BAG Beschluss v. - 1 ABR 10/17

Betriebsvereinbarung über nicht mitbestimmte Angelegenheit - Nachwirkung

Gesetze: § 77 Abs 6 BetrVG, § 88 BetrVG

Instanzenzug: Az: 4 BV 22/15 Beschlussvorgehend Landesarbeitsgericht Saarland Az: 1 TaBV 1/16 Beschluss

Gründe

1A. Die Beteiligten streiten über die Nachwirkung einer gekündigten Betriebsvereinbarung.

2Die nicht tarifgebundene Arbeitgeberin ist ein Unternehmen, das Geschäftssoftware anbietet. Für ihre Betriebe ist auf der Grundlage einer Betriebsvereinbarung nunmehr ein unternehmenseinheitlicher Betriebsrat gebildet. Ihre Arbeitnehmer beziehen ein aus Fixgehalt und variablem Vergütungsbestandteil zusammengesetztes Zielgehalt. Der variable Teil der Vergütung ist vom Grad der Erreichung bestimmter Zielvorgaben abhängig. Er wird jeweils geschäftsjahresbezogen aufgrund von zwischen der Arbeitgeberin und Betriebsrat zu vereinbarenden Vergütungsplänen und Plan-Rahmenbedingungen ermittelt.

3Die Arbeitgeberin schloss am mit dem in ihrem Unternehmen seinerzeit errichteten Gesamtbetriebsrat eine „Übergangsvereinbarung erfolgsbezogene variable Vergütungsbestandteile“ (GBV). Diese lautet auszugsweise:

4Das Geschäftsjahr endete im Jahr 2015 mit Ablauf des 30. April. Mit einem dem Betriebsrat Ende März 2015 zugegangenen Schreiben kündigte die Arbeitgeberin die GBV mit Wirkung zum , hilfsweise zum nächst zulässigen Termin. Seit Mai 2015 leistet sie auf der Grundlage der GBV keine Abschlagszahlungen mehr an die Arbeitnehmer.

5Der Betriebsrat hat die Auffassung vertreten, die GBV regele eine mitbestimmungspflichtige Angelegenheit und wirke kraft Gesetzes nach. Jedenfalls sei eine Nachwirkung in Nr. 4.1. GBV vereinbart.

6Der Betriebsrat hat zuletzt - soweit für die Rechtsbeschwerde noch von Bedeutung - beantragt

7Die Arbeitgeberin hat beantragt, den Antrag abzuweisen.

8Das Arbeitsgericht hat den - bei ihm hilfsweise verfolgten - Antrag abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihm nach Einstellung des Verfahrens hinsichtlich der vom Betriebsrat in der Beschwerde nicht mehr verfolgten Hauptanträge stattgegeben. Mit ihrer Rechtsbeschwerde erstrebt die Arbeitgeberin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Beschlusses.

9B. Die zulässige Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin ist begründet.

10I. Das Landesarbeitsgericht hat die vom Betriebsrat eingelegte Beschwerde zu Recht als zulässig angesehen.

111. Die Zulässigkeit der Beschwerde gehört zu den Verfahrensfortsetzungsvoraussetzungen einer Rechtsbeschwerde. Demnach hat das Rechtsbeschwerdegericht von Amts wegen zu prüfen, ob das in der Vorinstanz eingelegte Rechtsmittel ordnungsgemäß war (vgl.  - Rn. 64, BAGE 158, 121).

122. Hiervon ist vorliegend auszugehen.

13a) Die von der Arbeitgeberin in der Beschwerdeinstanz erhobene Rüge, der Betriebsrat sei durch den erstinstanzlichen Beschluss hinsichtlich seines Hilfsantrags, den er vor dem Landesarbeitsgericht als einzigen Antrag weiter verfolgt hat, nicht beschwert, ist unzutreffend. Zwar ist eine Beschwerde unzulässig, wenn mit ihr aufgrund einer Antragsänderung ausschließlich neue prozessuale Ansprüche geltend gemacht werden und die Beseitigung der erstinstanzlichen Beschwer nicht weiterverfolgt wird ( - Rn. 9, BAGE 160, 386). Der Betriebsrat hatte den in der Beschwerdeinstanz zuletzt gestellten Antrag jedoch bereits beim Arbeitsgericht - dort noch hilfsweise - angebracht. Die antragsabweisende erstinstanzliche Entscheidung umfasste auch dieses (Hilfs-)Begehren.

