Vorlage an den EuGH zur Auslegung der Europäischen Unterhaltsverordnung: Berufung auf den Gerichtsstand am gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten bei Geltendmachung des aufgrund von Sozialhilfegewährung auf den Sozialhilfeträger übergegangenen zivilrechtlichen Unterhaltsanspruchs
Leitsatz
Dem Europäischen Gerichtshof wird die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob eine öffentliche Aufgaben wahrnehmende Einrichtung, die an einen Unterhaltsberechtigten Leistungen der Sozialhilfe erbracht hat, sich auf den Gerichtsstand am gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten nach Art. 3 lit. b EuUnthVO berufen kann, wenn sie den aufgrund der Sozialhilfegewährung im Wege der Legalzession auf sie übergegangenen zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch des Unterhaltsberechtigten gegen den Unterhaltspflichtigen als Regress geltend macht.
Gesetze: Art 3 Buchst b EGV 4/2009, Art 267 AEUV, § 1601 BGB, § 1610 BGB, § 94 Abs 1 S 1 SGB 12, § 94 Abs 5 S 3 SGB 12
Instanzenzug: Az: 25 UF 144/18vorgehend Az: 312 F 162/18nachgehend Az: C-540/19 Urteil
Gründe
1I. Sachverhalt
2Der Antragsteller ist als örtlicher Träger der Sozialhilfe eine öffentliche Aufgaben wahrnehmende Einrichtung (im Folgenden: öffentliche Einrichtung). Er macht gegen den Antragsgegner aus übergegangenem Recht Ansprüche auf Elternunterhalt für die Zeit seit April 2017 geltend.
3Die 1948 geborene Mutter des Antragsgegners (im Folgenden: Hilfeempfängerin) lebt seit dem Jahr 2009 in einem Alten- und Pflegeheim in Köln. Sie erhält von dem Antragsteller laufend Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), weil ihre eigenen Einkünfte (Sozialversicherungsrente, Pflegewohngeld, Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung) und ihr Vermögen nicht zur vollständigen Deckung ihrer Heimkosten ausreichen. Der Antragsgegner lebt in Wien (Österreich).
4Der Antragsteller nimmt den Antragsgegner in diesem Verfahren auf Zahlung eines Unterhaltsrückstands in Höhe von 8.510 € für die Zeit von April 2017 bis April 2018 sowie auf Zahlung eines laufenden Unterhalts in Höhe von monatlich 853 € seit Mai 2018 in Anspruch. Der Antragsteller macht geltend, dass der gegen den Antragsgegner gerichtete Anspruch der Hilfeempfängerin auf Elternunterhalt gemäß § 94 Abs. 1 SGB XII auf ihn übergegangen sei, weil er der Hilfeempfängerin in dem hier interessierenden Unterhaltszeitraum laufend Sozialhilfeleistungen gewähre, die den geforderten Unterhaltsbetrag deutlich übersteigen. Der Antragsgegner rügt die fehlende internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte.
5Das Amtsgericht hat die deutschen Gerichte für international unzuständig gehalten und den Antrag als unzulässig zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, dass insbesondere eine Zuständigkeit nach Art. 3 lit. b EuUnthVO ausscheide, weil berechtigte Person im Sinne dieser Vorschrift nur der Unterhaltsberechtigte selbst, nicht aber eine staatliche Einrichtung sei, die gesetzlich auf sie übergegangene Unterhaltsansprüche im Wege des Regresses geltend mache. Auf die Beschwerde des Antragstellers hat das Oberlandesgericht die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Behandlung an das Amtsgericht zurückverwiesen. Nach Ansicht des Oberlandesgerichts sind die deutschen Gerichte international zuständig, weil das der unterhaltsberechtigten Hilfeempfängerin nach Art. 3 lit. a und lit. b EuUnthVO zustehende Wahlrecht, den Unterhalt gegen ihren Sohn sowohl bei dem für ihren Wohnsitz in Deutschland zuständigen Gericht als auch bei dem für den Wohnsitz des Antragsgegners in Österreich zuständigen Gericht geltend zu machen, auch von dem Antragsteller als Zessionar des Unterhaltsanspruchs ausgeübt werden könne.
6Gegen diese Entscheidung wendet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde des Antragsgegners, der eine Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Entscheidung erstrebt.
