gerichtet auf höheres Alg unter Berücksichtigung des der Bewilligung aus 2012 zugrunde liegenden Bemessungsentgelts, blieben erfolglos (; ). Zur Begründung führten die Vorinstanzen aus, die Klägerin habe am ein (neues) Stammrecht auf Alg erworben. Für die Bemessung der Leistung sei der Verdienst im einjährigen Bemessungsrahmen vom bis maßgebend. Eine Bemessung nach § 151 Abs 4 SGB III unter Berücksichtigung des höheren Bemessungsentgelts der früheren Bewilligung habe nicht zu erfolgen, denn dies setze einen tatsächlichen Alg-Bezug in den letzten zwei Jahren vor der Entstehung des neuen Alg-Anspruchs voraus, der hier nicht vorliege.

4Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 151 Abs 4 SGB III. Die Vorschrift sei vorliegend anwendbar, denn es genüge, dass ein Stammrecht auf Alg bestanden habe, das nach einem höheren Bemessungsentgelt bemessen worden sei. Dass die Leistung tatsächlich zumindest für einen Tag ausgezahlt worden sein müsse, finde keine zwingende Stütze in Wortlaut oder Systematik der Norm. Dies widerspräche auch dem Ziel, einen Anreiz zu schaffen, eine neue Beschäftigung aufzunehmen, ohne Gefahr zu laufen, im Falle erneuter Arbeitslosigkeit bei Erwerb eines neuen Anspruchs eine geringere Lohnersatzleistung zu erhalten.

5Die Klägerin beantragt,die Beklagte unter Aufhebung des Beschlusses des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom sowie des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom sowie unter Abänderung des Bescheides vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom zu verurteilen, ihr vom bis ein höheres Arbeitslosengeld nach dem mit Bescheid vom zugrunde gelegten höheren Bemessungsentgelt von 136,58 Euro täglich zu gewähren.

6Die Beklagte beantragt,die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

7Sie hält den Beschluss des LSG für zutreffend.

Gründe

8Die Revision der Klägerin ist zulässig und begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Entgegen der Auffassung von SG und LSG besteht ein Anspruch der Klägerin auf höheres Alg für den streitbefangenen Zeitraum.

9Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom . Gegen diesen Bescheid wendet sich die Klägerin zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGG). Sie begehrt für den Zeitraum vom bis höhere Geldleistungen, was auch im Höhenstreit dem Grunde nach (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG), also ohne exakte Bezifferung, zulässig ist (vgl zuletzt - SozR 4-4300 § 150 Nr 4 RdNr 10; - RdNr 13).

10Es besteht ein Anspruch der Klägerin auf höheres Alg vom bis , denn der Bemessung des Alg ist ein Bemessungsentgelt in Höhe von 136,58 Euro anstelle von 70,12 Euro zugrunde zu legen. Die - auch in einem Höhenstreit stets zu prüfenden (stRspr; vgl nur - SozR 4-4300 § 150 Nr 4 RdNr 12; - RdNr 14) - Anspruchsvoraussetzungen für Alg liegen dem Grunde nach vor. Der Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit setzt gemäß § 137 SGB III (anwendbar ist hier das SGB III in der seit dem geltenden Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom - BGBl I 2854) voraus, dass Arbeitnehmer (1.) arbeitslos sind, (2.) sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und (3.) die Anwartschaftszeit erfüllt haben. Die Klägerin hat sich zum arbeitslos gemeldet (§ 141 SGB III) und ist nach dem Gesamtzusammenhang der tatsächlichen Feststellungen des LSG arbeitslos iS von § 138 SGB III gewesen.