14b) Die Beschwerde genügt auch den gesetzlichen Anforderungen an ihre Begründung (§ 89 Abs. 2 Satz 2 ArbGG). Sie setzt sich hinreichend mit der Begründung des arbeitsgerichtlichen Beschlusses auseinander und macht klar, aus welchen Gründen dieser Beschluss fehlerhaft sein soll (zu den Anforderungen an eine Beschwerdebegründung vgl. zB  - Rn. 11 mwN). Zwar wiederholt die Beschwerdebegründung in weiten Teilen das erstinstanzliche Vorbringen des Betriebsrats, erschöpft sich darin aber nicht.

15II. Das Landesarbeitsgericht hat aber dem Feststellungsbegehren des Betriebsrats zu Unrecht entsprochen. Der zulässige Antrag ist unbegründet. Weder liegen die Voraussetzungen der nach § 77 Abs. 6 BetrVG angeordneten Nachwirkung vor noch haben die Betriebsparteien eine Nachwirkung der GBV vereinbart.

161. Die GBV wirkt nicht nach § 77 Abs. 6 BetrVG nach.

17a) Nach dieser Vorschrift gelten in Angelegenheiten, in denen ein Spruch der Einigungsstelle die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ersetzen kann, die Regelungen einer Betriebsvereinbarung nach ihrem Ablauf weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden.

18b) Die GBV betrifft keine solche Angelegenheit.

19aa) Der von ihr geregelte Gegenstand unterliegt nicht der zwingenden Mitbestimmung des § 87 Abs. 1 Nr. 10 oder Nr. 11 BetrVG.

20(1) Die GBV regelt weder Grundsätze einer betrieblichen Lohngestaltung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG noch leistungsbezogene Entgelte nach § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG. Sie trifft ausschließlich prozedurale Bestimmungen, die allein das Verfahren zur Ausübung der Mitbestimmung des Betriebsrats bei den variablen Vergütungsbestandteilen flankieren. Das folgt bereits aus der Beschreibung des Regelungsgegenstandes der GBV in deren Nr. 1.2. Danach haben die Betriebsparteien Übergangsregelungen für den Fall getroffen, dass die für das jeweilige Geschäftsjahr festzulegenden Grundlagen der leistungsbezogenen variablen Vergütung von ihnen erst nach dessen Beginn vereinbart werden können. Im Interesse einer zügigen Aufnahme von Verhandlungen und zeitnahen Einigung sind mit Nrn. 3.1. bis 3.3. und Nr. 3.7. GBV nähere fristgebundene Pflichten zur Bekanntgabe von Unterlagen seitens der Arbeitgeberin, zur Stellungnahme seitens des Betriebsrats und zur Verhandlung seitens beider Betriebsparteien beschrieben. Mit den im Einzelnen ausgestalteten Verpflichtungen sind die unter Nrn. 3.4. bis 3.6. GBV festgelegten Ansprüche der Arbeitnehmer auf Abschlagszahlungen - mit deren Bezugspunkt der „anteilig auf den Monat zu berechnenden, arbeitsvertraglich variablen Zielvergütung“ - verknüpft. Diese haben damit einen das Binnenverhältnis der Betriebsparteien betreffenden, sanktionsähnlichen Inhalt. Das kommt auch in der gestaffelten - in Abhängigkeit von der Pflichtenerfüllung und dem Stand der Verhandlungen über die Grundlagen der leistungsbezogenen variablen Vergütung - Höhe der Abschlagszahlungen zum Ausdruck. Die Betriebsparteien haben keine, für eine Übergangszeit geltenden Vergütungspläne und Plan-Rahmenbedingungen „an sich“ geregelt, sondern den Arbeitnehmern zustehende Abschlagszahlungen als ein Mittel zur Sicherung des betriebsparteiinternen Pflichtengefüges eingesetzt.

