Instanzenzug:
Gründe
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
22Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 65 und 306 bis 310 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass der Mehrwertsteueranspruch im Einklang mit Art. 65 entsteht, wenn ein Reisebüro, das der Sonderregelung in den Art. 306 bis 310 unterliegt, eine Anzahlung auf touristische Dienstleistungen vereinnahmt, die es dem Reisenden erbringen wird.
23Skarpa macht geltend, das Reisebüro müsse zur Bestimmung der einschlägigen Steuerbemessungsgrundlage nach Art. 308 der Richtlinie seine tatsächliche Gewinnmarge berechnen, was jedoch unmöglich sei, ohne die tatsächlichen Kosten zu kennen, die es für den Erwerb von Gegenständen und Dienstleistungen von anderen Steuerpflichtigen verauslagen müsse. Somit entstehe der Steueranspruch erst dann, wenn alle tatsächlich vom Reisebüro getragenen Kosten bekannt seien und die erzielte Marge feststehe. Art. 65 der Richtlinie könne in einem solchen Fall daher keine Anwendung finden.
24Die mit den Art. 306 bis 310 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeführte Mehrwertsteuer-Sonderregelung für Reisebüros enthält für deren Tätigkeit eigene Regeln, die vom gemeinsamen Mehrwertsteuersystem abweichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Kozak, C-557/11, EU:C:2012:672, Rn. 16).
25Nach Art. 306 der Richtlinie wenden die Mitgliedstaaten diese Regelung auf Umsätze von Reisebüros an, soweit diese nicht als Vermittler handeln, sondern gegenüber dem Reisenden im eigenen Namen auftreten und zur Durchführung der Reise Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen anderer Steuerpflichtiger in Anspruch nehmen.
26Für die gemäß Art. 306 getätigten Umsätze von Reisebüros hat der Unionsgesetzgeber in den Art. 307 bis 310 der Mehrwertsteuerrichtlinie Sondervorschriften für den Ort der Besteuerung, die Berechnung der Steuerbemessungsgrundlage und den Vorsteuerabzug vorgesehen.
27Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass diese Sonderregelung als Ausnahme vom gemeinsamen System der Mehrwertsteuerrichtlinie nur angewandt werden darf, soweit dies zur Erreichung ihres Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Kozak, C-557/11, EU:C:2012:672, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs soll mit dieser Sonderregelung vor allem den Schwierigkeiten abgeholfen werden, die sich für die Wirtschaftsteilnehmer ergäben, wenn auf die Umsätze, die mit der Erbringung von Dritten bezogener Leistungen verbunden sind, die allgemeinen Grundsätze der Mehrwertsteuerrichtlinie anwendbar wären, da die Anwendung der allgemeinen Bestimmungen über den Ort der Besteuerung, die Steuerbemessungsgrundlage und den Vorsteuerabzug bei diesen Unternehmen aufgrund der Vielzahl und der Lokalisierung der erbrachten Leistungen zu praktischen Schwierigkeiten führen würde, die geeignet wären, die Ausübung ihrer Tätigkeit zu behindern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Kozak, C-557/11, EU:C:2012:672, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29Folglich stellt die für Reisebüros geltende Mehrwertsteuer-Sonderregelung als solche keine unabhängige und abschließende Steuerregelung dar, sondern enthält lediglich Vorschriften, die von bestimmten Regeln des allgemeinen Mehrwertsteuersystems abweichen, so dass die übrigen Regeln dieses allgemeinen Systems auf mehrwertsteuerpflichtige Umsätze von Reisebüros anwendbar sind.
30Daher können mit Ausnahme der Bestimmungen über den Ort der Besteuerung, die Berechnung der Steuerbemessungsgrundlage und den Vorsteuerabzug alle Bestimmungen des allgemeinen Mehrwertsteuersystems auf Umsätze angewandt werden, die unter die Sonderregelung für Reisebüros fallen.
