EuGH Urteil v. - C-373/90

Keine Irreführung durch Unterlassung des Hinweises auf die geringerwertige Ausstattung parallelimportierter Kraftfahrzeuge („Nissan“)

Leitsatz

Die Richtlinie 84/450/EWG des Rates vom zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung ist dahin auszulegen, daß sie es nicht verbietet, daß in einer Anzeige Fahrzeuge als neu, billiger und mit Herstellergarantie versehen dargestellt werden, wenn diese Fahrzeuge nur im Hinblick auf die Einfuhr zugelassen worden sind, niemals gefahren worden sind und – weil sie mit weniger Zubehör ausgestattet sind – in einem Mitgliedstaat zu einem niedrigeren Preis als dem verkauft werden, der von den in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Vertragshändlern verlangt wird.

Gesetze: EWGV Art 177, UWG § 3

Gründe

1 Der Ermittlungsrichter beim Tribunal de grande instance Bergerac hat mit Schreiben vom , beim Gerichtshof eingegangen am , gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates vom zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung (ABl. L 250, S. 17) vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich im Zusammenhang mit einer gegen X im Rahmen einer Strafanzeige von Herrn Jean-Pierre Richard, Verwaltungsratsvorsitzender der Société anonyme Richard-Nissan, Alleinimporteur von Fahrzeugen der Marke Nissan in Frankreich, erhobenen Nebenklage. Diese auf Artikel 44 des französischen Gesetzes Nr. 73-1193 vom zur Regulierung von Handel und Handwerk, des sogenannten „Royer”-Gesetzes, gestützte Strafanzeige bezieht sich auf irreführende und rechtswidrige Werbemaßnahmen.

3 Bei der betreffenden Vorschrift des französischen Gesetzes handelt es sich, wie sich aus der Mitteilung der französischen Regierung an die Kommission ergibt, um die Rechtsvorschrift, durch die die genannte Richtlinie umgesetzt wird.

4 Die erwähnte Strafanzeige ist gegen ein Autohaus in Bergerac gerichtet, das in der Presse Anzeigen mit dem Hinweis „Kaufen Sie Ihren Neuwagen billiger” und dem Zusatz „Herstellergarantie 1 Jahr” erscheinen ließ. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich im übrigen, daß diese Werbung sich auf aus Belgien eingeführte Fahrzeuge bezieht, die im Hinblick auf die Einfuhr zugelassen worden sind, niemals gefahren worden sind und in Frankreich billiger als zu den von den örtlichen Vertragshändlern verlangten Preisen verkauft werden, weil die belgischen Grundmodelle gegenüber den in Frankreich verkauften Grundmodellen mit weniger Zubehör ausgestattet sind.

5 Vor diesem Hintergrund hat der Ermittlungsrichter beim Tribunal de grande instance Bergerac, bei dem das Verfahren anhängig ist, dieses bis zu einer Vorabentscheidung des Gerichtshofes darüber ausgesetzt, ob „eine solche Verkaufspraxis im Einklang mit den derzeitigen europäischen Vorschriften” steht.

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Zunächst ist festzustellen, daß nach nunmehr ständiger Rechtsprechung die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Aufgabe der Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 EWG-Vertrag, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Hoheitsträgern der Mitgliedstaaten einschließlich der Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeiten obliegen und daß daher ein nationales Gericht bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses Recht anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auslegen muß, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Absatz 3 EWG-Vertrag nachzukommen (Urteile vom in der Rechtssache 14/83, Von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, Randnr. 26, und vom , Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Randnr. 8).

8 Die Frage des vorlegenden Gerichts ist also so zu verstehen, daß es darum geht, ob die Richtlinie 84/450 des Rates einer Werbung der im Ausgangsverfahren streitigen Art entgegensteht.

9 Wie sich aus den Begründungserwägungen dieser aufgrund von Artikel 100 EWG-Vertrag erlassenen Richtlinie ergibt, soll sie den Verbraucherschutz verbessern und Verfälschungen des Wettbewerbs sowie Behinderungen des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs, die sich aus den Abweichungen zwischen den Vorschriften der Mitgliedstaaten gegen irreführende Werbung ergeben, abstellen. Dies soll durch die Aufstellung objektiver Mindestkriterien erreicht werden, nach denen beurteilt werden kann, ob eine Werbung irreführend ist.

10 Gemäß Artikel 2 Nr. 2 dieser Richtlinie bedeutet „irreführende Werbung”

„jede Werbung, die in irgendeiner Weise – einschließlich ihrer Aufmachung – die Personen, an die sie sich richtet oder die von ihr erreicht werden, täuscht oder zu täuschen geeignet ist und die infolge der ihr innewohnenden Täuschung ihr wirtschaftliches Verhalten beeinflussen kann oder aus diesen Gründen einen Mitbewerber schädigt oder zu schädigen geeignet ist”.

