BAG Urteil v. - 1 AZR 296/17

Instanzenzug: ArbG Bochum Az: 3 Ca 827/16 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen) Az: 11 Sa 1426/16 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über eine Zahlung nach einem Sozialplan.

2Der im Juli 1956 geborene Kläger ist schwerbehinderter Mensch und war bei der Beklagten am Produktionsstandort B beschäftigt. Wegen dessen beabsichtigter Schließung vereinbarte die Beklagte am mit der zuständigen Gewerkschaft einen Sozialtarifvertrag (STV) und einigte sich am mit dem Betriebsrat auf einen Interessenausgleich sowie einen Sozialplan (SP). Dieser erstreckt nach seiner Nr. 1 den Inhalt des in Abschn. C. des STV geregelten Sozialplans auf die Arbeitsverhältnisse aller Betriebsangehörigen. Nach Abschn. H. des STV werden dessen Abfindungsansprüche auf solche nach einem betrieblichen Sozialplan angerechnet und Doppelansprüche ausgeschlossen.

3Beide Vereinbarungen sehen für Arbeitnehmer der Jahrgänge 1949 bis 1959 ein individuelles Angebot zum Ausscheiden zum gegen Zahlung einer Abfindung vor. Das Abfindungsangebot ist gemäß Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV so zu bemessen, dass es „unter Anrechnung von Arbeitslosengeld 1 und Bezügen aus der O Altersversorgung … ab dem 60. Lebensjahr“ eine Absicherung iHv. 80 vH des zuletzt bezogenen Nettomonatseinkommens im Zeitraum vom bis zum frühestmöglichen Wechsel in die gesetzliche Rente sicherstellt (sog. „Nettoabsicherung“). Der sich für den abzusichernden Zeitraum ergebende Gesamtbetrag zuzüglich der Aufwendungspauschale für die freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung ist unter Zuhilfenahme der dem Arbeitgeber bekannten und angezeigten Steuermerkmale auf eine Bruttosumme hochzurechnen (sog. „Bruttoisierung“). Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 4.1 und 4.6 STV legen fest, dass es sich bei dem mit Abschluss des Aufhebungsvertrags entstehenden Abfindungsanspruch um einen Bruttobetrag handelt, der unter Beachtung der gesetzlichen Regelungen mit der Gehaltsabrechnung für Januar 2015 abzurechnen und auszuzahlen ist.

4Der Berechnung des Abfindungsangebots legte die Beklagte den zugrunde. Zu diesem Zeitpunkt konnte der Kläger erstmals eine vorzeitige Altersrente für schwerbehinderte Menschen beziehen. Da das Arbeitsverhältnis der Parteien zum endete, zahlte die Beklagte eine Bruttoabfindung iHv. 18.100,00 Euro.

5Der Kläger hat die Auffassung vertreten, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV benachteilige ihn wegen seiner Schwerbehinderung. Nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer des identischen Geburtsjahrgangs erhielten eine höhere Abfindung, da sie erst später als er in die gesetzliche Rente wechseln könnten. Zur Vermeidung einer mittelbaren Diskriminierung wegen Behinderung sei er nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom (- C-152/11 - [Odar]) wie ein nicht schwerbehinderter Arbeitnehmer zu behandeln.

6Der Kläger hat - soweit für die Revision noch von Interesse - beantragt,

7Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

8Das Arbeitsgericht hat der Klage, die erstinstanzlich noch auf die Zahlung von 39.381,62 Euro netto gerichtet war, stattgegeben. Hinsichtlich eines weiteren vom Kläger begehrten Betrags iHv. 3.570,00 Euro brutto haben die Parteien nach erfolgter Zahlung durch die Beklagte den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts teilweise abgeändert und - unter Abweisung der Klage im Übrigen - die Beklagte zur Zahlung von 16.755,70 Euro ohne den Zusatz „netto“ verurteilt. Die Beklagte verfolgt mit ihrer Revision das Ziel der vollständigen Klageabweisung weiter.

Gründe

9Die Revision der Beklagten ist begründet. Dem Kläger steht die begehrte Zahlung einer Nettoabsicherung weder nach dem SP noch nach dem STV zu. Dies hat das Landesarbeitsgericht verkannt.

10I. Die Klage ist auf Auszahlung der Nettoabsicherung iSv. Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 1 STV gerichtet.

111. Nach dem für das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren geltenden zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff wird der Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens durch den dort gestellten Antrag (Klageantrag) und dem ihm zugrunde liegenden Lebenssachverhalt (Klagegrund) bestimmt. Der Streitgegenstand erfasst alle Tatsachen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden, den Sachverhalt seinem Wesen nach erfassenden Betrachtungsweise zu dem zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören, den der Kläger zur Stützung seines Rechtsschutzbegehrens dem Gericht unterbreitet hat. Das Vorbringen des Beklagten oder eigenes Verteidigungsvorbringen des Klägers gegenüber dem Beklagtenvortrag verändert den mit Antrag und Klagevorbringen festgelegten Streitgegenstand nicht ( - Rn. 11 mwN).

