EuGH Urteil v. - C-648/16

Instanzenzug:

Gründe

Zur Vorlagefrage

Zur Zulässigkeit

24Die italienische Regierung ist der Ansicht, dass die Vorlagefrage hypothetisch sei, da der Einwand der Klägerin des Ausgangsverfahrens, der im Wesentlichen die falsche Einstufung ihrer beruflichen Tätigkeit im Rahmen der Sektorenanalysen betroffen habe, vom vorlegenden Gericht zurückgewiesen worden sei, das tatsächlich bereits ausgeschlossen habe, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sektorenanalyse nicht die Realität dieser wirtschaftlichen Tätigkeit abbilde.

25Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht spricht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom , BB construct, C-534/16, EU:C:2017:820, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26Im vorliegenden Fall bestreitet die Klägerin des Ausgangsverfahrens die Ergebnisse der Sektorenanalyse, da diese nicht die Realität ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit widerspiegelten. Dies hat das vorlegende Gericht zu der Frage veranlasst, ob die auf dieser Sektorenanalyse – die sich auf einen Gesamtumsatz stützt, ohne die einzelnen vom Steuerpflichtigen getätigten Umsätze zu berücksichtigen – basierende Berechnungsmethode mit dem AEU-Vertrag, der Mehrwertsteuerrichtlinie und den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit im Einklang steht.

27Da die Frage des vorlegenden Gerichts daher nicht offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, ist sie für zulässig zu erklären.

In der Sache

28Zunächst ist festzustellen, dass die Art. 113 und 114 AEUV, auf die das vorlegende Gericht in seiner Vorlagefrage Bezug nimmt, im vorliegenden Fall nicht relevant sind, da diese die institutionellen Verfahren zum Erlass von Maßnahmen zur Angleichung von Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten innerhalb der Europäischen Union betreffen.

29In Anbetracht dessen ist die Frage des vorlegenden Gerichts so zu verstehen, dass es wissen möchte, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie und die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, nach der die Steuerbehörde eine induktive Methode heranziehen kann, die auf durch Ministerialdekret gebilligten Sektorenanalysen basiert, um die Höhe des Umsatzes eines Steuerpflichtigen zu bestimmen, und dementsprechend eine Steuernacherhebung, mit der die Zahlung eines zusätzlichen Mehrwertsteuerbetrags angeordnet wird, vornehmen kann.

30Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach der in Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten allgemeinen Regel die Besteuerungsgrundlage für die Lieferung eines Gegenstands oder die Erbringung einer Dienstleistung gegen Entgelt die vom Steuerpflichtigen tatsächlich dafür erhaltene Gegenleistung ist (Urteil vom , Tulică und Plavoşin, C-249/12 und C-250/12, EU:C:2013:722, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31Um die Anwendung der Mehrwertsteuer und ihre Kontrolle durch die Steuerbehörde zu ermöglichen, verpflichten die Art. 242 und 244 sowie Art. 250 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Steuerpflichtigen, die diese Steuer schulden, angemessene Aufzeichnungen zu führen, Kopien aller von ihnen ausgestellten und aller von ihnen beglichenen Rechnungen aufzubewahren und schließlich eine Erklärung bei der Steuerbehörde abzugeben, in der alle Angaben enthalten sind, die erforderlich sind, um die Höhe der geschuldeten Mehrwertsteuer festzustellen.

32Um eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, ermöglicht Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten, vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten als die in dieser Richtlinie genannten vorzusehen, die sie für diese Zwecke für erforderlich erachten, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen. Außerdem soll mit der Mehrwertsteuerrichtlinie nach ihrem 59. Erwägungsgrund den Mitgliedstaaten gestattet werden, in bestimmten Grenzen und unter bestimmten Bedingungen von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen zu ergreifen, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder bestimmte Formen der Steuerhinterziehung oder -umgehung zu verhüten.

33Der Gerichtshof hat entschieden, dass aus Art. 273 Abs. 1 sowie aus Art. 2 und Art. 250 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 4 Abs. 3 EUV hervorgeht, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen (Urteile vom , Maya Marinova, C-576/15, EU:C:2016:740, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom , Menci, C-524/15, EU:C:2018:197, Rn. 18).

34Insoweit ist hervorzuheben, dass die fehlende Erklärung des Gesamtumsatzes eines Steuerpflichtigen der Erhebung der Mehrwertsteuer nicht entgegenstehen kann und es Sache der zuständigen nationalen Einrichtungen ist, die Situation wiederherzustellen, die ohne ein solches Verhalten des Steuerpflichtigen bestanden hätte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Maya Marinova, C-576/15, EU:C:2016:740, Rn. 42).

35Der Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie außer den von ihm festgelegten Grenzen weder die Bedingungen noch die Pflichten angibt, die die Mitgliedstaaten vorsehen können, und dass er diesen daher in Bezug auf die Mittel zur Erreichung der Ziele, die gesamte Mehrwertsteuer nachzufordern und den Betrug zu bekämpfen, ein Ermessen einräumt. Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität, zu beachten (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteile vom , Maya Marinova, C-576/15, EU:C:2016:740, Rn. 43 und 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom , Vámos, C-566/16, EU:C:2018:321, Rn. 41).

36Somit steht Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, nach der die Höhe der von einem Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuer auf der Grundlage des Gesamtumsatzes festgelegt wird, der auf der Grundlage von durch Ministerialdekret gebilligten Sektorenanalysen induktiv bewertet wird, um eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, grundsätzlich nicht entgegen.