21(2) Anders als das Landesarbeitsgericht meint, bezieht sich das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 oder Nr. 11 BetrVG nicht auf verfahrensrechtliche Regelungen, mit denen eine zügige Einigung der Betriebsparteien über den Inhalt einer Betriebsvereinbarung sichergestellt werden soll. Die erzwingbare Mitbestimmung unterliegt im Fall der Nichteinigung der Betriebsparteien dem nach § 87 Abs. 2 BetrVG vorgegebenen Einigungsstellenverfahren und - im Fall ihrer Nichtbeachtung - der Sicherung über einen dem Betriebsrat zustehenden Unterlassungsanspruch hinsichtlich der mitbestimmten Maßnahme (grdl.  - zu II B III der Gründe, BAGE 76, 364). Treffen die Betriebsparteien, wie hier mit der GBV, gesonderte Regelungen mit dem Ziel, das Verfahren der Beteiligung des Betriebsrats bei der zwingenden Mitbestimmung durch Unterrichtungsansprüche zu flankieren und sicherzustellen, dass Verzögerungen der Verhandlungen über den mitbestimmten Gegenstand vermieden werden, kann das freiwillig geschehen. Mit solch einer Regelung ist dann aber eine fakultative Angelegenheit iSv. § 88 BetrVG ausgestaltet.

22bb) Die GBV regelt keine mitbestimmungspflichtige Angelegenheit iSv. § 87 Abs. 1 Nr. 4 BetrVG.

23(1) Dieser Mitbestimmungstatbestand erfasst ua. Regelungen zum Zeitpunkt der Auszahlung von Arbeitsvergütung ( - Rn. 12, BAGE 148, 341).

24(2) Solche Fälligkeitsbestimmungen enthalten Nrn. 3.4. bis 3.6. GBV nicht. Deren Regelungsgehalt erschöpft sich in Verhandlungspflichten der Betriebsparteien. Das folgt im Übrigen aus dem Umstand, dass die näher beschriebenen Abschlagszahlungen an situative und zeitliche Umstände anknüpfen, die für die einzelnen Arbeitnehmer als Anspruchsinhaber nicht erkennbar sind (etwa Nr. 3.6. GBV: „… ab Beginn des zweiten Monats nach Eingang der in Ziff. 3.1. genannten Unterlagen und Ziel-/Quotenvorgaben des Arbeitgebers bei dem GBR“). Deutlich wird das auch bei Nr. 3.6.a. GBV, wonach unter der Voraussetzung, dass der Betriebsrat einer näher, zT mit unbestimmten Rechtsbegriffen beschriebenen Pflicht („hinreichend substantiierte Stellungnahme“) nicht nachkommt, gar kein Anspruch auf Abschlagszahlung (mehr) besteht.

252. Die GBV wirkt nicht kraft entsprechender Vereinbarung der Betriebsparteien nach. Die Betriebsparteien können zwar grundsätzlich eine Nachwirkung für freiwillige Betriebsvereinbarungen vereinbaren ( - zu B II 2 b aa der Gründe, BAGE 88, 298). Eine darauf bezogene Regelung enthält die GBV aber nicht.

26a) Die Auslegung einer Betriebsvereinbarung richtet sich wegen ihrer normativen Wirkung (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG) nach den Grundsätzen der Tarifvertrags- und Gesetzesauslegung. Ausgehend vom Wortlaut und dem durch ihn vermittelten Wortsinn kommt es auf den Gesamtzusammenhang, die Systematik sowie Sinn und Zweck der Regelung an (vgl.  - Rn. 15 mwN). Der tatsächliche Regelungswille der Betriebsparteien ist nur zu berücksichtigen, soweit er in der Betriebsvereinbarung seinen Niederschlag gefunden hat (vgl.  - Rn. 11; - 1 AZR 988/08 - Rn. 14 mwN).

27b) Danach ist in der GBV nicht deren Nachwirkung vereinbart. Hierfür spricht bereits der Wortlaut von Nr. 4.1. GBV. Dieser ordnet keine Nachwirkung an, sondern legt lediglich fest, dass sie nicht ausgeschlossen wird. Eine solche Vereinbarung geht bei freiwilligen Betriebsvereinbarungen anders als bei erzwingbaren ins Leere, weil Vereinbarungen iSv. § 88 BetrVG ohnehin keine Nachwirkung zukommt und ein darauf gerichteter Ausschluss bereits kraft Gesetzes erfolgt. Für die Annahme eines gegenteiligen, auf die Festlegung der Nachwirkung zielenden Regelungswillen der Betriebsparteien finden sich weder im Wortlaut der GBV noch im systematischen Gesamtzusammenhang der in ihr getroffenen Regelungen oder in ihrem erkennbaren Zweck ausreichende Hinweise.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2018:231018.B.1ABR10.17.0

Fundstelle(n):
BB 2019 S. 179 Nr. 4
NJW 2019 S. 10 Nr. 4
DAAAH-04262