Festsetzung von Kindergeld für minderjähriges Kind ist zeitlich befristeter Verwaltungsakt; Ermittlungspflicht der Familienkasse
Gesetze: EStG § 32 Abs. 4, § 70; AO § 124
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Streitig ist, ob die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) verpflichtet ist, Kindergeld zurückzuzahlen.
Der im Januar 1981 geborene Sohn der Klägerin befand sich vom August 1997 bis Juli 2000 in der Berufsausbildung zum Tierpfleger bei einer Tierärztlichen Hochschule. Diese Hochschule wies in einer im November 1998 ausgestellten Ausbildungsbescheinigung jährlich am 1. August steigende monatliche Ausbildungsvergütungen aus. In der Bescheinigung sind daneben zusätzliche Leistungen, nämlich Sonderzuwendungen im November 1997 und 1998 sowie Urlaubsgeld im Juli 1998, festgehalten. Für das Streitjahr 1999 sind keine Sonderzuwendungen bescheinigt.
Der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) verfügte am behördenintern die Weiterzahlung des Kindergelds an die Klägerin ab Februar 1999 für den dann volljährigen Sohn. Die nachträgliche Überprüfung ergab, dass der Sohn im Jahr 1999 höhere monatliche Vergütungen als zunächst bescheinigt und außerdem 1999 auch Urlaubsgeld und eine Sonderzuwendung erhalten hatte. Da die ab Februar 1999 erzielten Einkünfte unstreitig den nach § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) unschädlichen Betrag überschritten hatten, hob der Beklagte durch den angefochtenen Bescheid die Kindergeldfestsetzung ab Februar 1999 auf und forderte die überzahlten Beträge zurück.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es vertrat die Ansicht, der Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, die Kindergeldfestsetzung aufzuheben.
Er hätte der offenkundigen Zweifelsfrage nachgehen müssen, ob dem Sohn der Klägerin auch für 1999 die Sonderzuwendung und Urlaubsgeld zugestanden habe. Die gebotene Rückfrage beim Arbeitgeber hätte ergeben, dass die Bescheinigung unvollständig ausgefüllt worden war und der Sohn höchstwahrscheinlich Anspruch auf zusätzliche Leistungen jedenfalls in der Höhe der für 1998 erlangten Beträge gehabt habe. Bei Ansatz dieser zusätzlichen Leistungen hätten aber die zu prognostizierenden Einkünfte den Grenzbetrag überschritten.
Bei dieser Sachlage scheide eine Änderung der Kindergeldfestsetzung sowohl nach § 70 Abs. 2, 3 EStG als auch nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) und nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 aus.
Mit der Revision macht der Beklagte vor allem geltend, er habe seine Ermittlungspflichten nicht verletzt. Das FG habe lediglich unterstellt, dass ein Anspruch auf Sonderzuwendungen für das Jahr 1999 bereits zum Zeitpunkt der Ausstellung der Ausbildungsbescheinigung bestanden habe. Auch seien die Arbeitsämter angesichts der Vielzahl der von ihnen zu prüfenden Bescheinigungen nicht in der Lage, diese ”unter die Lupe” zu nehmen. Sie müssten auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der ausgefüllten Bescheinigungen vertrauen dürfen. Die Klägerin könne sich entgegen der Auffassung des FG auch deshalb nicht auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufen, weil auch ihr hätte auffallen können, dass für 1999 keine Sonderzuwendungen bescheinigt gewesen seien.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Das Urteil des FG wird aufgehoben und die Klage abgewiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
Der Beklagte war berechtigt, die Kindergeldfestsetzung ab Februar 1999 aufzuheben.
a) Bestand im Zeitpunkt der weiteren Bewilligung des Kindergelds noch kein Anspruch auf Sonderzuwendungen für die Zeit ab der Volljährigkeit des Sohnes, dann wären dessen voraussichtliche Einkünfte in der Bescheinigung korrekt ausgewiesen gewesen. In einem solchen Fall wäre der Beklagte von den zutreffenden voraussichtlichen Einkünften ausgegangen, die unstreitig nicht den anteiligen Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschritten hätten.
Da die tatsächlichen erlangten Einkünfte aber unstreitig diesen Grenzbetrag überschritten haben, wäre der Beklagte berechtigt gewesen, die Kindergeldfestsetzung ab Februar 1999 aufzuheben. Hierbei hat die Rechtsprechung lediglich offen gelassen, ob die Aufhebungsbefugnis auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 allein oder i.V.m. § 175 Abs. 2 AO 1977 oder auf § 70 Abs. 2 EStG zu stützen ist (, BFHE 199, 116, BStBl II 2002, 525, m.w.N.).