7II. Zum geltend gemachten Anspruch
8Nach § 1601 BGB sind Verwandte in gerader Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Das Maß des zu gewährenden Unterhalts bestimmt sich gemäß § 1610 BGB nach der Lebensstellung des Bedürftigen. Die Lebensstellung eines in einem Pflegeheim wohnenden Elternteils wird nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs durch seine Heimunterbringung bestimmt. Sein Unterhaltsbedarf im Sinne von § 1610 BGB deckt sich daher regelmäßig mit den für die Heimunterbringung anfallenden Kosten zuzüglich eines kleineren Barbetrags zur Finanzierung der von den Leistungen der Pflegeeinrichtung nicht erfassten Bedürfnisse (vgl. Senatsbeschlüsse vom - XII ZB 384/17 - FamRZ 2018, 1903 Rn. 11 und BGHZ 206, 25 = FamRZ 2015, 1594 Rn. 25 f.; Senatsurteil vom - XII ZR 150/10 - FamRZ 2013, 203 Rn. 15 mwN). Kann ein pflegebedürftig gewordener Elternteil die Kosten seiner stationären Pflege aus eigenem Einkommen und Vermögen nicht vollständig bestreiten, steht ihm ein ergänzender Anspruch auf Sozialhilfe in Form der Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (§§ 61 ff. SGB XII) zu. Zu dem dann in Betracht kommenden Übergang bürgerlich-rechtlicher Unterhaltsansprüche gegen die Kinder bestimmt § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII das Folgende:
"Hat die leistungsberechtigte Person für die Zeit, für die Leistungen erbracht werden, nach bürgerlichem Recht einen Unterhaltsanspruch, geht dieser bis zur Höhe der geleisteten Aufwendungen zusammen mit dem unterhaltsrechtlichen Auskunftsanspruch auf den Träger der Sozialhilfe über."
9Wegen der Durchsetzung der Ansprüche enthält § 94 Abs. 5 Satz 3 SGB XII die folgende Regelung:
"Über die Ansprüche nach den Absätzen 1 bis 4 ist im Zivilrechtsweg zu entscheiden."
10III. Zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof
11Die Frage, ob sich der Antragsteller auf Art. 3 lit. b EuUnthVO berufen kann, ist für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich. Weil andere Gründe für eine internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte offensichtlich ausscheiden, wäre die Rechtsbeschwerde begründet, wenn Art. 3 lit. b EuUnthVO zugunsten des Antragstellers nicht eingreifen sollte. Im anderen Fall wäre die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners zurückzuweisen.
121. Die Europäische Unterhaltsverordnung ist auf das vorliegende Verfahren anwendbar.
13a) Vorliegen einer Zivilsache
14aa) Nach der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel I-VO) konnte ein Regressverfahren wegen übergegangener Unterhaltsansprüche nur dann deren sachlichem Anwendungsbereich unterfallen, wenn dieses Verfahren als Zivilsache (Art. 1 Abs. 1 Brüssel I-VO) zu qualifizieren war. Eine vergleichbare Begrenzung lässt sich dem Wortlaut der einzelnen Bestimmungen der Europäischen Unterhaltsverordnung zwar nicht unmittelbar entnehmen. Die Beschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs der Europäischen Unterhaltsverordnung auf Zivilsachen erschließt sich allerdings aus den in der Verordnung einleitend genannten Kompetenznormen (Art. 61 lit. c und 65 lit. b EG-Vertrag, jetzt Art. 81 Abs. 1 und Abs. 2 lit. c AEUV), die dem Unionsgesetzgeber den Erlass von Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen gestatten.
15bb) Unter der Geltung der Brüssel I-Verordnung war auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Regressfällen vom Vorliegen einer Zivilsache immer dann auszugehen, wenn für die Grundlage des Unterhaltsregresses und die Modalitäten seiner Geltendmachung die allgemeinen Vorschriften über Unterhaltsverpflichtungen galten. Keine Zivilsache war demgegenüber gegeben, wenn der Unterhaltsregress nicht von einer Gleichordnung der Beteiligten geprägt war, sondern auf Bestimmungen gestützt wurde, mit denen der Gesetzgeber der öffentlichen Einrichtung eine eigene, besondere Befugnis verliehen hatte (vgl. - Slg. 2004 I-981 Rn. 20 - Blijdenstein und vom - Rs. C-271/00 - Slg. 2002 I-10489 Rn. 37 - Baten).