11Die Klägerin erfüllt auch die Anwartschaftszeit. Diese hat erfüllt, wer in der Rahmenfrist mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat (§ 142 Abs 1 SGB III). Die Rahmenfrist beträgt im Grundsatz zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg (§ 143 Abs 1 SGB III). Sie reicht allerdings nicht in eine vorangegangene Rahmenfrist hinein, in der die oder der Arbeitslose die Anwartschaftszeit erfüllt hatte (§ 143 Abs 2 SGB III). Danach verläuft die Rahmenfrist hier vom bis , denn in der Zeit vor dem liegt eine vorangegangene Rahmenfrist mit erfüllter Anwartschaftszeit. Aufgrund der Arbeitslosmeldung zum , der Beantragung von Alg und dem Eintritt von Arbeitslosigkeit war diese vorangegangene Anwartschaftszeit Grundlage eines ab dem bestehenden Stammrechts auf Alg (näher dazu sogleich). Eine neue Anwartschaftszeit hat die Klägerin zum gleichwohl erfüllt, denn sie stand auch innerhalb dieser verkürzten Rahmenfrist mehr als zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis, nämlich vom bis .

12Zu Unrecht hat die Beklagte das Alg ab aber nur in Höhe von täglich 28,30 Euro, ausgehend von einem täglichen Bemessungsentgelt von 70,12 Euro, gewährt. Zwar fehlen konkrete Feststellungen des LSG zum abgerechneten Verdienst der Klägerin in dem zu berücksichtigenden Bemessungsrahmen, sodass dem Senat eine Überprüfung der Höhe dieses Bemessungsentgelts im Einzelnen nicht möglich ist. Einer Zurückverweisung der Streitsache an das LSG, um diese Feststellungen nachzuholen, bedarf es indes nicht, denn nach § 151 Abs 4 SGB III ist hier ohnehin das von der Klägerin geltend gemachte Bemessungsentgelt in Höhe von 136,58 Euro täglich zu berücksichtigen.

13Die Höhe des Alg bestimmt sich nach § 149 SGB III, wonach das Alg für Arbeitslose, abhängig davon, ob sie ein Kind iS des § 32 Abs 1, 3 bis 5 EStG haben, 60 % (allgemeiner Leistungssatz) oder 67 % (erhöhter Leistungssatz) des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt) beträgt, das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das die oder der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt). Der Bemessungszeitraum umfasst die beim Ausscheiden aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltzeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen (§ 150 Abs 1 SGB III). Das Bemessungsentgelt ist das durchschnittlich auf den Tag entfallende beitragspflichtige Arbeitsentgelt, das die oder der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (§ 151 Abs 1 Satz 1 SGB III). Haben Arbeitslose aber innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs Alg bezogen, ist Bemessungsentgelt mindestens das Entgelt, nach dem das Alg zuletzt bemessen worden ist (§ 151 Abs 4 SGB III).

14Ein solcher Fall des § 151 Abs 4 SGB III liegt hier vor. Der Klägerin war innerhalb der letzten zwei Jahre vor dem - der Entstehung des hier streitbefangenen Anspruchs auf Alg - bereits Alg zuerkannt worden, das nach einem täglichen Bemessungsentgelt von 136,58 Euro zu bemessen war, was sich aus dem Bescheid vom ergibt. Zwar ruhte dieser Anspruch vom bis wegen des Eintritts von Sperrzeiten und darüber hinaus bis zum wegen des Erhalts einer Entlassungsentschädigung, sodass wegen der Arbeitsaufnahme durch die Klägerin zum keine Auszahlung von Alg erfolgte. Jedenfalls aber war zum ein so genanntes Stammrecht der Klägerin auf Alg entstanden.

