EuGH Urteil v. - C-566/15

Instanzenzug: KG

Gründe

Zur Vorlagefrage

Vorbemerkung

22Im Interesse einer zweckdienlichen Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts ist den unterschiedlichen Fallgestaltungen Rechnung zu tragen, die es bei den verschiedenen bei einer Gesellschaft der TUI-Gruppe beschäftigten Arbeitnehmern gibt.

23Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die TUI-Gruppe nach den Angaben des Vertreters von TUI in der mündlichen Verhandlung außerhalb Deutschlands nur über Betriebe verfügt, die mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet sind.

Zu den bei einer Tochtergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern der TUI-Gruppe

24Das vorlegende Gericht möchte zunächst wissen, ob die Art. 18 und 45 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die vorsieht, dass die Arbeitnehmer einer Unternehmensgruppe, die bei einer im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ansässigen Tochtergesellschaft beschäftigt sind, nicht über das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der Muttergesellschaft dieses Konzerns verfügen.

25Nach ständiger Rechtsprechung, auf die der Generalanwalt in Nr. 39 seiner Schlussanträge hingewiesen hat, soll Art. 18 AEUV, in dem der allgemeine Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verankert ist, eigenständig nur bei unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen zur Anwendung kommen, für die der AEU-Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht (Urteil vom , Schiebel Aircraft, C-474/12, EU:C:2014:2139, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26Art. 45 Abs. 2 AEUV sieht jedoch zugunsten der Arbeitnehmer ein besonderes Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit für den Bereich der Arbeitsbedingungen vor.

27Daher ist die Situation der in Rn. 24 des vorliegenden Urteils genannten Arbeitnehmer nur im Licht von Art. 45 AEUV zu prüfen.

28Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit nicht auf Situationen anwendbar sind, die keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Unionsrecht abstellt. Daher sind sie nicht auf Arbeitnehmer anwendbar, die nie von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht haben oder Gebrauch machen wollen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C-212/06, EU:C:2008:178, Rn. 33, 37 und 38).

29Wie der Generalanwalt in den Nrn. 49 und 55 seiner Schlussanträge festgestellt hat, ist der Umstand, dass die Tochtergesellschaft, bei der die betreffenden Arbeitnehmer tätig sind, von einer Muttergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Sitzstaat der Tochtergesellschaft kontrolliert wird, für die Schaffung eines Berührungspunkts mit einem der von Art. 45 AEUV erfassten Sachverhalte ohne Bedeutung.

30Daher fällt die Situation der in Rn. 24 des vorliegenden Urteils genannten Arbeitnehmer nicht in den Anwendungsbereich von Art. 45 AEUV.

Zu den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern der TUI-Gruppe, die ihre Stelle aufgeben, um eine Stelle bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dieses Konzerns anzutreten

31Sodann möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 18 und 45 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach die bei den inländischen Betrieben eines Konzerns beschäftigten Arbeitnehmer das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der in diesem Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft des Konzerns sowie gegebenenfalls das Recht auf Ausübung oder weitere Ausübung eines Aufsichtsratsmandats verlieren, wenn sie ihre Stelle in einem solchen Betrieb aufgeben und eine Stelle bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dieses Konzerns antreten.

32Hier geht es um Arbeitnehmer, die innerhalb der TUI-Gruppe von ihrem Recht aus Art. 45 AEUV Gebrauch machen. Daher findet, wie der Generalanwalt in Nr. 68 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und wie sich aus den Rn. 25 und 26 des vorliegenden Urteils ergibt, Art. 18 AEUV auf diese Fallgestaltung keine Anwendung.

33Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sollen sämtliche Bestimmungen des Vertrags über die Freizügigkeit den Unionsangehörigen die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern und stehen Maßnahmen entgegen, die die Unionsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als ihres Herkunftsmitgliedstaats eine Tätigkeit ausüben wollen. In diesem Zusammenhang haben die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten insbesondere das unmittelbar aus dem Vertrag abgeleitete Recht, ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um sich zur Ausübung einer Tätigkeit in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben und sich dort aufzuhalten. Folglich steht Art. 45 AEUV jeder nationalen Maßnahme entgegen, die geeignet ist, die Ausübung der durch diese Vorschrift garantierten Grundfreiheit durch die Unionsangehörigen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Gouvernement de la Communauté française und gouvernement wallon, C-212/06, EU:C:2008:178, Rn. 44 und 45, sowie vom , Casteels, C-379/09, EU:C:2011:131, Rn. 21 und 22).