16cc) Es ist in der deutschsprachigen Rechtsliteratur umstritten, ob diese Abgrenzungsformel auch auf die Europäische Unterhaltsverordnung übertragen werden kann (vgl. Hausmann IntEuFamR 2. Aufl. Rn. C-59; Mankowski IPrax 2014, 249, 250; Reuß FS Simotta [2012] S. 483, 486 f.; vgl. auch BT-Drucks. 17/4887 S. 33) oder ob der sachliche Anwendungsbereich der Verordnung grundsätzlich in allen Fällen eröffnet ist, in denen eine öffentliche Einrichtung die Erstattung einer Leistung vom Unterhaltspflichtigen fordert, die sie statt seiner an den Unterhaltsberechtigten erbracht hat, ohne dass es dabei entscheidend auf die Rechtsgrundlage des Rückgriffs und die Ausgestaltung der Handlungsbefugnisse der öffentlichen Stelle ankäme (vgl. MünchKommFamG/Lipp 3. Aufl. Art. 1 EG-UntVO Rn. 55 ff.; Rauscher/Andrae EuZPR/EuIPR 4. Aufl. Art. 1 EG-UntVO Rn. 45 ff.). Diese Streitfrage bedarf unter den hier obwaltenden Umständen keiner näheren Erörterung, weil auch eine Abgrenzung auf der Grundlage der früheren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu der Beurteilung führt, dass das von dem Antragsteller gegen den Antragsgegner eingeleitete Regressverfahren eine Zivilsache ist:
17Der Anspruch beruht auf der bürgerlich-rechtlichen Unterhaltspflicht des Antragsgegners gegenüber seiner im Sozialhilfebezug stehenden Mutter. Der Europäische Gerichtshof geht grundsätzlich auch dann vom Vorliegen einer Zivilsache aufgrund einer zivilrechtlichen Rechtsgrundlage aus, wenn eine im bürgerlichen Recht wurzelnde Unterhaltsforderung im Wege einer Legalzession - wie hier gemäß § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII - auf eine öffentliche Stelle übergegangen ist (vgl. zu § 7 UVG: - Slg. 2004 I-981 Rn. 20 f. - Blijdenstein). Der übergegangene Unterhaltsanspruch ist von dem Antragsteller gemäß § 94 Abs. 5 Satz 3 SGB XII auf dem Zivilrechtsweg zu verfolgen. Der Antragsteller ist als öffentliche Einrichtung im Hinblick auf die Art und Weise der Geltendmachung der auf ihn übergegangenen Unterhaltsforderung nicht mit besonderen Befugnissen ausgestattet, wie sie insbesondere dem Sachverhalt zugrunde lagen, den der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache ‚Baten‘ zu beurteilen hatte (vgl. - Slg. 2002 I-10489 Rn. 35 f. - Baten).
18In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass es auch nach deutschem Recht zu Fallkonstellationen kommen kann, in denen eine öffentliche Einrichtung ihren Regressanspruch gegenüber einem Unterhaltspflichtigen durchsetzen kann, obwohl dessen Leistungspflicht zuvor durch eine Vereinbarung mit dem Unterhaltsberechtigten abbedungen worden ist. Nach § 1614 Abs. 1 BGB sind beim Verwandtenunterhalt und beim Ehegattentrennungsunterhalt (vgl. §§ 1360 a Abs. 3, 1361 Abs. 4 Satz 4 BGB) Vereinbarungen über den Verzicht auf zukünftige Unterhaltsleistungen generell verboten, womit sowohl der Unterhaltsberechtigte als auch die Träger öffentlicher Leistungen geschützt werden sollen (vgl. Senatsbeschlüsse vom - XII ZB 1/15 - FamRZ 2015, 2131 Rn. 12 und vom - XII ZB 303/13 - FamRZ 2014, 629 Rn. 48). Auch wenn kein gesetzliches Verbot eingreift, können sich Unterhaltsvereinbarungen, die sich objektiv zu Lasten öffentlicher Einrichtungen auswirken oder sogar deren Schädigung bezwecken, in bestimmten Einzelfällen am Maßstab der zivilrechtlichen Generalklausel des § 138 BGB als sittenwidrig und damit als nichtig erweisen (vgl. - FamRZ 2007, 197 Rn. 22 und vom - IVb ZR 22/84 - FamRZ 1985, 788, 790). Gemessen daran wird der Schutz der öffentlichen Einrichtungen vor einer sie benachteiligenden Vereinbarung der Parteien des Unterhaltsrechtsverhältnisses nach deutschem Recht in verschiedenen Formen durch das allgemeine Zivilrecht, nicht aber durch besondere Eingriffsbefugnisse der öffentlichen Einrichtungen gewährleistet.