31Demzufolge bleiben die den Steuertatbestand und die Entstehung des Mehrwertsteueranspruchs auf Lieferungen von Gegenständen und die Erbringung von Dienstleistungen, die sich u. a. in den Art. 63 und 65 der Mehrwertsteuerrichtlinie befinden, auf Umsätze anwendbar, die unter die Sonderregelung für Reisebüros fallen.
32Nach Art. 63 der Richtlinie treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.
33Nach Art. 65 der Mehrwertsteuerrichtlinie entsteht der Steueranspruch bei Anzahlungen, die geleistet werden, bevor die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht ist, aber zum Zeitpunkt der Vereinnahmung entsprechend dem vereinnahmten Betrag. Diese Vorschrift muss, da sie von der in Art. 63 der Richtlinie aufgestellten Regel abweicht, eng ausgelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , FIRIN, C-107/13, EU:C:2014:151, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34Damit unter solchen Umständen der Steueranspruch entstehen kann, müssen alle maßgeblichen Elemente des Steuertatbestands, d. h. der künftigen Dienstleistung, bereits bekannt sein; somit müssen insbesondere die Dienstleistungen zum Zeitpunkt der Anzahlung genau bestimmt sein (Urteil vom , FIRIN, C-107/13, EU:C:2014:151, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35Im vorliegenden Fall verweist das vorlegende Gericht darauf, dass die Anzahlung zum Zeitpunkt ihrer Vereinnahmung durch ein Reisebüro wie Skarpa einer von diesem Reisebüro erbrachten Dienstleistung zugeordnet werden könne, z. B. einer Reise an einem bestimmten Datum und in ein bestimmtes Land. Somit steht unter dem Vorbehalt einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht fest, dass eine solche Anzahlung eine genau bezeichnete Dienstleistung betrifft, so dass der Mehrwertsteueranspruch nach Art. 65 der Mehrwertsteuerrichtlinie zum Zeitpunkt ihrer Vereinnahmung entsteht.
36Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 65 und 306 bis 310 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass der Mehrwertsteueranspruch im Einklang mit Art. 65 entsteht, wenn ein Reisebüro, das der Sonderregelung in den Art. 306 bis 310 unterliegt, eine Anzahlung auf touristische Dienstleistungen, die es dem Reisenden erbringen wird, vereinnahmt, sofern die zu erbringenden touristischen Dienstleistungen zu diesem Zeitpunkt genau bestimmt sind.
Zur zweiten Frage
37Mit seiner zweiten Frage ersucht das vorlegende Gericht um Klarstellungen dazu, wie eine von einem Reisebüro vereinnahmte Anzahlung zu besteuern ist.
38Nach Art. 308 der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt als Steuerbemessungsgrundlage für die vom Reisebüro erbrachte einheitliche Dienstleistung dessen Gewinnmarge – d. h. die Differenz zwischen dem vom Reisenden zu zahlenden Gesamtbetrag ohne Mehrwertsteuer und den tatsächlichen Kosten, die dem Reisebüro für die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen anderer Steuerpflichtiger entstehen –, soweit diese Umsätze dem Reisenden unmittelbar zugutekommen.
39Wie in den Rn. 26 bis 28 des vorliegenden Urteils ausgeführt, richtet sich, wenn Reisebüros Gegenstände oder Dienstleistungen bei anderen Steuerpflichtigen erwerben, die Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer nach dieser Vorschrift, die zu den Sondervorschriften gehört, die der Unionsgesetzgeber vorgesehen hat, um den Besonderheiten der Tätigkeit von Reisebüros Rechnung zu tragen und um ihnen praktische Schwierigkeiten zu ersparen, die die Ausübung ihrer Tätigkeit behindern könnten.