122. Mit seinem Klageantrag hat der Kläger ausdrücklich eine Nettozahlung verlangt. In Verbindung mit dem von ihm geschilderten Lebenssachverhalt ergibt sich, dass Streitgegenstand die Nettoabsicherung nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 1 STV ist und nicht eine nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 4, Ziff. 4 STV zu berechnende Bruttoabfindung. Zwar führt der Kläger zunächst aus, dass er einen Anspruch auf Zahlung der ihm bei diskriminierungsfreier Auslegung des SP und des STV zustehenden Abfindung geltend mache. Bei der näheren Konkretisierung des Klagebegehrens beschränkt er sich aber auf die Berechnung eines Nettoabsicherungsbedarfs für die Zeit vom bis zu dem von ihm als zutreffend angesehenen Renteneintritt. Auf diesen Betrag beschränkte er die Klageforderung, weil es Sache der Beklagten sei, einen Anspruch auf Nettoabsicherung „zu bruttoisieren“, also den Bruttobetrag zu berechnen und unter Berücksichtigung der entsprechenden Abzüge den verbleibenden Nettobetrag an ihn auszuzahlen. Danach ist Gegenstand der Klage zuletzt nur noch die bezifferte Nettoabsicherung für die Zeit vom bis zum . Dieser Nettobetrag dient nicht bloß der Berechnung einer Bruttoforderung, sondern in ihr erschöpft sich die Klageforderung.

133. Das auf eine Nettoabsicherung gerichtete Klagebegehren konnte das Landesarbeitsgericht nicht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ( - Rn. 5, BAGE 154, 116) in einen Bruttozahlbetrag umwandeln. Durch das Streichen des Zusatzes „netto“ hat das Landesarbeitsgericht nicht bloß verdeutlicht, was von Gesetzes wegen hinsichtlich der einen Arbeitnehmer treffenden Leistungspflicht für Steuer- und/oder Sozialabgaben gilt (§ 38 Abs. 2 EStG; § 28g SGB IV). Vielmehr hat es den Streitgegenstand ausgewechselt und auf eine Sozialplanforderung erkannt, die der Kläger nicht verlangt hat und die auch der Höhe nach nicht dem sich nach einer Nettoabsicherung von 16.755,70 Euro errechnenden Bruttobetrag entspricht.

14II. Der Kläger kann nach Nr. 1 SP iVm. Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 1 STV keine (Aus-)Zahlung der Nettoabsicherung beanspruchen. Dies ergibt die Auslegung des Sozialplans (vgl. zu den Auslegungsgrundsätzen  - Rn. 15 mwN).

151. Gemäß Ziff. 1 SP iVm. Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 1 STV wird das individuelle Abfindungsangebot so bemessen, dass es für einen bestimmten Zeitraum bis zum frühestmöglichen Wechsel in die gesetzliche Rente eine Absicherung iHv. 80 vH des zuletzt bezogenen und sich nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.5 Abs. 1 STV errechnenden Nettomonatseinkommens sicherstellt. Der aus dem gesamten Zeitraum ermittelte 80-prozentige Nettobedarf sowie die Aufwendungspauschale für die freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 3 STV werden unter Zuhilfenahme der der Beklagten bekannten und angezeigten Steuermerkmale nach Maßgabe der Nr. 1 SP iVm. Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 4 STV auf einen Bruttoabfindungsbetrag hochgerechnet. Grundlage dafür sind das zu erwartende steuerpflichtige Bruttoarbeitsentgelt im Jahr 2015 in der Transfergesellschaft und die bekannten Steuerparameter des jeweiligen Mitarbeiters. Nr. 1 SP iVm. Abschn. C. Ziff. 4 STV regelt das Entstehen sowie die Fälligkeit des Abfindungsanspruchs. Die Regelung bestimmt weiterhin, dass es sich bei den Abfindungsbeträgen um Bruttobeträge handelt und etwaige Steuern und Sozialabgaben von den Arbeitnehmern entsprechend der gesetzlichen Bestimmungen zu tragen sind.

162. Hiernach vermittelt der SP iVm. dem STV keinen Anspruch auf (Aus-)Zahlung der Nettoabsicherung. Sowohl nach seinem Wortlaut als auch nach seiner Systematik handelt es sich bei der Nettoabsicherung lediglich um eine Rechengröße, mit deren Hilfe und auf deren Grundlage eine dem Kläger anzubietende Bruttoabfindung zu berechnen ist. Erst diese unterliegt der Sozialversicherungs- und individuellen Steuerpflicht. Zwangsläufig ist der danach verbleibende Zahlbetrag dividiert durch die Anzahl der abzusichernden Monate rechnerisch nicht identisch mit dem monatlichen (Netto-)Absicherungsbedarf ( - Rn. 17 mwN).

17III. Die vorstehenden Erwägungen gelten entsprechend, soweit der Kläger seinen Anspruch allein auf Abschn. C. Ziff. 2.6 Abs. 1 STV stützt. Dieser vermittelt keine weitergehenden Ansprüche und schließt zudem eine Doppelzahlung bei identischen Ansprüchen aus (Abschn. H. Ziff. 2 STV).

18IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, § 91a Abs. 1 Satz 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2019:150119.U.1AZR296.17.0

Fundstelle(n):
IAAAH-08235