19b) Regressforderung als Unterhaltspflicht
20Der sachliche Anwendungsbereich der Europäischen Unterhaltsverordnung ist auf Unterhaltspflichten begrenzt, die auf einem Familien-, Verwandtschafts- oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen (Art. 1 Abs. 1 EuUnthVO). Aus Erwägungsgrund 11 ergibt sich, dass der Begriff der Unterhaltspflicht verordnungsautonom auszulegen ist. Auf der Grundlage der zum Übereinkommen vom über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wird von einer Unterhaltsverpflichtung jedenfalls dann auszugehen sein, wenn die in Frage stehende Leistung dazu bestimmt ist, den Lebensbedarf des Berechtigten zu sichern oder wenn die Bedürfnisse und Mittel des Berechtigten und des Verpflichteten bei der Festsetzung der Leistung berücksichtigt werden (vgl. - Slg. 1997, I-1147 Rn. 22 - van den Boogaard und vom - Rs. 120/79 - Slg. 1980, 731 Rn. 5 - de Cavel II). Gemessen daran stellt der Anspruch der Hilfeempfängerin gegen den Antragsgegner zweifellos eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne der Europäischen Unterhaltsverordnung dar, weil sich der Anspruch an den - durch die Heim- und Pflegekosten geprägten - Lebensbedürfnissen der Hilfeempfängerin orientiert und zudem die Bedürftigkeit der Hilfeempfängerin und die Leistungsfähigkeit des Antragsgegners bei der Leistungsbemessung berücksichtigt werden. Geht eine Forderung, welche selbst die Voraussetzungen für eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne der Europäischen Unterhaltsverordnung erfüllt, kraft Legalzession auf einen Dritten über, verliert sie dadurch nicht ihre unterhaltsrechtliche Natur (vgl. für das deutsche Recht: Senatsbeschluss BGHZ 197, 326 = FamRZ 2013, 1202 Rn. 16 mwN).
212. In den Fällen, in denen die Europäische Unterhaltsverordnung auf einen Unterhaltsregress Anwendung findet, kann eine öffentliche Einrichtung ihren Regressanspruch gemäß Art. 3 lit. a EuUnthVO unzweifelhaft am gewöhnlichen Aufenthalt der unterhaltsverpflichteten Person verfolgen. Es ist bislang noch ungeklärt, ob Art. 3 lit. b EuUnthVO für den Unterhaltsregress öffentlicher Einrichtungen einen weiteren Gerichtsstand am gewöhnlichen Aufenthalt der originär unterhaltsberechtigten Person bereitstellt.
22a) Dies wird im deutschsprachigen Raum von einem Teil der Literatur abgelehnt. Für das Brüssel I-System habe die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Blijdenstein-Entscheidung klargestellt, dass eine öffentliche Einrichtung, die gegen einen Unterhaltsverpflichteten eine Regressklage erhebt, sich diesem gegenüber nicht in einer unterlegenen Position befinde und damit die Rechtfertigung entfalle, dem Unterhaltsverpflichteten den Schutz an seinem gewöhnlichen Gerichtsstand zu nehmen. Diese Rechtsprechung sei auf die Europäische Unterhaltsverordnung zu übertragen, was sich auch aus Erwägungsgrund 14 und Art. 64 Abs. 1 EuUnthVO ergebe, denn dort werde der Begriff der "berechtigten Person" (Art. 2 Abs. 1 Nr. 10 EuUnthVO) nur hinsichtlich der Anerkennung, Vollstreckbarerklärung und Vollstreckung auf öffentliche Einrichtungen erstreckt, nicht aber bezüglich der Zuständigkeitsvorschriften (vgl. Hau in Prütting/Helms FamFG 4. Aufl. Anh. 3 zu § 110 Rn. 40; Hüßtege in Thomas/Putzo ZPO 40. Aufl. Vor Art. 1 EuUntVO Rn. 21a; Nagel/Gottwald IZPR 7. Aufl. § 4 Rn. 100; Fucik in Fasching/Konecny Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen 2. Aufl. Bd. V/2 Art. 3 EuUVO Rn. 4; Bittmann in Gebauer/Wiedmann Zivilrecht unter europäischem Einfluss 2. Aufl. Art. 3 EuUntVO Rn. 33; Conti Grenzüberschreitende Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen in Europa [2011], S. 192 f.; Kuntze FPR 2011, 166, 170).
