BSG Beschluss v. - B 9 V 17/12 B

Nichtzulassungsbeschwerde - Zurückverweisung - sozialgerichtliches Verfahren - wesentlicher Mangel - vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts - erfolgloser Befangenheitsantrag - rechtliches Gehör - Aufhebung eines Bescheids - wesentliche Änderung - objektiver Beurteilungsmaßstab

Gesetze: § 62 SGG, § 60 Abs 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 202 SGG, § 42 ZPO, § 47 ZPO, § 547 Nr 1 ZPO, § 48 Abs 1 S 1 SGB 10, Art 101 Abs 1 S 2 GG, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: Az: S 33 VJ 1/05 Gerichtsbescheidvorgehend Bayerisches Landessozialgericht Az: L 15 VJ 5/08 Urteil

Gründe

1I. Der 1971 geborene Kläger beansprucht von dem beklagten Land, ihm unter Aufhebung des Bescheides vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom ab dem eine Pflegezulage nach Stufe I gemäß § 35 Abs 1 S 5 Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu zahlen.

4In der Folgezeit blieb ein Verschlimmerungsantrag des Klägers erfolglos, während eine versorgungsärztliche Begutachtung durch den HNO-Arzt Dr. N. am ergab, dass beim Kläger ab August 1989 (Abschluss des Berufsfindungsjahres am Berufsbildungswerk für Hörgeschädigte) die Voraussetzungen für das Merkzeichen H und eine Pflegezulage nicht mehr gegeben seien, weil es an einer Hilflosigkeit fehle. Daraufhin hob der Beklagte nach Anhörung des Klägers gemäß § 48 SGB X ua den Bescheid vom ab dem teilweise auf, weil eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen insoweit eingetreten sei, als nach Abschluss der Gehörlosenschule im Juli 1989 die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage der Stufe I nicht mehr vorlägen (Bescheid vom ). Auf den Widerspruch des Klägers wurde die Pflegezulage erst zum entzogen (Widerspruchsbescheid vom ).

6Diese Schädigungsfolgen stellte der Beklagte mit Ausführungsbescheid vom ab dem fest.

7Nach Zuerkennung einer Erwerbsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung ab dem machte der Kläger bei dem Beklagten eine Pflegezulage ab Beginn seiner Erwerbsunfähigkeit geltend, weil er hirngeschädigt sei. Dies lehnte der Beklagte unter Bezugnahme auf § 48 SGB X ab, weil eine Hirnschädigung nicht vorliege (Gutachten Prof. Dr. S. vom nach Aktenlage). Mit Bescheid vom sei eine Pflegezulage der Stufe I zu Recht gewährt worden wegen taubheitsbegründeter Hilflosigkeit bis zum 16. Lebensjahr. Allerdings sei die tatsächliche Begründung seinerzeit unzutreffend gewesen.

8Das von dem Kläger angerufene SG München hat ein Gutachten nach Aktenlage von Prof. Dr. K. vom nebst ergänzender Stellungnahme vom eingeholt und mit Gerichtsbescheid vom entsprechend dem Antrag des Klägers nach § 44 SGB X den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom sowie des Bescheides vom in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom verurteilt, den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom zurückzunehmen und dem Kläger ab dem eine Pflegezulage nach Stufe I gemäß § 35 Abs 1 S 5 BVG zu gewähren. Der Beklagte habe § 52 Abs 2 S 4 Bundesseuchengesetz als lex spezialis nicht beachtet; daneben sei für § 48 SGB X kein Raum. Es stehe nicht unzweifelhaft fest, dass die angenommene postvaccinale Enzephalitis beim Kläger nicht vorliege.

9Dagegen hat der Beklagte beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt. Dieses hat eine erste mündliche Verhandlung vom vertagt, um weitere Akten der Hauptfürsorgestelle beizuziehen. Nach einem Schriftwechsel zwischen dem Senatsvorsitzenden des LSG und der den Kläger vertretenden Mutter hat letztere den Vorsitzenden wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Durch Beschluss vom hat das LSG diese Ablehnung für unbegründet erklärt. Dabei hat es sich im Wesentlichen auf die Erwägung gestützt, dass unterschiedliche Auffassungen zwischen dem Richter und den Beteiligten zu materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen Fragen für die Frage einer Besorgnis der Befangenheit unbeachtlich seien, solange nicht konkrete Anhaltspunkte für eine unsachliche, auf Willkür beruhende oder parteiliche Einstellung des Richters gegenüber einem Beteiligten beständen. Solche Anhaltspunkte lägen hier nicht vor.