37Allerdings können diese nationale Regelung und ihre Anwendung nur mit dem Unionsrecht im Einklang stehen, wenn sie die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Maya Marinova, C-576/15, EU:C:2016:740, Rn. 44).

38Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Maßnahmen mit den in der vorstehenden Randnummer angeführten Anforderungen vereinbar sind. Der Gerichtshof kann jedoch dem vorlegenden Gericht alle notwendigen Hinweise für die Entscheidung über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Maya Marinova, C-576/15, EU:C:2016:740, Rn. 46).

39Was den Grundsatz der steuerlichen Neutralität betrifft, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, ein fundamentaler Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. Durch die Regelung über den Vorsteuerabzug soll der Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden, sofern seine Tätigkeiten selbst grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Salomie und Oltean, C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 56 und 57 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

40Der Gerichtshof hat wiederholt erklärt, dass das Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann (Urteil vom , Zabrus Siret, C-81/17, EU:C:2018:283, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41Aus der Anwendung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität folgt, dass, wenn die Steuerbehörde beabsichtigt, eine Mehrwertsteuernacherhebung vorzunehmen, deren Höhe sich aus einem durch eine induktive Methode festgestellten zusätzlichen Gesamtumsatz ergibt, der betreffende Steuerpflichtige das Recht haben muss, die von ihm bereits vorab entrichtete Mehrwertsteuer unter den hierfür in Titel X der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Voraussetzungen als Vorsteuer abzuziehen.

42Was den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angeht, so steht dieser nationalen Rechtsvorschriften, die vorsehen, dass nur erhebliche Divergenzen zwischen der Höhe des vom Steuerpflichtigen erklärten Umsatzes und der des durch die induktive Methode unter Berücksichtigung des Umsatzes von Personen, die dieselbe Tätigkeit wie dieser Steuerpflichtige ausüben, bestimmten Umsatzes das zu einer Nacherhebung führende Verfahren einleiten können, nicht entgegen. Die Sektorenanalysen, die zur Feststellung dieses Umsatzes durch Induktion eingesetzt werden, müssen genau, verlässlich und aktuell sein. Eine solche Divergenz kann nur zu einer widerlegbaren Vermutung führen, die auf der Grundlage von Gegenbeweisen vom Steuerpflichtigen entkräftet werden kann.

43In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass während des gesamten Steuernacherhebungsverfahrens die Verteidigungsrechte des Steuerpflichtigen gewährleistet werden müssen, was insbesondere bedeutet, dass der Steuerpflichtige vor Erlass einer ihn beschwerenden Maßnahme in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt zu den Elementen, auf die die Behörden ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigen, sachdienlich vorzutragen (Urteil vom , Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C-129/13 und C-130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 30).

44Daher muss der Steuerpflichtige zum einen die Möglichkeit haben, sowohl die Richtigkeit der fraglichen Sektorenanalyse und/oder deren Relevanz für die Bewertung seines Einzelfalls zu bestreiten. Zum anderen muss der Steuerpflichtige in der Lage sein, die Umstände darzulegen, aus denen der erklärte Umsatz, wenngleich er niedriger ist als der mit der induktiven Methode bestimmte Umsatz, der Realität seiner Tätigkeit im maßgeblichen Zeitraum entspricht. Soweit die Anwendung einer Sektorenanalyse für diesen Steuerpflichtigen bedeutet, gegebenenfalls negative Tatsachen nachweisen zu müssen, verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass das erforderliche Beweismaß nicht übermäßig hoch sein darf.

45Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende System nach seiner Konzeption, seiner Struktur und den ihm zugrunde liegenden konkreten Bestimmungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu verletzen scheint, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

46Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie und die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehen, nach der eine Steuerbehörde im Fall von gravierenden Divergenzen zwischen den erklärten Einnahmen und den auf der Grundlage von Sektorenanalysen geschätzten Einnahmen eine induktive Methode heranziehen kann, die auf solchen Sektorenanalysen beruht, um die Höhe des Umsatzes eines Steuerpflichtigen zu bestimmen, und dementsprechend eine Steuernacherhebung, mit der die Zahlung eines zusätzlichen Mehrwertsteuerbetrags angeordnet wird, vornehmen kann, sofern diese Regelung und ihre Anwendung es dem Steuerpflichtigen erlauben, unter Beachtung der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit sowie der Verteidigungsrechte die mit dieser Methode erzielten Ergebnisse auf der Grundlage aller Gegenbeweise, über die er verfügt, in Frage zu stellen und sein Recht auf Vorsteuerabzug gemäß den Bestimmungen in Titel X der Mehrwertsteuerrichtlinie auszuüben, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

Kosten

47Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehen, nach der eine Steuerbehörde im Fall von gravierenden Divergenzen zwischen den erklärten Einnahmen und den auf der Grundlage von Sektorenanalysen geschätzten Einnahmen eine induktive Methode heranziehen kann, die auf solchen Sektorenanalysen beruht, um die Höhe des Umsatzes eines Steuerpflichtigen zu bestimmen, und dementsprechend eine Steuernacherhebung, mit der die Zahlung eines zusätzlichen Mehrwertsteuerbetrags angeordnet wird, vornehmen kann, sofern diese Regelung und ihre Anwendung es dem Steuerpflichtigen erlauben, unter Beachtung der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit sowie der Verteidigungsrechte die mit dieser Methode erzielten Ergebnisse auf der Grundlage aller Gegenbeweise, über die er verfügt, in Frage zu stellen und sein Recht auf Vorsteuerabzug gemäß den Bestimmungen in Titel X der Richtlinie 2006/112 auszuüben, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

Fundstelle(n):
DAAAH-06809