34Das Primärrecht der Union kann einem Arbeitnehmer jedoch nicht garantieren, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat als seinen Herkunftsmitgliedstaat in sozialer Hinsicht neutral ist, da ein solcher Umzug aufgrund der Unterschiede, die zwischen den Systemen und den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestehen, für die betreffende Person je nach Einzelfall Vorteile oder Nachteile in diesem Bereich haben kann (vgl. entsprechend Urteile vom , Alevizos, C-392/05, EU:C:2007:251, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom , Pöpperl, C-187/15, EU:C:2016:550, Rn. 24).

35Daher verschafft, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in den Nrn. 75 und 78 seiner Schlussanträge festgestellt hat, Art. 45 AEUV einem solchen Arbeitnehmer nicht das Recht, sich im Aufnahmemitgliedstaat auf die Arbeitsbedingungen zu berufen, die ihm im Herkunftsmitgliedstaat nach den dortigen nationalen Rechtsvorschriften zustanden.

36Insoweit ist hinzuzufügen, dass es den Mitgliedstaaten mangels Harmonisierungs- oder Koordinierungsmaßnahmen auf Unionsebene in dem betreffenden Bereich grundsätzlich unbenommen bleibt, die Anknüpfungskriterien des Anwendungsbereichs ihrer Rechtsvorschriften zu bestimmen, sofern diese Kriterien objektiv und nicht diskriminierend sind.

37In diesem Zusammenhang hindert das Unionsrecht einen Mitgliedstaat nicht daran, im Bereich der kollektiven Vertretung und Verteidigung der Arbeitnehmerinteressen in den Leitungs- und Aufsichtsorganen einer Gesellschaft nationalen Rechts, der bislang nicht Gegenstand einer Harmonisierung oder auch nur einer Koordinierung auf Unionsebene war, vorzusehen, dass die von ihm erlassenen Vorschriften nur auf die Arbeitnehmer inländischer Betriebe Anwendung finden. Desgleichen steht es einem anderen Mitgliedstaat frei, bei der Anwendung seiner eigenen nationalen Vorschriften auf einen anderen Anknüpfungspunkt zurückzugreifen.

38Im vorliegenden Fall gehört die durch das MitBestG eingeführte Mitbestimmungsregelung, die darauf abzielt, die Arbeitnehmer durch gewählte Vertreter in die Entscheidungs- und strategischen Organe der Gesellschaft einzubeziehen, sowohl zum deutschen Gesellschaftsrecht als auch zum deutschen kollektiven Arbeitsrecht, deren Anwendungsbereich die Bundesrepublik Deutschland auf die bei inländischen Betrieben tätigen Arbeitnehmer beschränken kann, sofern eine solche Beschränkung auf einem objektiven und nicht diskriminierenden Kriterium beruht.

39Nach alledem kann der bei den in Rn. 31 des vorliegenden Urteils genannten Arbeitnehmern eintretende Verlust der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechte nicht als Behinderung der durch Art. 45 AEUV gewährleisteten Arbeitnehmerfreizügigkeit angesehen werden.

40Was insbesondere Arbeitnehmer betrifft, denen während ihrer Tätigkeit in einem in Deutschland ansässigen Betrieb ein Vertretungsmandat im Aufsichtsrat einer deutschen Gesellschaft übertragen wurde und die Deutschland verlassen, um eine Tätigkeit bei einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat aufzunehmen, ist der Umstand, dass sie in einem solchen Fall auf die weitere Ausübung ihres Mandats in Deutschland verzichten müssen, nur die Folge der legitimen Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland, die Anwendung ihrer nationalen Vorschriften im Bereich der Mitbestimmung auf die bei einem inländischen Betrieb tätigen Arbeitnehmer zu beschränken.

41Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, wonach die bei den inländischen Betrieben eines Konzerns beschäftigten Arbeitnehmer das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der in diesem Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft des Konzerns sowie gegebenenfalls das Recht auf Ausübung oder weitere Ausübung eines Aufsichtsratsmandats verlieren, wenn sie ihre Stelle in einem solchen Betrieb aufgeben und eine Stelle bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dieses Konzerns antreten.

Kosten

42Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, wonach die bei den inländischen Betrieben eines Konzerns beschäftigten Arbeitnehmer das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der in diesem Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft des Konzerns sowie gegebenenfalls das Recht auf Ausübung oder weitere Ausübung eines Aufsichtsratsmandats verlieren, wenn sie ihre Stelle in einem solchen Betrieb aufgeben und eine Stelle bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dieses Konzerns antreten.

Fundstelle(n):
ZAAAH-09395