23Die abweichende Ansicht, der sich auch das Oberlandesgericht in seiner angefochtenen Entscheidung angeschlossen hat, weist vor allem darauf hin, dass die Zuständigkeit am gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten nach der Europäischen Unterhaltsverordnung keine auf die Bedürfnisse eines wirtschaftlich schwächeren Beteiligten zugeschnittene Ausnahmeregelung mehr darstelle, sondern der Grundkonzeption des Art. 3 EuUnthVO gleichrangige allgemeine Zuständigkeiten zugrunde lägen. Die Anwendung von Art. 3 lit. b EuUnthVO auf den Unterhaltsrückgriff staatlicher Einrichtungen fördere eine effektive Durchsetzung des übergegangenen Unterhaltsanspruchs und vermeide eine sachlich nicht gerechtfertigte Begünstigung eines im Ausland lebenden Unterhaltsschuldners (vgl. AG Stuttgart FamRZ 2014, 786 f.; MünchKommFamFG/Lipp 3. Aufl. Vorbem. zu Art. 3 EG-UntVO Rn. 29 ff.; Rauscher/Andrae EuZPR/EuIPR 4. Aufl. Art. 3 EG-UntVO Rn. 44; BeckOGK/Wurmnest [Stand: Oktober 2017] Art. 3 EU-UnterhaltsVO Rn. 43 ff.; Hk-ZPO/Dörner 8. Aufl. Art. 3 EuUnthVO Rn. 5; Hausmann IntEuFamR 2. Aufl. Rn. C-108; Wendl/Dose Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 10. Aufl. § 9 Rn. 644; Gitschthaler/Fuchs Internationales Familienrecht Art. 3 EuUVO Rn. 23; Reuß FS Simotta [2012] S. 483, 489 f.; Mankowski IPrax 2014, 249, 250 ff.).
24b) Der Senat neigt der letztgenannten Ansicht zu.
25Die Auslegung von Art. 3 lit. b EuUnthVO hat nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verordnungsautonom im Lichte seiner Ziele, seines Wortlauts und der Systematik zu erfolgen, in die er eingebettet ist (vgl. und C-408/13 - FamRZ 2015, 639 Rn. 25 - Sanders und Huber). Vor diesem Hintergrund hat der Senat das Folgende erwogen:
26aa) Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung zu der Frage schweigt, ob sich eine öffentliche Einrichtung als Kläger im Rahmen eines Unterhaltsregresses auf den Gerichtsstand am gewöhnlichen Aufenthalt der unterhaltsberechtigten Person nach Art. 3 lit. b EuUnthVO berufen kann.
27Nach der Legaldefinition in Art. 2 Abs. 1 Nr. 10 EuUnthVO kann nur eine natürliche Person als unterhaltsberechtigte Person angesehen werden, nicht dagegen eine regressnehmende öffentliche Einrichtung. Nach Art. 64 Abs. 1 EuUnthVO werden öffentliche Einrichtungen für die Zwecke der Anerkennung, Vollstreckbarerklärung und Vollstreckung den unterhaltsberechtigten Personen gleichgestellt. Die ihnen dadurch verliehene Befugnis, Anträge zur Feststellung der Anerkennung oder zur Vollstreckbarerklärung zu stellen, hätten öffentliche Einrichtungen - wie in Erwägungsgrund 14 klargestellt wird - ohne die besondere Regelung in Art. 64 Abs. 1 EuUnthVO nicht. Zwar enthält die Verordnung für Erkenntnisverfahren keine dem Art. 64 Abs. 1 EuUnthVO entsprechende Regelung. Für das Zuständigkeitssystem der Verordnung folgt daraus aber zunächst nur, dass eine öffentliche Einrichtung nicht als "berechtigte Person" im Sinne von Art. 3 lit. b EuUnthVO angesehen werden kann und sie damit auch nicht befugt ist, den Gerichtsstand an ihrem eigenen gewöhnlichen Aufenthalt - also beispielsweise dem Behördensitz - für sich in Anspruch zu nehmen. Ob sich eine öffentliche Einrichtung auf den Gerichtsstand am gewöhnlichen Aufenthalt des originär Unterhaltsberechtigten berufen kann, ist eine davon zu unterscheidende Frage.