15Ein solches Stammrecht zeichnet sich dadurch aus, dass es zwar noch nicht dazu berechtigt, eine bestimmte Leistung - ggf vollstreckbar - beanspruchen zu können, es begründet aber bereits einen zu einem subjektiven Recht verfestigten Besitzstand, wenn alle gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Alg vorliegen (ausführlich dazu Valgolio in Spellbrink/Eicher, Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 10 RdNr 1 ff; Coseriu in Eicher/Schlegel, SGB III nF, § 147 RdNr 26 f, Stand Dezember 2014; Gutzler in Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, SGB III, 6. Aufl 2017, § 136 RdNr 4; aus der Rechtsprechung zuletzt - SozR 4-4300 § 162 Nr 1 RdNr 15; - SozR 4-4300 § 150 Nr 4 RdNr 26; - RdNr 10). Bereits mit dem Entstehen eines Stammrechts wird ein Sozialrechtsverhältnis zwischen dem Leistungsberechtigten und dem Sozialleistungsträger begründet, das Grundlage verschiedener Rechte und Pflichten bzw Obliegenheiten auch unabhängig von konkreten Leistungsansprüchen ist (Valgolio in Spellbrink/Eicher, Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 10 RdNr 1). Der typische Fall eines Stammrechts mit fehlendem Leistungsanspruch ist das Ruhen des Anspruchs auf Alg trotz bestehender Arbeitslosigkeit. Während des Ruhens bestehen gleichwohl Rechte und Pflichten, etwa das Recht des Arbeitslosen auf Förderung aus dem Vermittlungsbudget (§ 44 SGB III) oder auf Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung (§ 45 SGB III). Dem stehen ua die Pflicht bzw Obliegenheit gegenüber, sich der Arbeitsvermittlung zur Verfügung zu stellen oder sich nach Maßgabe des § 309 SGB III bei der BA melden zu müssen.

16Ein solches Stammrecht der Klägerin war hier am entstanden. Die Klägerin hat sich zum arbeitslos gemeldet, Alg beantragt, erfüllte die Anwartschaftszeit und war auch arbeitslos. Es lagen damit alle Anspruchsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit vom bis vor, was sich aus den entsprechenden Bescheiden der Beklagten (zuletzt Bescheid vom ) ergibt.

17Nach Sinn und Zweck des § 151 Abs 4 SGB III und unter Berücksichtigung der systematischen Zusammenhänge gilt Alg im Sinne dieser Vorschrift bereits als "bezogen", wenn innerhalb des Zweijahreszeitraums ein Stammrecht auf Alg bestanden hat. Schrifttum und Rechtsprechung fordern zwar für den "Bezug" von Alg, dass es tatsächlich zu einer Auszahlung gekommen ist (LSG NRW vom - L 12 AL 153/10 - RdNr 45; - RdNr 27; Brand in Brand, SGB III, 8. Aufl 2018, § 151 RdNr 23; Rolfs in Gagel, SGB II/SGB III, § 151 SGB III RdNr 35, Stand Juni 2017; Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III nF, § 151 RdNr 110, Stand April 2014). Doch ist dies nach der Bedeutung des Wortes "bezogen" nicht zwingend (vgl LSG NRW vom - L 12 AL 153/10 - RdNr 49). Der Wendung "Bezug von Alg" kann, je nachdem, in welchem Sinnzusammenhang sie steht, unterschiedlich verstanden werden. So hat das BSG angenommen, dass es für eine Leistungsfortzahlung im Krankheitsfall (§ 105b AFG, ersetzt durch § 126 SGB III aF bzw § 146 SGB III), die an eine während des Bezugs von Alg eintretende Arbeitsunfähigkeit anknüpft, bereits das Bestehen eines realisierbaren Anspruchs ausreichen kann (vgl - RdNr 21; - RdNr 16; - RdNr 16, 17). Grund hierfür ist eine ansonsten nicht beabsichtigte Begrenzung des Anwendungsbereichs der Vorschrift, also im Ergebnis der Sinn und Zweck der Leistungsfortzahlung im Krankheitsfall (vgl Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III nF, § 146 RdNr 49, Stand Juli 2013).