10Als Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers komme allein § 44 Abs 1 S 1 SGB X in Betracht, dessen Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt seien. Der Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom sei gemessen an § 48 Abs 1 S 1 SGB X rechtmäßig gewesen, weil in den tatsächlichen Verhältnissen, die noch bei Erlass des Bescheides vom vorgelegen hätten, objektiv eine wesentliche Änderung dadurch eingetreten sei, dass der Kläger im Juli 1989 das Berufsfindungsjahr am Berufsbildungswerk für Hörgeschädigte beendet habe. Diese Änderung sei für die Gewährung einer Pflegezulage auch wesentlich gewesen, weil nach den überzeugenden Feststellungen des Prof. Dr. K. beim Kläger nicht mit dem erforderlichen Vollbeweis eine Hirnschädigung als Impfschaden (postvaccinale Enzephalitis) festgestellt werden könne. Damit sei der Wegfall der Hilflosigkeit iS von § 35 BVG durch die Beendigung des Berufsfindungsjahres leistungsrechtlich relevant geworden. Im Rahmen der Prüfung, ob eine wesentliche Änderung iS des § 48 SGB X eingetreten sei, komme es auf die objektiven rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse an, die beim Erlass des fraglichen Verwaltungsakts vorgelegen hätten. Damit sei § 48 SGB X auch dann einschlägige Korrekturnorm, wenn diese Verhältnisse von der Behörde anfangs falsch bewertet und subjektiv dem Erlass des Verwaltungsakts gar nicht zugrunde gelegt worden seien.

11Entgegen der Auffassung des SG sei eine Hirnschädigung auch nicht als Schädigungsfolge anerkannt worden. Mit Bescheid vom sei als Schädigungsfolge lediglich eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beiderseits mit fehlender Sprachentwicklung festgestellt worden. Mit weiterem Bescheid vom habe der Beklagte dann in dem speziellen Teil des Bescheids, der den eigentlichen Verfügungssätzen vorbehalten gewesen sei, lediglich die Gewährung der Pflegezulage der Stufe I ausgesprochen, während er anschließend in einem räumlich und gliederungstechnisch klar abgegrenzten und mit "Gründe:" überschriebenen Teil des Bescheids erläutert habe, die Pflegezulage werde aufgrund einer zentralen Störung gewährt. Dem sei nach dem objektiven Empfängerhorizont zu entnehmen gewesen, dass ausschließlich die Zuerkennung der Pflegezulage als solche Regelungsgegenstand gewesen sei, nicht aber der Grund dafür. Der Bescheid vom weise eine bewusst gewählte und klar erkennbare Trennung in Verfügungssätze und Begründung auf, sodass die Bindungswirkung nur von dem Verfügungssatz ausgehe. Das ergebe sich auch aus der Regelung in § 35 SGB X, wonach Erläuterungen zu den getroffenen Regelungen gerade nicht zum verfügenden Teil des Verwaltungsakts gehörten und damit nicht an dessen Bindungswirkung teilnähmen.

12Ferner stehe dem Kläger der geltend gemachte Anspruch auch nicht auf der Grundlage des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes zu, denn mit Erlass des Bescheids vom sei nicht objektiv eine ursprünglich gegebene Rechtswidrigkeit des Bescheids vom korrigiert worden. Dieser Bescheid sei vielmehr rechtmäßig gewesen, weil die darin enthaltene Regelung - die Gewährung einer Pflegezulage - objektiv mit dem geltenden Recht in Einklang gestanden habe. Der Kläger sei wegen seines kindlichen Alters als hilflos einzustufen gewesen. Dass sich der Beklagte der eigentlichen Gründe, die objektiv zur Gewährung der Pflegezulage berechtigten, seinerzeit nicht bewusst gewesen sei und dementsprechend eine "eklatant falsche" Begründung geliefert habe, spiele keine Rolle, weil es insoweit nur auf die objektive Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts ankomme. Darüber hinaus könnten § 45 SGB X keine Wertungen entnommen werden, die sich im vorliegenden Fall zugunsten des Klägers auswirkten und mittelbar in einen Vertrauensschutz mündeten. Zwar solle jegliches Verhalten eines Sozialleistungsträgers selbst dann richtig sein, wenn es nicht der Bestandskraft fähig ist, wie zB die Begründung eines Verwaltungsakts. Eine Restitution einer Entscheidung sei jedoch nur insoweit zu befürworten, als dies mit dem geltenden Recht in Einklang zu bringen sei. Vor diesem Hintergrund gelte der Vorbehalt der veränderten Verhältnisse auch dann im Rahmen der Bestimmung des § 48 SGB X ohne Einschränkung, wenn die Verhältnisse, welche die objektive Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts begründen (hier das kindliche Alter des Klägers), verkannt würden. Auch aus den sonst - zB von der Hauptfürsorgestelle - gemachten behördlichen Äußerungen, der Kläger sei hirngeschädigt, könnten keinesfalls weitergehende Rechte als aus der falschen Begründung des Bescheids vom abgeleitet werden.

13Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache sowie von Verfahrensmängeln (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 3 SGG) begründet.

14II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Das angegriffene beruht auf einem vom Kläger hinreichend bezeichneten (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Bei Erlass dieser Entscheidung war das LSG nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 SGG), weil ein vom Kläger wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnter Richter mitgewirkt hat (§ 60 Abs 1 SGG iVm §§ 42, 47 ZPO). Dem steht ausnahmsweise nicht entgegen, dass das Ablehnungsgesuch des Klägers durch für unbegründet erklärt worden ist.

