EuGH Urteil v. - Rs C-60/93

Leitsatz

Leitsatz:

»Die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, die die Verwirklichung der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft bezwecken ° insbesondere die Vorschriften des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 über die Bestimmung der anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften °, verbieten es, daß von einem Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnt und im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses mit einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen ausschließlich ausserhalb des Gebiets der Mitgliedstaaten Tätigkeiten ausübt, aufgrund deren er nach der Sozialgesetzgebung dieses anderen Mitgliedstaats beitragspflichtig ist, Beiträge nach der Sozialgesetzgebung seines Wohnstaats erhoben werden.

Der blosse Umstand, daß die Tätigkeiten eines Arbeitnehmers ausserhalb des Gebiets der Gemeinschaft ausgeuebt werden, reicht nämlich nicht aus, um die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer auszuschließen, wenn das Arbeitsverhältnis eine hinreichend enge Anknüpfung an das Gebiet der Gemeinschaft behält; bei Fehlen einer Bestimmung, die sich ausdrücklich auf den Fall einer Person in einer derartigen Situation bezieht, ist, sofern die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats des Arbeitnehmers keine Anknüpfung an das Arbeitsverhältnis aufweisen, die Anwendung dieser Rechtsvorschriften zugunsten der Anwendung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem der Arbeitgeber ansässig ist, auszuschließen, bei denen eine solche Anknüpfung vorliegt.«

Entscheidungsgründe:

1 Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteil vom , beim Gerichtshof eingegangen am , gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom (ABl. L 230, S. 6) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen R. L. Aldewereld und dem Staatssecretaris van Financi_n über die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen für das Jahr 1986.

3 Herr Aldewereld ist niederländischer Staatsangehöriger, der zum Zeitpunkt seiner Einstellung durch ein in Deutschland ansässiges Unternehmen in den Niederlanden wohnte; dieses Unternehmen entsandte ihn gleich nach seiner Einstellung nach Thailand, wo er im Jahr 1986 arbeitete.

4 Aus dem Vorlageurteil geht hervor, daß wegen dieser Tätigkeit Herr Aldewereld in Deutschland Sozialversicherungsbeiträge für Leistungen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter und Unfällen schuldete und daß sein Arbeitgeber diese Beiträge unmittelbar von dem im Jahr 1986 gezahlten Lohn einbehielt.

5 Da Herr Aldewereld in den Niederlanden wohnte, forderte ihn die niederländische Steuerverwaltung auf, für das gleiche Jahr 1986 Pflichtbeiträge aufgrund der niederländischen Sozialversicherungsvorschriften zu zahlen, nach denen es nicht erforderlich ist, daß der Betreffende seine berufliche Tätigkeit in den Niederlanden ausübt.

6 Der Gerechtshof Arnheim (Niederlande), bei dem Herr Aldewereld Klage erhoben hatte, vertrat die Auffassung, daß aus den Bestimmungen des Artikels 13 Absätze 1 und 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 abzuleiten sei, daß Herr Aldewereld den Rechtsvorschriften des Wohnstaats und nicht denen des Staates, in dem sein Arbeitgeber ansässig sei, unterliege.

7 Gegen diese Entscheidung legte Herr Aldewereld Kassationsbeschwerde beim Hoge Raad der Nederlanden ein, der zunächst die Frage aufwirft, ob die Verordnung Nr. 1408/91 eine Lösung für einen Fall wie den beschriebenen liefern könne, da die Artikel 13 bis 17 der Verordnung nur die Situation von Arbeitnehmern beträfen, die ihre Tätigkeit im Gebiet eines Mitgliedstaats oder auf einem unter der Flagge eines Mitgliedstaats fahrenden Schiff ausübten. Für den Fall, daß diese Frage zu bejahen ist, möchte der Hoge Raad wissen, ob sich, wie das erstinstanzliche Gericht entschieden habe, aus den Bestimmungen des Artikels 13 Absätze 1 und 2 Buchstabe a der Verordnung ergebe, daß der Betroffene den Rechtsvorschriften des Wohnstaats unterliege.