28bb) Der Senat verkennt nicht, dass die frühere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Zuständigkeit in Unterhaltssachen auch für die Prüfung der entsprechenden Bestimmungen in der Europäischen Unterhaltsverordnung insoweit weiterhin relevant ist, als die Zuständigkeitsregeln der Europäischen Unterhaltsverordnung an die Stelle der entsprechenden Bestimmungen des Übereinkommens vom über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen - EuGVÜ) und der Brüssel I-Verordnung getreten sind (vgl. und C-408/13 - FamRZ 2015, 639 Rn. 23 - Sanders und Huber).
29Der Europäische Gerichtshof hat zu Art. 5 Abs. 2 EuGVÜ erkannt, dass sich eine öffentliche Einrichtung für ihre Regressklage nicht auf den Gerichtsstand am Wohnsitz oder am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Unterhaltsberechtigten berufen kann. Diese Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof damit begründet, dass nach der Systematik des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens die Zuständigkeit der Gerichte am Wohnsitz des Beklagten (Art. 2 EuGVÜ) den allgemeinen Grundsatz darstelle, während die von diesem allgemeinen Grundsatz abweichenden besonderen Zuständigkeitsregeln - insbesondere Art. 5 Abs. 2 EuGVÜ - keiner erweiternden Auslegung zugänglich seien, zumal das Übereinkommen der Zuständigkeit von Gerichten am Wohnsitz des Klägers generell ablehnend gegenüberstehe (vgl. - Slg. 2004 I-981 Rn. 25 - Blijdenstein; vgl. auch 189/87 - Slg. 1988, 5565 Rn. 19 - Kalfelis). Die in Art. 5 Abs. 2 EuGVÜ vorgesehene Ausnahme bezwecke, dem Unterhaltskläger, der in einem solchen Verfahren als die schwächere Partei angesehen wird, eine alternative Zuständigkeitsgrundlage zu bieten. Dieser spezifische Zweck habe Vorrang vor dem mit der Regel des Art. 2 EuGVÜ verfolgten Zweck, welcher seinerseits darin bestehe, den mit einer Klage überzogenen und deshalb generell als schwächere Partei anzusehenden Beklagten zu schützen (vgl. - Slg. 2004 I-981 Rn. 29 - Blijdenstein und vom - Rs. C-295/95 - Slg. 1997, I-1683 Rn. 19 - Farrell). Eine öffentliche Einrichtung, die gegen einen Unterhaltsverpflichteten eine Regressklage erhebe, befinde sich aber diesem gegenüber nicht in einer unterlegenen Position. Außerdem sei der Unterhaltsberechtigte, dessen Bedarf durch die Leistungen dieser öffentlichen Einrichtung gedeckt worden ist, nicht mehr in einer schwierigen finanziellen Lage. Zudem seien die Gerichte am Wohnsitz des Beklagten am besten dazu in Lage, dessen finanzielle Mittel zu beurteilen (vgl. - Slg. 2004 I-981 Rn. 30 f. - Blijdenstein).
30cc) Andererseits hat bereits der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache ‚Sanders und Huber‘ herausgestellt, dass die in der Rechtsprechung zum Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen und zur Brüssel I-Verordnung entwickelten Grundsätze nicht mechanisch auf die Auslegung der Zuständigkeitsvorschriften der Europäischen Unterhaltsverordnung übertragen werden können (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen vom in der Rechtssache C-400/13 und C-408/13, Sanders und Huber, juris Rn. 37 f.). Insbesondere die systematischen und teleologischen Erwägungen, die den Europäischen Gerichtshof seinerzeit dazu bewogen haben, die Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 2 EuGVÜ auf Regressklagen öffentlicher Einrichtungen zu verneinen, lassen sich nach Ansicht des Senats für die diesbezügliche Auslegung von Art. 3 lit. b EuUnthVO nicht mehr fruchtbar machen.