Die gleiche Rechtsfolge wäre auch dann gegeben, wenn zwar ein Anspruch auf solche Sonderzahlungen für 1999 bestanden hätte, dieser aber so bemessen war, dass die voraussichtlichen Einkünfte des Sohnes insgesamt den Grenzbetrag nicht überschritten hätten.
b) Hatte hingegen der Sohn der Klägerin im Zeitpunkt der Weiterbewilligung des Kindergelds bereits einen vertraglichen Anspruch auf Sonderzuwendungen für 1999 jedenfalls in der für 1998 bescheinigten Höhe, dann wäre der Beklagte im Zeitpunkt der Weiterbewilligung von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen, weil die voraussichtlichen Einkünfte den anteiligen Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG unstreitig überschritten hätten. Bei dieser Sachlage wäre der Beklagte befugt gewesen, die Kindergeldfestsetzung ab Februar 1999 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zu ändern, weil ihm dann die tatsächliche Höhe der voraussichtlichen Einkünfte erst nach der Weiterbewilligung des Kindergelds bekannt geworden wären.
Nach dieser Vorschrift sind Bescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die zu einer höheren Steuer bzw. einer geringeren Steuervergütung führen. Eine Aufhebung oder Änderung scheidet allerdings nach ständiger Rechtsprechung dann aus, wenn das nachträgliche Bekanntwerden der Tatsache oder des Beweismittels auf einem Ermittlungsfehler der Finanzbehörde beruht, sofern der Steuerpflichtige seiner Mitwirkungspflicht in vollem Umfang genügt hat.
aa) Dass § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 auf eine Kindergeldfestsetzung anwendbar ist und nicht durch die Vorschrift des § 70 Abs. 3 EStG verdrängt wird, entspricht der Rechtsprechung (, BFHE 196, 274, BStBl II 2002, 174).
Der Anwendbarkeit von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 steht im Streitfall auch nicht entgegen, dass zugunsten der Klägerin bereits vor Einreichung der Ausbildungsbescheinigung Kindergeld festgesetzt war und dieses an die Klägerin auch nach Erreichen der Volljährigkeit des Sohnes weiterhin geleistet worden ist. Die weitere Zahlung des Kindergelds beruht nämlich darauf, dass der Beklagte mit seiner amtsinternen Verfügung, wonach Kindergeld für die Zeit der Volljährigkeit zu leisten ist, nicht etwa von der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung abgesehen, sondern das Kindergeld für diese Zeit erstmals festgesetzt hat, weil die Festsetzung für die Zeit davor mit Erreichen der Volljährigkeit bedeutungslos wurde. Die Festsetzung von Kindergeld für ein minderjähriges Kind ist nämlich ein zeitlich befristeter Verwaltungsakt, dessen Regelungsgehalt sich mit Erreichen der Volljährigkeit des Kinds erschöpft hat und der deshalb i.S. von § 124 Abs. 2 AO 1977 mit diesem Zeitpunkt erledigt ist. Dies folgt daraus, dass ein Kindergeldanspruch gemäß § 63 Abs. 1 i.V.m. § 32 Abs. 3 EStG (zunächst) nur für minderjährige Kinder besteht. Ein Kindergeldanspruch ab der Zeit der Volljährigkeit besteht hingegen nur dann, wenn zusätzlich die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4, 5 EStG gegeben sind. Ob diese gegeben sind, bedarf daher einer Prüfung durch die Familienkasse. Von einer solchen zeitlichen Befristung der Kindergeldfestsetzung ist ersichtlich der Gesetzgeber ausgegangen. Dies zeigt sich daran, dass die Kindergeldzahlung mit Erreichen der Volljährigkeit endet, ohne dass es der Erteilung eines Bescheids bedarf, wenn der Kindergeldberechtigte keine Anzeige nach § 67 Abs. 2 EStG des Inhalts erstattet hat, dass die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 oder 5 EStG vorliegen (§ 70 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 EStG in der im Streitfall geltenden Fassung). Von dieser zeitlichen Begrenzung der Kindergeldfestsetzung für ein minderjähriges Kind gehen auch die Finanzverwaltung und die Literatur aus (Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes —DA-FamEStG— 67.4, BStBl I 2002, 366, 432; Berlebach/Helmke, Familienleistungsausgleich, Fach A, Steuerlicher Familienleistungsausgleich, I. Kommentierung, § 70 EStG Rz. 8; Blümich/Heuermann, Einkommensteuergesetz, Loseblatt-Ausgabe, § 70 Rz. 30; Greite in Korn, Einkommensteuergesetz, Loseblatt-Ausgabe, § 67 Rz. 6; Nolde, Finanz-Rundschau —FR— 2000, 187; vgl. auch die Begründung des Entwurfs des Gesetzes zur Familienförderung, BTDrucks 14/1513, S. 16 f.)