8 In Anbetracht dieser Probleme hat der Hoge Raad der Nederlanden das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Verbieten es die Vorschriften des Europäischen Gemeinschaftsrechts, die die Verwirklichung der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft bezwecken ° insbesondere die Vorschriften des Titels II der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom über die Bestimmung der anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften °, daß von demjenigen, der im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnt (Wohnstaat) und im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses mit einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen ausschließlich ausserhalb des Gebiets der Mitgliedstaaten Tätigkeiten ausübt, aufgrund deren er nach den sozialen Rechtsvorschriften dieses anderen Mitgliedstaats beitragspflichtig ist, Beiträge nach den sozialen Rechtsvorschriften des Wohnstaats erhoben werden?

9 Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

"Vorbehaltlich des Artikels 14c unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel."

10 Da feststeht, daß eine Person in der Situation des Herrn Aldewereld in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung, wie er in deren Artikel 2 festgelegt ist, fällt, ist die in Artikel 13 Absatz 1 genannte Regel der Einheitlichkeit grundsätzlich anwendbar, und die anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften bestimmen sich nach Titel II dieser Verordnung.

11 Keine Bestimmung dieses Titels bezieht sich jedoch unmittelbar auf die Situation eines Arbeitnehmers, der wie Herr Aldewereld zwar von einem Unternehmen aus der Gemeinschaft eingestellt wurde, aber nicht im Gebiet der Gemeinschaft tätig ist.

12 Die niederländische Regierung vertritt die Auffassung, das Fehlen einer Kollisionsnorm in der Verordnung, die sich ausdrücklich auf die fragliche Situation beziehe, stelle keine Lücke dar, sondern sei darauf zurückzuführen, daß eine solche Situation nicht von den Artikeln 48 bis 51 EWG-Vertrag erfasst werde. Daher verbiete es das Gemeinschaftsrecht nicht, daß eine Person wie Herr Aldewereld für ein und denselben Zeitraum einer doppelten Beitragspflicht unterliege.

13 Diese Auffassung ist nicht haltbar.

14 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (siehe in diesem Sinne insbesondere Urteil vom in der Rechtssache 237/83, Prodest, Slg. 1984, 3153, Randnr. 6) reicht der blosse Umstand, daß die Tätigkeiten eines Arbeitnehmers ausserhalb des Gebiets der Gemeinschaft ausgeuebt werden, nicht aus, um die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer auszuschließen, wenn das Arbeitsverhältnis eine hinreichend enge Anknüpfung an das Gebiet der Gemeinschaft behält. In einem Fall wie dem vorliegenden ist eine solche Anknüpfung darin zu sehen, daß der Arbeitnehmer der Gemeinschaft von einem Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats eingestellt wurde und dadurch dem System der sozialen Sicherheit dieses Staates angeschlossen ist.

15 Somit sind die anwendbaren Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung der Bestimmungen des Titels II der Verordnung sowie des mit diesen verfolgten Zweckes zu bestimmen.

16 In diesem Zusammenhang trägt die Kommission vor, beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts sei es vernünftig und angebracht, einem Arbeitnehmer wie Herrn Aldewereld die Wahl des anwendbaren Rechts zu überlassen, da in einer solchen Situation Titel II der Verordnung weder dem Recht des Wohnstaats des Arbeitnehmers noch dem des Staates, in dem das Unternehmen seinen Sitz habe, den Vorzug gebe.

17 Diese Auffassung ist zurückzuweisen.

18 Denn die einzige Bestimmung des Titels II der Verordnung, die dem Arbeitnehmer eine Wahlmöglichkeit einräumt, nämlich Artikel 16, betrifft das "Geschäftspersonal der diplomatischen Vertretungen oder konsularischen Dienststellen" sowie die "Hilfskräfte der Europäischen Gemeinschaften". Diese Arbeitnehmer befinden sich jedoch in einer besonderen Lage, die mit der des betroffenen Arbeitnehmers nicht vergleichbar ist.