18Wenn im Übrigen die angeführte Rechtsprechung ein Stammrecht ohne Auszahlungsanspruch gerade nicht ausreichen lässt - in den entschiedenen Fällen ruhte der Zahlungsanspruch aus dem Stammrecht wegen einer Urlaubsabgeltung - wird auch dies mit der spezifischen Zielrichtung der Leistungsfortzahlung im Krankheitsfall begründet. Die Regelung soll weder eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des erkrankten Arbeitslosen noch eine Entlastung der für die Zahlung des Krankengeldes zuständigen Krankenkasse herbeiführen, sondern Leistungsberechtigten wie Leistungsverpflichteten bei kurzfristigen Erkrankungen die Unzuträglichkeit ersparen, dass anstelle der Beklagten eine Krankenkasse Krankengeld in der gleichen Höhe wie das bisher gewährte Alg zahlt ( - RdNr 22 mwN). Für die Auslegung des ganz andere Zwecke verfolgenden § 151 Abs 4 SGB III ist diese Einschränkung allerdings ohne Bedeutung.

19Gleiches gilt, soweit das BSG im Rahmen der Anwendung von § 124 Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB III in der bis zum geltenden Fassung, wonach für die Ermittlung der Anwartschaftszeit bzw Rahmenfrist der "Bezug" bestimmter Leistungen von Pflegepersonen erforderlich war, diesen Begriff eng ausgelegt hat (vgl - SozR 4-4300 § 124 Nr 5 RdNr 15 ff). Abgesehen davon, dass die entsprechende Regelung bereits zum aufgehoben wurde, betraf auch sie einen vollständig anderen Regelungszusammenhang mit ebenfalls abweichender Zielrichtung (dazu im Einzelnen Söhngen in Eicher/Schlegel, SGB III <aF>, § 124 RdNr 3, 43 ff, Stand August 2004).

20Sinn und Zweck des § 151 Abs 4 SGB III fordern demgegenüber, bereits dann von einem Alg-Vorbezug auszugehen, wenn ein Stammrecht auf Alg entstanden ist. § 151 Abs 4 SGB III entspricht dem bis zum geltenden § 131 Abs 4 SGB III. Jene Vorschrift ist zum durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom (BGBl I 2848) eingefügt worden und geht auf § 133 Abs 1 SGB III idF des AFRG vom (BGBl I 594) zurück. Die damals vorgenommene Ergänzung der Bemessungsvorschriften um eine Bestandschutzregelung ist damit begründet worden, dass Arbeitslose, die ihre Arbeitslosigkeit durch die Aufnahme einer Beschäftigung beenden, in der sie ein geringeres Entgelt erzielen, als es der Bemessung des Alg zugrunde lag, vor Nachteilen bei erneutem Beschäftigungsverlust geschützt werden sollten; zudem sollten Hemmnisse, die einer Rückkehr in das Erwerbsleben entgegenstehen könnten, beseitigt werden (BT-Drucks 13/4941, S 178). Dieser Schutz war ursprünglich bei einen Alg-Bezug innerhalb der letzten drei Jahre vorgesehen, reichte also noch weiter. Als Grund für die Verkürzung des Zeitrahmens ab dem auf zwei Jahre ist allein eine Verwaltungsvereinfachung genannt worden (BT-Drucks 15/1515, S 85).

21Dieses also im Vordergrund stehende Bestreben, Arbeitslose zu motivieren, auch geringer entlohnte Beschäftigungen aufzunehmen, kommt bereits dann zum Tragen, wenn nur ein Stammrecht auf Alg erworben wurde, die Leistung aber noch nicht ausgezahlt wird, weil Ruhenstatbestände vorliegen (vgl Brackelmann in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Aufl 2019, § 151 RdNr 30.1). Es würde dem zentralen Ziel der Arbeitsförderung, die Arbeitslosigkeit zu verkürzen (§ 1 Abs 1 Satz 1 SGB III), zuwiderlaufen, wenn es für Arbeitslose sogar von Nachteil sein könnte, sich auch um geringer entlohnte Beschäftigungen zu bemühen, weil ein Verlust des Schutzes des bisherigen Bemessungsentgelts droht. Anders als das LSG und die Beklagte meinen, ist es in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung, ob der Arbeitslose seinen Lebensunterhalt bereits durch Alg sichergestellt hat. Zum einen ist dies bei Ruhenstatbeständen notwendigerweise trotz bestehenden Stammrechts nicht der Fall. Zum Anderen dürften für Arbeitslose, die noch nicht auf Alg angewiesen sind, etwa weil - wie auch hier - noch finanzielle Mittel aus einer Abfindung zur Verfügung stehen, eher stärkerer Anreize erforderlich sein, die Arbeitslosigkeit auch durch die Annahme einer schlechter bezahlten Beschäftigung zu beenden.

