BGH Beschluss v. - V ZB 231/17

Abschiebungshaftsache: Erfordernis des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft auch bei vorläufig eingestelltem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren

Leitsatz

Auch bei einem nach § 154f StPO eingestellten Verfahren bedarf es des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG.

Gesetze: § 72 Abs 4 S 1 AufenthG, § 154f StPO

Instanzenzug: LG Kleve Az: 4 T 129/17vorgehend AG Kleve Az: 22 XIV (B) 18/17

Gründe

I.

1Der Betroffene ist marokkanischer Staatsangehöriger. Er reiste Anfang 2016 nach Deutschland ein und stellte unter einem Aliasnamen einen Asylantrag. Dieser wurde als offensichtlich unbegründet abgelehnt und die Abschiebung angedroht. Ende 2017 wurde der Betroffene in den Niederlanden aufgegriffen und nach Deutschland überstellt. Mit Beschluss vom hat das Amtsgericht Haft bis zum zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen angeordnet. Die nach seiner Abschiebung nach Marokko am auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene seinen Feststellungsantrag weiter.

II.

2Nach Ansicht des Beschwerdegerichts ist die Haftanordnung rechtmäßig. Es liege der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG vor.

III.

3Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Der Haftrichter und das Beschwerdegericht haben nicht aufgeklärt (§ 26 FamFG), ob § 72 Abs. 4 AufenthG der Abschiebung des Betroffenen entgegenstand.

41. Ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG - von den Ausnahmen gemäß § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5 AufenthG abgesehen - nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden. Fehlt das Einvernehmen, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus (Senat, Beschluss vom - V ZB 26/17, juris Rn. 4 mwN).

52. Ob § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG einer Abschiebung des Betroffenen entgegenstand, haben der Haftrichter und das Beschwerdegericht nur unzureichend geprüft. Die Haftanordnung verhält sich zur Frage des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft oder dessen Entbehrlichkeit nicht. Das Beschwerdegericht führt lediglich aus, es sei weder dargetan noch ersichtlich, dass die Voraussetzungen für die Notwendigkeit des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft vorliegen. Ob es sich tatsächlich so verhielt, hätten der Haftrichter und das Beschwerdegericht anhand der über den Betroffenen geführten Ausländerakte prüfen müssen (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZB 8/15, juris Rn. 15). Die Prüfung hätte ergeben, dass sich - worauf die Rechtsbeschwerde zu Recht hinweist - in der Ausländerakte ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Bielefeld vom befindet, in dem diese mitteilt, dass sie ein gegen den Betroffenen wegen Diebstahls geführtes Ermittlungsverfahren nach § 154f StPO eingestellt habe. Auch ein nach dieser Vorschrift eingestelltes Verfahren ist von dem Zustimmungserfordernis nach § 72 Abs. 4 AufenthG erfasst. Bei der Einstellung nach § 154f StPO handelt es sich um eine nur vorläufige Einstellung des Verfahrens vor Erhebung der öffentlichen Klage wegen längerer Abwesenheit des Beschuldigten oder eines anderen in seiner Person liegenden Hindernisses. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft sind lediglich unterbrochen und werden bei Wegfall des Hindernisses fortgesetzt (vgl. KK-StPO/Diemer, StPO, 7. Aufl., § 154f Rn. 1). Angesichts des nur vorläufigen Charakters bedarf es daher auch bei einem nach § 154f StPO eingestellten Verfahren für eine Abschiebung des Betroffenen des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft (vgl. NK-AuslR/R. Hofmann, AufenthG, 2. Aufl., § 72 Rn. 34), es sei denn, es liegt eine Ausnahme gemäß § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5 AufenthG vor.

IV.

6Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, da weitere Sachverhaltsermittlungen erforderlich sind. Die Sache ist daher an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG). Dieses wird aufzuklären haben, ob das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung des Betroffenen vorlag oder ob es ausnahmsweise gemäß § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5 AufenthG entbehrlich war. Dabei ist zu beachten, dass eine „begleitende“ Straftat im Sinne von § 72 Abs. 4 Sätze 4 und 5 AufenthG nur vorliegt, wenn zwischen der Straftat mit geringem Unrechtsgehalt und einer Straftat nach § 95 AufenthG oder § 9 FreizügigG/EU ein inhaltlicher Zusammenhang besteht (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom - V ZB 179/15, zur Veröffentlichung vorgesehen). Die gebotene Gewährung des rechtlichen Gehörs zu den von dem Beschwerdegericht zu treffenden Feststellungen kann dadurch erfolgen, dass dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wird (vgl. Senat Beschluss vom - V ZB 26/17, juris Rn. 9).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2018:130918BVZB231.17.0

Fundstelle(n):
EAAAG-96137