19 Im Fall des Geschäftspersonals der diplomatischen Vertretungen oder konsularischen Dienststellen ermöglicht es dieses Wahlrecht dem Mitgliedstaat der Entsendung, die Schwierigkeiten bei der Einstellung von eigenen Staatsangehörigen zu vermeiden, die sich aus der Anwendung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats der Beschäftigung ergeben würden, wenn die Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Herkunftsstaats für die Betreffenden günstiger wären. Die gleiche Erwägung erklärt auch das Wahlrecht für die Hilfskräfte der Europäischen Gemeinschaften.

20 Ausserhalb dieser Sonderfälle ergeben sich die anwendbaren Rechtsvorschriften objektiv aus den Bestimmungen des Titels II der Verordnung, wobei die Anknüpfungspunkte zu berücksichtigen sind, die die betreffende Situation an die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten aufweist.

21 In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens sind der Wohnsitz des Arbeitnehmers und der Ort, an dem der Arbeitgeber ansässig ist, die einzigen Anknüpfungspunkte an die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats. Unter diesen Anknüpfungspunkten ist somit das Kriterium auszuwählen, anhand dessen die auf die fragliche Situation anwendbaren Rechtsvorschriften bestimmt werden können.

22 Wie die italienische Regierung zutreffend hervorhebt, erscheint die Anwendung der Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats des Arbeitnehmers im System der Verordnung als eine untergeordnete Regel, die nur dann eingreift, wenn diese Rechtsvorschriften eine Anknüpfung an das Arbeitsverhältnis aufweisen. So ist normalerweise das Recht des Sitzes oder Wohnsitzes des Arbeitgebers anwendbar, wenn der Arbeitnehmer nicht im Gebiet eines der Mitgliedstaaten wohnt, in denen er seine Tätigkeit ausübt.

23 Nach Artikel 14 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung unterliegt nämlich die Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist, wenn es sich dabei nicht um ein Mitglied des fahrenden oder fliegenden Personals eines Unternehmens handelt, das im internationalen Verkehrswesen die Beförderung von Personen oder Gütern durchführt,

"i) den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, wenn sie ihre Tätigkeit zum Teil im Gebiet dieses Staates ausübt oder wenn sie für mehrere Unternehmen oder mehrere Arbeitgeber tätig ist, die ihren Sitz oder Wohnsitz im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten haben;

ii) den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet das Unternehmen oder der Arbeitgeber, das bzw. der sie beschäftigt, seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie nicht im Gebiet eines der Mitgliedstaaten wohnt, in denen sie ihre Tätigkeit ausübt".

24 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens sind die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats des Arbeitnehmers nicht anwendbar, da sie keine Anknüpfung an das Arbeitsverhältnis aufweisen, im Gegensatz zu den Rechtsvorschriften des Staates, in dem der Arbeitgeber ansässig ist, die daher anzuwenden sind.

25 Daraus folgt, daß bei Fehlen einer Bestimmung, die sich ausdrücklich auf den Fall einer Person in der Situation des Herrn Aldewereld bezieht, eine solche Person nach dem System der Verordnung den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dem der Arbeitgeber ansässig ist.

26 Somit ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, die die Verwirklichung der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft bezwecken ° insbesondere die Vorschriften des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 über die Bestimmung der anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften °, es verbieten, daß von einem Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnt und im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses mit einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen ausschließlich ausserhalb des Gebiets der Mitgliedstaaten Tätigkeiten ausübt, aufgrund deren er nach den sozialen Rechtsvorschriften dieses anderen Mitgliedstaats beitragspflichtig ist, Beiträge nach den sozialen Rechtsvorschriften seines Wohnstaats erhoben werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

27 Die Auslagen der niederländischen und der italienischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Hoge Raad der Nederlanden mit Urteil vom vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, die die Verwirklichung der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft bezwecken ° insbesondere die Vorschriften des Titels II der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom über die Bestimmung der anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften °, verbieten es, daß von einem Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnt und im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses mit einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen ausschließlich ausserhalb des Gebiets der Mitgliedstaaten Tätigkeiten ausübt, aufgrund deren er nach den sozialen Rechtsvorschriften dieses anderen Mitgliedstaats beitragspflichtig ist, Beiträge nach den sozialen Rechtsvorschriften seines Wohnstaats erhoben werden.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
LAAAH-10145