11 Zur Auslegung dieser Vorschrift im Hinblick auf die Merkmale einer Werbung der im Ausgangsverfahren streitigen Art müssen alle drei in dieser Werbung enthaltenen Elemente geprüft werden, also der Umstand, daß es sich um Neuwagen handelt, daß sie billiger sind und daß für sie eine Herstellergarantie übernommen wird.

12 Vor dieser Prüfung ist darauf hinzuweisen, daß diese Werbeelemente von großer praktischer Bedeutung für die Tätigkeit der Parallelimporteure von Fahrzeugen sind und daß Paralleleinfuhren – wie der Generalanwalt in den Nummern 5 und 6 seiner Schlußanträge ausgeführt hat – einen gewissen gemeinschaftsrechtlichen Schutz genießen, da sie die Entwicklung des Handelsverkehrs und die Stärkung des Wettbewerbs begünstigen.

13 Was erstens den Hinweis darauf angeht, daß es sich bei den streitigen Fahrzeugen um Neuwagen handelt, so ist festzustellen, daß eine derartige Werbung nicht schon deshalb als irreführend im Sinne von Artikel 2 der Richtlinie angesehen werden kann, weil diese Fahrzeuge vor der Einfuhr zugelassen worden sind.

14 Seine Eigenschaft als Neuwagen verliert ein Fahrzeug nämlich nicht durch die Zulassung, sondern durch den Gebrauch. Im übrigen erleichtert die Zulassung vor der Einfuhr, wie die Kommission dargelegt hat, Paralleleinfuhren erheblich.

15 Es ist allerdings Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der Umstände des vorliegenden Falles zu prüfen, ob diese Werbung unter Berücksichtigung der Verbraucher, an die sie sich richtet, möglicherweise insoweit irreführend ist, als sie zum einen den Umstand verdecken sollte, daß die als neu bezeichneten Fahrzeuge vor der Einfuhr zugelassen wurden, und als dieser Umstand zum anderen geeignet gewesen wäre, eine erhebliche Zahl von Verbrauchern von ihrer Kaufentscheidung abzuhalten.

16 Was zweitens die Werbung mit dem niedrigeren Preis der Fahrzeuge angeht, so könnte diese Werbung nur dann als irreführend eingestuft werden, wenn nachgewiesen wäre, daß eine erhebliche Zahl von Verbrauchern, an die sich die streitige Werbung richtet, ihre Kaufentscheidung getroffen hat, ohne zu wissen, daß der niedrigere Preis der Fahrzeuge damit verbunden ist, daß die vom Parallelimporteur verkauften Fahrzeuge mit weniger Zubehör ausgestattet sind.

17 Was schließlich drittens den Hinweis auf die Herstellergarantie angeht, so ist festzustellen, daß eine solche Angabe nicht als irreführende Werbung betrachtet werden kann, wenn sie der Wahrheit entspricht.

18 Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof in seinem Urteil vom in der Rechtssache 31/85 (ETA, Slg. 1985, 3933, Randnr. 14) festgestellt hat, daß ein Garantiesystem, bei dem der Warenlieferant die Garantie allein den Kunden eines Alleinvertriebshändlers vorbehält, diesen und seine Wiederverkäufer gegenüber den Parallelimporteuren und -händlern privilegiert und damit eine Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag bezweckt oder bewirkt.

19 Auf die Vorlagefrage ist daher zu antworten, daß die Richtlinie 84/450/EWG des Rates vom dahin auszulegen ist, daß sie es nicht verbietet, daß in einer Anzeige Fahrzeuge als neu, billiger und mit Herstellergarantie versehen dargestellt werden, wenn diese Fahrzeuge nur im Hinblick auf die Einfuhr zugelassen worden sind, niemals gefahren worden sind und – weil sie mit weniger Zubehör ausgestattet sind – in einem Mitgliedstaat zu einem niedrigeren Preis als dem verkauft werden, der von den in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Vertragshändlern verlangt wird.

Kosten

20 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Bestandteil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Ermittlungsrichter beim Tribunal de grande instance Bergerac mit Schreiben vom vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die Richtlinie 84/450/EWG des Rates vom zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung ist dahin auszulegen, daß sie es nicht verbietet, daß in einer Anzeige Fahrzeuge als neu, billiger und mit Herstellergarantie versehen dargestellt werden, wenn diese Fahrzeuge nur im Hinblick auf die Einfuhr zugelassen worden sind, niemals gefahren worden sind und – weil sie mit weniger Zubehör ausgestattet sind – in einem Mitgliedstaat zu einem niedrigeren Preis als dem verkauft werden, der von den in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Vertragshändlern verlangt wird.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
HAAAG-96389