31(1) Den in Art. 3 EuUnthVO aufgeführten Zuständigkeitsgründen lässt sich kein Regel-/Ausnahmeverhältnis zwischen den einzelnen Gerichtsständen mehr entnehmen. Anders als im Brüssel I-System ist der Gerichtsstand am gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten nicht als besonderer Gerichtsstand, sondern als alternativer allgemeiner Gerichtsstand ausgestaltet.
32(2) Richtig ist, dass die Zuständigkeit der Gerichte am gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten auch unter der Geltung der Europäischen Unterhaltsverordnung weiterhin dem besonderen Schutz der berechtigten Person als der typischerweise schwächeren Partei im Unterhaltsverfahren Rechnung tragen soll ( und C-408/13 - FamRZ 2015, 639 Rn. 28 - Sanders und Huber). In diesem Regelungszweck erschöpft sich die Zuständigkeitsvorschrift des Art. 3 lit. b EuUnthVO allerdings nicht. Zum einen ist der Gerichtsstand am gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten regelmäßig dazu geeignet, den Gleichlauf zwischen dem Gerichtsstand und dem anwendbaren Sachrecht herzustellen. Zum anderen sind die Gerichte am Aufenthaltsort des Unterhaltsberechtigten wegen ihrer Sachnähe am besten dazu in der Lage, die Lebensbedürfnisse des Unterhaltsberechtigten und seine Bedürftigkeit festzustellen (vgl. Jenard-Bericht zum EuGVÜ ABl. EG Nr. C 59 vom , S. 1, 25; hierauf Bezug nehmend auch und C-408/13 - FamRZ 2015, 639 Rn. 34 - Sanders und Huber und vom - Rs. C-295/95 - Slg. 1997, I-1683 Rn. 24 f. - Farrell). Hätte der Verordnungsgeber in diesen weiteren Regelungszielen nur unwesentliche Nebenzwecke erblickt, die den eigentlichen Hauptzweck des Schutzes einer potentiell unterlegenen Prozesspartei lediglich verstärken, hätte er den Gerichtsstand am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Unterhaltsberechtigten konsequenterweise nur für Klagen der unterhaltsberechtigten Person eröffnen dürfen. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm besteht dieser Gerichtsstand jedoch unabhängig davon, ob der Unterhaltsberechtigte selbst klagt oder ob er von der unterhaltspflichtigen Person - etwa im Wege einer die Unterhaltspflicht leugnenden (negativen) Feststellungsklage - verklagt wird.
33dd) Der Senat sieht die von ihm bevorzugte Rechtsauffassung auch durch einen vergleichenden Blick auf das Haager Übereinkommen über die internationale Geltendmachung der Unterhaltsansprüche von Kindern und anderen Familienangehörigen vom (HUÜ 2007) gestützt.
34(1) Art. 36 Abs. 1 HUÜ 2007 bestimmt, dass öffentliche Einrichtungen als Antragsteller im Rahmen der Rechtshilfe nur bezüglich der Anerkennung und Vollstreckung (Art. 10 Abs. 1 lit. a und b HUÜ 2007), nicht aber bezüglich der Herbeiführung einer Entscheidung (Art. 10 Abs. 1 lit. c HUÜ 2007) als "berechtigte Personen" anzusehen sind. Dies hat zur Folge, dass öffentliche Einrichtungen für ein Erkenntnisverfahren am gewöhnlichen Aufenthaltsort der unterhaltspflichtigen Person grundsätzlich keine Hilfe der Zentralen Behörden eines anderen Vertragsstaates in Anspruch nehmen können. Diese Einschränkung erschien bei den Diskussionen über die Fassung des Haager Unterhaltsübereinkommens deshalb gerechtfertigt, weil öffentliche Einrichtungen typischerweise Entscheidungen im eigenen Land - gefolgt von der Anerkennung und Vollstreckung in einem anderen Vertragsstaat - herbeiführen werden (vgl. Borrás/Degeling Explanatory Report on the Convention on the International Recovery of Child Support and Other Forms of Family Maintenance Rn. 591, veröffentlicht bei www.hcch.net). Daraus erschließt sich nach Ansicht des Senats, dass bei der Beratung des Haager Unterhaltsübereinkommens wie selbstverständlich von einer Befugnis öffentlicher Einrichtungen ausgegangen worden ist, einen Unterhaltstitel aus übergegangenem Recht am Gerichtsstand des hilfebedürftigen Unterhaltsberechtigten errichten zu lassen. Die Europäische Union hat sich an der Ausarbeitung des Haager Unterhaltsübereinkommens beteiligt. Es erscheint schon deshalb naheliegend, dass der europäische Verordnungsgeber, der mit Art. 64 Abs. 1 EuUnthVO eine Art. 36 Abs. 1 HUÜ 2007 im Wesentlichen inhaltsgleiche Vorschrift geschaffen hat, von vergleichbaren Vorstellungen getragen worden sein könnte.