22Vor diesem Hintergrund wäre es zudem, wie die Revision zu Recht ausführt, mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG nur schwer vereinbar, jemanden, der bereits ein Stammrecht erworben hat, schlechter zu stellen als jemanden, dem aus diesem Stammrecht, wenn auch nur für einen Tag, Alg ausgezahlt wurde. Ein Sachgrund für diese Ungleichbehandlung ist kaum ersichtlich, denn ein Arbeitsloser, dessen Leistungsanspruch ruht, ist den gleichen Obliegenheiten unterworfen, wie ein Arbeitsloser, der Leistungen bezieht.

23Aus systematischen Gründen spricht für die Anknüpfung schon an das Stammrecht, dass das SGB III Bestandsschutz bezogen auf früher bewilligtes Alg nicht nur mit Blick auf die Höhe des Bemessungsentgelts und damit auf die Höhe der Leistung, sondern auch hinsichtlich der Anspruchsdauer vorsieht. Nach § 161 Abs 1 Nr 1 SGB III erlischt der Anspruch auf Alg zwar mit der Entstehung eines neuen Anspruchs. Doch sieht § 147 Abs 4 SGB III vor, dass sich die Dauer des neuen Anspruchs um die Restdauer des erloschenen Anspruchs - in den Grenzen der Höchstanspruchsdauer - verlängert. Mit dieser Regelung soll ebenfalls ein Anreiz zur Arbeitsaufnahme geboten und verhindert werden, dass dem Arbeitslosen durch die Aufnahme einer Beschäftigung bei erneuter anschließender Arbeitslosigkeit Nachteile entstehen (vgl Coseriu in Eicher/Schlegel, SGB III nF, § 147 RdNr 44, Stand September 2014; Valgolio in Hauck/Noftz, SGB III, K § 147 RdNr 64, Stand Januar 2014). Dieser Mechanismus greift bereits, wenn (nur) ein Stammrecht auf Alg entstanden war, denn die Vorschrift stellt ab auf den "Anspruch" auf Alg. Ein Anspruch aber besteht auch dann, wenn es zu keiner Auszahlung der Leistung kommt, etwa weil der Anspruch ruht (vgl nur Coseriu in Eicher/Schlegel, SGB III nF, § 147 RdNr 27, Stand September 2014). In Anwendung dieser Grundsätze ist der Klägerin deshalb Alg unter Anwendung von § 147 Abs 4 SGB III für einen längeren Zeitraum bewilligt worden, als es der Dauer ihrer letzten anwartschaftsbegründenden Beschäftigung von weniger als 16 Monaten (nach § 147 Abs 2 SGB III nur 6 Monate) entsprochen hätte. Es wäre systematisch unstimmig und im Hinblick auf das Regelungsziel zudem inkonsequent, wenn es für den Bestandsschutz der Anspruchsdauer allein auf das Stammrecht ankommen, der Bestandsschutz des Bemessungsentgelts aber von der zusätzlichen Voraussetzung des tatsächlichen Leistungsbezugs abhängen sollte.

24Bei der danach gebotenen Anwendung von § 151 Abs 4 SGB III steht der Klägerin höheres Alg als täglich 28,30 Euro zu, denn diesen Leistungsbetrag hat die Beklagte ausgehend von einem täglichen Bemessungsentgelt von (nur) 70,12 Euro ermittelt. Demgegenüber beträgt das nach § 151 Abs 4 SGB III zu berücksichtigende Bemessungsentgelt täglich 136,58 Euro.

25Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2019:070519UB11AL1818R0

Fundstelle(n):
NAAAH-27355