BSG Beschluss v. - B 13 R 253/13 B

rechtliches Gehör vor Erlass einer ohne mündliche Verhandlung ergehenden Endentscheidung - Nachweis über den Zugang des Anhörungsschreibens

Gesetze: § 62 SGG, § 63 Abs 2 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 174 ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: SG Frankfurt Az: S 4 R 643/10 Urteilvorgehend Hessisches Landessozialgericht Az: L 2 R 30/13 Beschluss

Gründe

1I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache um die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Das SG hat die entsprechende Klage mit Urteil vom abgewiesen.

2Gegen das seiner Prozessbevollmächtigen am zugestellte Urteil hat der Kläger am Berufung erhoben und mitgeteilt, Antragstellung und Begründung blieben einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten. Unter dem hat die Berichterstatterin verfügt, der Prozessbevollmächtigten des Klägers und der Beklagten ein Schreiben mit Empfangsbekenntnis (EB) zuzustellen, in dem sie darauf hingewiesen hat, dass der Senat "nach dem derzeitigen Verfahrensstand" in Erwägung ziehe, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 SGG zurückzuweisen. Die Beteiligten erhielten Gelegenheit, hierzu bis zum Stellung zu nehmen. Die Beklagte hat mit EB vom den Erhalt des Anhörungsschreibens vom bestätigt und mit Schriftsatz vom mitgeteilt, dass sie mit der Übertragung auf den Einzelrichter und einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sei.

3Das die Berufung zurückgewiesen. Der Kläger sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert (§ 43 Abs 2 SGB VI). Auch die Voraussetzungen einer teilweisen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI seien nicht gegeben.

4Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger die Verletzung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG). Seine Prozessbevollmächtigte sei vom LSG nicht gemäß § 153 Abs 4 S 2 SGG angehört worden. Ihr liege kein entsprechendes Anhörungsschreiben des LSG vor. Er habe somit keine Möglichkeit gehabt, die wesentliche Verschlimmerung seiner gesundheitlichen Verhältnisse zu belegen. Auch hätte er dargetan, dass er aufgrund der Vielzahl seiner Krankenhausaufenthalte und Fehlzeiten einen seinem Leistungsvermögen angepassten Arbeitsplatz nicht mehr finden könne.

5II. Auf die Beschwerde des Klägers ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

6Der Kläger hat formgerecht (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG) und auch in der Sache zutreffend die Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG iVm § 153 Abs 4 S 2 SGG) gerügt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Dem Verfahrensausgang entsprechend war dem Kläger antragsgemäß für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwältin B. zu bewilligen (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 ZPO).

7Das LSG hat § 153 Abs 4 S 2 SGG verletzt, wonach die Beteiligten vor Erlass eines Beschlusses nach § 153 Abs 4 S 1 SGG zu hören sind. Mit diesem Anhörungserfordernis soll sichergestellt werden, dass durch den Wegfall der mündlichen Verhandlung das rechtliche Gehör nicht verkürzt wird ( SozR 3-1500 § 153 Nr 11 S 32).

8Das Schreiben des kann diese Funktion schon deshalb nicht erfüllen, weil sich nicht feststellen lässt, dass es dem Kläger bzw seiner Prozessbevollmächtigten zugegangen ist.

9Die Prozessbevollmächtigte des Klägers bestreitet die Anhörung gemäß § 153 Abs 4 S 2 SGG. Vorliegend ergibt sich zwar aus dem Akteninhalt, dass die Berichterstatterin unter dem verfügt hat, der Prozessbevollmächtigten des Klägers und der Beklagten das Anhörungsschreiben mit EB zuzustellen (vgl § 63 Abs 2 SGG iVm § 174 ZPO). Zudem befindet sich in der Gerichtsakte die Durchschrift eines unter dem datierten Anhörungsschreibens sowohl an die Prozessbevollmächtigte des Klägers als auch an die Beklagte. Allerdings hat lediglich die Beklagte mit EB vom den Erhalt des Anhörungsschreibens bestätigt. Dies spricht dafür, dass die Prozessbevollmächtigte des Klägers kein Anhörungsschreiben erhalten hat. Allein aufgrund des bloßen Absendens des Schreibens kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Verfahrensbeteiligten auch tatsächlich Gelegenheit zur Stellungnahme hatten.

10Wenn aber, wie hier, rechtliches Gehör zu gewähren ist, muss sich das Gericht in jedem Fall vor der Entscheidung davon überzeugen, dass den gesetzlichen Anforderungen des § 153 Abs 4 S 2 SGG iVm Art 103 Abs 1 GG und § 62 SGG genügt wurde (vgl SozR 3-1500 § 153 Nr 11 S 33; - Juris RdNr 5). Da die Prozessbevollmächtigte des Klägers auf das Anhörungsschreiben kein EB zurückgesandt und auch sonst nicht erwidert hat, hätte sich das LSG vor seiner Entscheidung Gewissheit darüber verschaffen müssen, dass das Schreiben der Prozessbevollmächtigten zugegangen ist. Dies ist unterblieben. Es ist daher davon auszugehen, dass dem Kläger rechtliches Gehör iS von § 153 Abs 4 S 2 SGG nicht gewährt worden ist. Denn der "Nachweis", dass rechtliches Gehör vor Erlass einer ohne mündliche Verhandlung ergehenden Endentscheidung gewährt wurde, obliegt dem Gericht. Kann ein derartiger "Nachweis" nicht geführt werden, liegt ein Gehörsverstoß vor (vgl aaO).

11Der Kläger hat auch (noch) hinreichend aufgezeigt, dass die Entscheidung auf einer Verletzung von § 153 Abs 4 S 2 SGG beruhen kann (vgl zu diesem Darlegungserfordernis bei einer Rüge der Verletzung der Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 S 2 SGG Senatsbeschluss vom - B 13 R 300/11 B - BeckRS 2013, 67152 RdNr 17 mwN).

12Hierzu hat er in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde vorgetragen, dass er in der bis dahin noch nicht erfolgten Berufungsbegründung eine wesentliche Verschlimmerung seiner gesundheitlichen Verhältnisse "belegt" hätte. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das LSG sich bei einer entsprechenden Berufungsbegründung zu weiteren sozialmedizinischen Ermittlungen veranlasst gesehen hätte und in deren Folge (dh bei einer tatsächlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands oder neuen sozialmedizinisch relevanten Gesundheitsstörungen) zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

13Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde den angefochtenen LSG-Beschluss aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch.

14Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2013:241013BB13R25313B0

Fundstelle(n):
JAAAH-26824