40Folglich darf die Auslegung der Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht dazu führen, dass die genaue Berechnung der in ihrem Art. 308 speziell vorgesehenen Steuerbemessungsgrundlage de facto unmöglich gemacht wird; diese setzt voraus, dass das Reisebüro vom Gesamtpreis ohne Mehrwertsteuer, den der Reisende zahlt, sämtliche Kosten in Abzug bringen kann, die dem Reisebüro für die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen anderer Steuerpflichtiger tatsächlich entstehen.
41Falls die vom Kunden geleistete Anzahlung dem Gesamtpreis der touristischen Dienstleistung oder einem erheblichen Teil davon entspricht und falls dem Reisebüro zum Zeitpunkt der Leistung dieser Anzahlung noch keine tatsächlichen Kosten oder nur ein begrenzter Teil der individuellen Gesamtkosten für diese Dienstleistung entstanden sind, kann die alleinige Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der Anzahlung tatsächlich entstandenen Kosten das Reisebüro in bestimmten Fällen daran hindern, alle diese Kosten oder einen Teil von ihnen vom Gesamtpreis ohne Mehrwertsteuer der Dienstleistung abzuziehen, und kann somit die in Art. 308 der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegte Berechnungsweise der Steuerbemessungsgrundlage verfälschen.
42Außerdem kann es sein, dass ein Reisebüro nicht in der Lage ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Reisender eine Anzahlung leistet, die tatsächlichen Kosten einer konkreten ihm erbrachten touristischen Dienstleistung zu bestimmen.
43In Situationen wie den in den beiden vorstehenden Randnummern geschilderten kann die Gewinnmarge des Reisebüros folglich aufgrund einer Schätzung der tatsächlichen Gesamtkosten bestimmt werden, die ihm letztlich entstehen. Bei einer solchen Schätzung hat das Reisebüro gegebenenfalls die Kosten zu berücksichtigen, die ihm zum Zeitpunkt der Vereinnahmung der Anzahlung bereits tatsächlich entstanden sind.
44Zieht man die geschätzten tatsächlichen Gesamtkosten vom Gesamtpreis der Reise ab, ergibt sich die voraussichtliche Gewinnmarge des Reisebüros. Multipliziert man die Anzahlung mit dem Prozentsatz, der vom Gesamtpreis der Reise auf die in dieser Weise bestimmte voraussichtliche Gewinnmarge entfällt, ergibt sich die Bemessungsgrundlage der bei Vereinnahmung der Anzahlung abzuführenden Mehrwertsteuer.
45Wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann von einem mit durchschnittlicher Sorgfalt betriebenen Reisebüro bei vernünftiger Betrachtung erwartet werden, dass es eine relativ detaillierte Schätzung der individuellen Gesamtkosten einer Reise erstellt, um ihren Gesamtpreis zu bestimmen.
46Die geschätzten voraussichtlichen Kosten müssen mit der konkreten touristischen Dienstleistung in Zusammenhang stehen, für die die Anzahlung vom Reisebüro vereinnahmt wurde, da die Gewinnmarge und die Steuerbemessungsgrundlage für jede vom Reisebüro erbrachte einheitliche Dienstleistung zu bestimmen sind, d. h. in individueller Form und nicht pauschal für Gruppen von Dienstleistungen oder eine Gesamtheit von Dienstleistungen, die während eines bestimmten Zeitraums erbracht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Kommission/Deutschland, C-380/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:76, Rn. 89, 91 und 92).
47Diese Lösung gilt unbeschadet dessen, dass die tatsächlichen individuellen Kosten der Reise, sobald ihr endgültiger Betrag dem Reisebüro bekannt ist, zur Ermittlung der Mehrwertsteuer im Einklang mit Art. 308 der Mehrwertsteuerrichtlinie heranzuziehen sind, gegebenenfalls unter Berichtigung der bei der Vereinnahmung der Anzahlung erstellten Mehrwertsteuererklärungen.
48Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 308 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die Marge des Reisebüros – und folglich seine Steuerbemessungsgrundlage – in der Differenz zwischen dem vom Reisenden zu zahlenden Gesamtbetrag ohne Mehrwertsteuer und den tatsächlichen Kosten besteht, die vom Reisebüro vorab für Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen anderer Steuerpflichtiger verauslagt werden, soweit diese Umsätze dem Reisenden unmittelbar zugutekommen. Entspricht die Anzahlung dem Gesamtpreis der touristischen Dienstleistung oder einem erheblichen Teil davon, und sind dem Reisebüro noch keine tatsächlichen Kosten oder nur ein begrenzter Teil der individuellen Gesamtkosten für diese Dienstleistung entstanden oder können die vom Reisebüro zu tragenden tatsächlichen individuellen Kosten der Reise zum Zeitpunkt der Leistung der Anzahlung nicht bestimmt werden, dann kann die Gewinnmarge aufgrund einer Schätzung der tatsächlichen Gesamtkosten bestimmt werden, die dem Reisebüro letztlich entstehen werden. Bei einer solchen Schätzung hat das Reisebüro gegebenenfalls die Kosten zu berücksichtigen, die ihm zum Zeitpunkt der Vereinnahmung der Anzahlung bereits tatsächlich entstanden sind. Bei der Berechnung der Marge werden vom Gesamtpreis der Reise die geschätzten tatsächlichen Kosten in Abzug gebracht. Die Bemessungsgrundlage der bei Vereinnahmung der Anzahlung abzuführenden Mehrwertsteuer ergibt sich aus einer Multiplikation des Betrags der Anzahlung mit dem Prozentsatz, der vom Gesamtpreis der Reise auf die in dieser Weise bestimmte voraussichtliche Gewinnmarge entfällt.
Kosten
49Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Art. 65 und 306 bis 310 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass der Mehrwertsteueranspruch im Einklang mit Art. 65 entsteht, wenn ein Reisebüro, das der Sonderregelung in den Art. 306 bis 310 unterliegt, eine Anzahlung auf touristische Dienstleistungen, die es dem Reisenden erbringen wird, vereinnahmt, sofern die zu erbringenden touristischen Dienstleistungen zu diesem Zeitpunkt genau bestimmt sind.
2. Art. 308 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2010/45 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Marge des Reisebüros – und folglich seine Steuerbemessungsgrundlage – in der Differenz zwischen dem vom Reisenden zu zahlenden Gesamtbetrag ohne Mehrwertsteuer und den tatsächlichen Kosten besteht, die vom Reisebüro vorab für Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen anderer Steuerpflichtiger verauslagt werden, soweit diese Umsätze dem Reisenden unmittelbar zugutekommen. Entspricht die Anzahlung dem Gesamtpreis der touristischen Dienstleistung oder einem erheblichen Teil davon, und sind dem Reisebüro noch keine tatsächlichen Kosten oder nur ein begrenzter Teil der individuellen Gesamtkosten für diese Dienstleistung entstanden oder können die vom Reisebüro zu tragenden tatsächlichen individuellen Kosten der Reise zum Zeitpunkt der Leistung der Anzahlung nicht bestimmt werden, dann kann die Gewinnmarge aufgrund einer Schätzung der tatsächlichen Gesamtkosten bestimmt werden, die dem Reisebüro letztlich entstehen werden. Bei einer solchen Schätzung hat das Reisebüro gegebenenfalls die Kosten zu berücksichtigen, die ihm zum Zeitpunkt der Vereinnahmung der Anzahlung bereits tatsächlich entstanden sind. Bei der Berechnung der Marge werden vom Gesamtpreis der Reise die geschätzten tatsächlichen Kosten in Abzug gebracht. Die Bemessungsgrundlage der bei Vereinnahmung der Anzahlung abzuführenden Mehrwertsteuer ergibt sich aus einer Multiplikation des Betrags der Anzahlung mit dem Prozentsatz, der vom Gesamtpreis der Reise auf die in dieser Weise bestimmte voraussichtliche Gewinnmarge entfällt.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
SAAAH-06817