15Eine rechtswidrige Zurückweisung eines Befangenheitsantrags kann grundsätzlich nicht als Mangel eines danach unter Mitwirkung des erfolglos abgelehnten Richters durch Urteil abgeschlossenen Verfahrens iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend gemacht werden, weil es sich hierbei um eine dem Urteil vorausgehende Entscheidung des Berufungsgerichts handelt, die ihrerseits unanfechtbar ist (vgl - SozR 4-1500 § 160a Nr 1; - RdNr 11). Die Rüge fehlerhafter Besetzung des Berufungsgerichts bei Erlass des angefochtenen Urteils kann im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde allerdings darauf gestützt werden, die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs beruhe auf willkürlichen Erwägungen oder habe Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art 101 Abs 1 S 2 GG grundlegend verkannt ( - SozR 4-1100 Art 101 Nr 3). Wenn ein zuvor erfolglos abgelehnter Richter an der angegriffenen Entscheidung mitgewirkt hat und die Entscheidung der Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs auf willkürlichen, manipulativen Erwägungen beruht, die für die Fehlerhaftigkeit des als Mangel gerügten Vorgangs bestimmend gewesen sind, liegt ein Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters iS des Art 101 Abs 1 S 2 GG vor (vgl BVerfGE 37, 67, 75; - RdNr 19 nach Juris). Die Entscheidung über die Richterablehnung darf unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar, muss also offensichtlich unhaltbar sein (vgl BVerfGE 29, 45, 48 f; - NVwZ 2008, 1025), sei es den Inhalt, sei es das Verfahren betreffend (vgl BSG, aaO). Demzufolge rechtfertigt es die Rüge einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts auch, wenn die Ablehnungsentscheidung auf einem der Willkür vergleichbaren schweren Verfahrensmangel beruht (vgl BVerwG, aaO), wie zB auf einer schwerwiegenden Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl ; vom - VIII B 62/08; vom - X B 38/06 - BFH/NV 2007, 757).

16Gemessen an diesen Kriterien liegt der vom Kläger gerügte Verfahrensmangel vor. Dabei kann offenbleiben, ob sich der vom Kläger abgelehnte Vorsitzende Richter am LSG Dr. V. diesem gegenüber so verhalten hat, dass die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs im Ergebnis als objektiv willkürlich anzusehen ist. Allerdings können richterliche Unmutsäußerungen durchaus Anlass für ein begründetes Ablehnungsgesuch sein, wenn sie gänzlich unangemessen sind und den Eindruck der Voreingenommenheit erwecken (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 60 RdNr 8i). Jedenfalls leidet der an einem schweren Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG).

18Der das Ablehnungsgesuch zurückweisende Beschluss hat danach keinen Bestand, sodass der abgelehnte Richter Dr. V. an der Entscheidung des nicht hätte mitwirken dürfen. Folglich war das LSG insoweit nicht vorschriftsmäßig besetzt (vgl § 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 SGG).

19Da es nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ausreicht, dass die vorinstanzliche Entscheidung auf einem der gerügten Verfahrensmängel beruht, braucht sich der Senat mit den weiteren vom Kläger geltend gemachten Verfahrensfehlern nicht zu befassen. Er macht im Rahmen des ihm nach § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Ermessens von der Möglichkeit Gebrauch, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

21Die Klärungsbedürftigkeit dieser Frage hat der Kläger jedoch nicht genügend begründet. Hierzu fehlt bereits eine ausreichende Auseinandersetzung des Klägers mit der umfangreichen Rechtsprechung zur wesentlichen Änderung iS des § 48 Abs 1 S 1 SGB X (vgl Auflistung bei Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Mai 2006, § 48 SGB X RdNr 13 ff). Danach kommt es für die Prüfung einer wesentlichen Änderung iS von § 48 SGB X grundsätzlich weder auf die im ursprünglichen Bescheid genannten noch auf die von der Behörde bei der Bewilligung angenommenen Verhältnisse, sondern auf die in Wirklichkeit vorliegenden Verhältnisse und deren objektive Änderung an (vgl Steinwedel, aaO, RdNr 14 mit Hinweisen aus der Rspr; sowie Schütze, in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 48 RdNr 6). Entsprechendes hat der Senat bereits mit Urteil vom (- 9 RVs 2/93 - SozR 3-3870 § 4 Nr 10) entschieden.

22Um dem Kläger bei der erneuten Bearbeitung der Sache durch das LSG ein unbelastetes Verfahren zu gewährleisten, hält der Senat die Zurückverweisung der Sache an einen anderen Senat des LSG für geboten, weil das Vertrauen des Klägers in eine unbefangene Rechtsfindung durch den 15. Senat des LSG nachhaltig erschüttert erscheint (vgl - Juris RdNr 10; BSG SozR 4-1500 § 170 Nr 2 RdNr 79 f). Der andere Senat bestimmt sich nach dem für das laufende Jahr gültigen Geschäftsverteilungsplan des LSG ( aaO).

23Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2012:251012BB9V1712B0

Fundstelle(n):
DAAAH-24266