35(2) Nach Art. 20 Abs. 1 lit. c HUÜ 2007 wird eine im Ursprungsstaat ergangene Entscheidung in einem anderen Vertragsstaat anerkannt und vollstreckt, wenn die berechtigte Person zur Zeit der Einleitung des Verfahrens ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ursprungsstaat hatte. Macht ein Vertragsstaat diesbezüglich von einem Vorbehalt (Art. 20 Abs. 2 HUÜ 2007) Gebrauch, muss dieser Staat gemäß Art. 20 Abs. 4 HUÜ 2007 alle angemessenen Maßnahmen ergreifen, damit eine Entscheidung zugunsten der berechtigten Person ergeht, wenn die verpflichtete Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Vorbehaltsstaat hat. In diesem Zusammenhang gelten gemäß Art. 36 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 4 HUÜ 2007 ausnahmsweise auch öffentliche Einrichtungen als "berechtigte Personen" bei der Herbeiführung der Unterhaltsentscheidung, so dass auch diese Unterstützung durch die Behörden des Vorbehaltsstaats verlangen können (vgl. Borrás/Degeling Explanatory Report on the Convention on the International Recovery of Child Support and Other Forms of Family Maintenance Rn. 590, veröffentlicht bei www.hcch.net). Daraus folgt im logischen Umkehrschluss, dass die Vertragsstaaten des Haager Unterhaltsübereinkommens - soweit sie keinen Vorbehalt nach Art. 20 Abs. 2 HUÜ angebracht haben - dazu verpflichtet sind, Unterhaltsentscheidungen aus anderen Vertragsstaaten anzuerkennen, die öffentliche Einrichtungen am gewöhnlichen Aufenthaltsort der originär unterhaltsberechtigten Person erstritten haben.
36Der Beschluss des Rates vom über die Genehmigung des Haager Übereinkommens vom über die internationale Geltendmachung der Unterhaltsansprüche von Kindern und anderen Familienangehörigen im Namen der Europäischen Union (ABl. EU Nr. L 192 vom , S. 39 ff.) enthält bezüglich öffentlicher Einrichtungen keine Vorbehaltserklärung nach Art. 20 Abs. 2 HUÜ 2007, so dass sich die Anerkennungspflicht für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch auf solche unter Art. 20 lit. c HUÜ 2007 fallenden Entscheidungen aus anderen Vertragsstaaten des Haager Unterhaltsübereinkommens erstreckt, die in einem Erkenntnisverfahren am gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten zugunsten von öffentlichen Einrichtungen ergangen sind. Auch vor diesem Hintergrund erscheint es nicht verständlich, öffentlichen Einrichtungen innerhalb der Europäischen Union eine Zuständigkeit am gewöhnlichen Aufenthalt der unterhaltsberechtigten Person zu versagen.
373. In der Gesamtschau lässt sich die richtige Auslegung des Art. 3 lit. b EuUnthVO indessen nicht aus der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eindeutig ableiten. Vielmehr bleiben bei der Auslegung der Vorschrift vernünftige Zweifel.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2019:050619BXIIZB44.19.0
Fundstelle(n):
NJW 2019 S. 2344 Nr. 32
QAAAH-22231