Diese Weiterbewilligung des Kindergelds für die Zeit der Volljährigkeit war deshalb eine erstmalige Festsetzung für diesen Zeitraum. Der Erteilung eines Bescheids bedurfte es nicht, weil dem mit der Einreichung der Ausbildungsbescheinigung konkludent gestellten Kindergeldantrag entsprochen wurde (§ 70 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG).
bb) Nicht zu folgen vermag der Senat der Auffassung des FG, der Beklagte habe seine Ermittlungspflichten dadurch verletzt, dass er seiner Entscheidung, Kindergeld auch ab Februar weiter zu bewilligen, die tatsächlichen Angaben in der Ausbildungsbescheinigung zugrunde gelegt hat. Entgegen der Auffassung des FG musste sich dem Beklagten nicht aufdrängen, dass zweifelhaft war, ob diese Bescheinigung in Bezug auf den Anspruch auf Sonderzuwendungen im Jahr 1999 vollständig ausgefüllt war.
Soweit das FG solche Zweifel aus dem Umstand herleitet, dass der Sohn der Klägerin im öffentlichen Dienst beschäftigt war und dort üblicherweise Urlaubsgeld und Sonderzuwendungen gezahlt würden, überspannt es die Anforderungen an die Ermittlungspflichten. Eine Finanzbehörde muss einer eingereichten Erklärung oder Bescheinigung nicht mit Misstrauen begegnen, sondern kann grundsätzlich von der Vollständigkeit und Richtigkeit der gemachten Angaben ausgehen (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 173 AO 1977 Tz. 65, m.w.N. zur Rechtsprechung). Sie ist deshalb nicht verpflichtet, die vom FG geforderten Überlegungen anzustellen.
Soweit das FG ferner angenommen hat, Zweifel an der Richtigkeit dieser fehlenden Eintragung hätten auch deshalb bestanden, weil in der Bescheinigung ausgewiesen sei, dass dem Sohn der Klägerin ohne zeitliche Begrenzung als nicht laufend gezahlte Leistungen Urlaubsgeld und Zuwendung zustehe, treffen diese Feststellungen nicht zu.
Das Revisionsgericht ist zwar nach § 118 Abs. 2 FGO grundsätzlich an die tatsächlichen Feststellungen des FG gebunden. Das Revisionsgericht kann aber nachprüfen, ob der Inhalt einer Erklärung nach ihrem objektiven Gehalt eindeutig ist (Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 118 Rz. 24; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 118 FGO Rz. 125, 136; , Wertpapier-Mitteilungen/Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht —WM— 1981, 1171).
In der Ausbildungsbescheinigung vom , die das FG in seinem Urteil konkret angesprochen und deren Inhalt das FG daher im Wege der Bezugnahme festgestellt hat (Gräber/Ruban, a.a.O., § 118 Rz. 37), ist eindeutig und unmissverständlich ausgeführt, dass dem Sohn der Klägerin für 1999 keine Sonderzuwendungen zustehen:
In der auf einem amtlichen Vordruck abgegebenen Ausbildungsbescheinigung wird in Abschn. C, der sich auf zusätzliche, neben den monatlichen Ausbildungsvergütungen zu erbringende zusätzliche Leistungen wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld bezieht, auf dem vorgedruckten Text erläutert, dass die Angaben für die gesamte Ausbildungsdauer zu machen sind. Bei Angabe zur Höhe künftiger Leistungen sind die nach derzeit geltendem Tarif geltenden Beträge anzugeben.
Wird dies —wie im Streitfall— durch Ankreuzen des Textfelds ”ja” bestätigt, ist nach der Art der Leistungen und den jeweiligen Beträgen im einzelnen Ausbildungsjahr gefragt. Hierzu ist in der Bescheinigung als Art der Leistungen Urlaubsgeld und Zuwendung angegeben und nachfolgend aber lediglich für die Jahre 1997 und 1998 der Betrag dieser zusätzlichen Leistungen bescheinigt. Hieraus folgt eindeutig und zweifelsfrei, dass nach dem Inhalt der Bescheinigung keine Ansprüche auf solche Sonderzuwendungen für das Jahr 1999 bestehen.
Da mithin der Beklagte seine Ermittlungspflicht nicht verletzt hat, kommt es nicht darauf an, ob ein Kindergeldberechtigter seiner Mitwirkungspflicht in vollem Umfang genügt, wenn er eine Ausbildungsbescheinigung ungeprüft an die Familienkasse weiterleitet.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2003 S. 1158
BFH/NV 2003 S. 1158 Nr. 9
QAAAA-71306