Gründe
Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) ist deutscher Staatsangehöriger. Er wohnt mit seiner Ehefrau und seinen beiden Kindern in Deutschland. Er arbeitet in Österreich und erhält vom zuständigen österreichischen Finanzamt (FA) für die beiden Kinder die sog. Familienbeihilfe. Er hatte zunächst keine Kinderabsetzbeträge erhalten, weil die österreichischen Behörden der Rechtsansicht waren, der Kinderabsetzbetrag sei keine Familienleistung i.S. von Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (VO Nr. 1408/71) des Rates vom über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften —ABlEG— 1971 Nr. L 149/2) i.d.F. der Verordnung (EG) Nr. 118/97 (VO Nr. 118/97) des Rates vom (ABlEG 1997 Nr. L 28/1).
Der Beklagte und Beschwerdeführer (Beklagter) lehnte den Antrag des Klägers auf Festsetzung eines Unterschiedsbetrages zwischen dem inländischen Kindergeld und der österreichischen Familienbeihilfe ab. Er vertrat die Auffassung, der österreichische Kinderabsetzbetrag sei eine Familienleistung i.S. von Art. 4 Abs. 1 Buchst. h VO Nr. 1408/71. Da bei Einbeziehung des Kinderabsetzbetrages —unstreitig— die insgesamt in Österreich gewährten Familienbeihilfen höher seien als das deutsche Kindergeld, sei ein Anspruch des Klägers auf einen Unterschiedsbetrag nicht gegeben.
Der Kläger verwies dagegen auf die ablehnende Haltung der österreichischen Behörden. Er erhob gegen den Ablehnungsbescheid des Beklagten Klage mit dem Begehren, ihm ab Februar 1999 Unterschiedsbeträge zwischen inländischem Kindergeld und österreichischer Familienbeihilfe zu gewähren.
Das Finanzgericht (FG) hat das Klageverfahren gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgesetzt bis zum Abschluss einer Verständigungsvereinbarung der deutschen und österreichischen Behörden bzw. bis zum Ergehen eines verbindlichen Schiedsspruchs über die Frage, ob der Kinderabsetzbetrag nach § 33 Abs. 4 Nr. 3a, 3c des Einkommensteuergesetzes 1988 der Republik Österreich einem in Österreich beschäftigten Arbeitnehmer unter Beachtung des Rechts der Europäischen Union auch für Kinder zusteht, die nicht in Österreich, aber in einem anderen Mitgliedsland der Europäischen Union leben. Es hat sich dabei auf Art. 11 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Soziale Sicherheit vom —im Folgenden: Sozialabkommen— (BGBl II 1998, 313, in Kraft getreten am , BGBl II 1998, 2544) gestützt.
Mit seiner dagegen eingelegten Beschwerde macht der Beklagte geltend, Art. 11 des Sozialabkommens sei nicht einschlägig, weil im Streitfall kein Streit über die Auslegung oder Anwendung dieses Abkommens bestehe. Streitig sei vielmehr allein, ob der österreichische Kinderabsetzbetrag eine Familienleistung i.S. von Art. 4 Abs. 1 Buchst. h VO Nr. 1408/71 sei, ob diese Leistung nach Art. 73 dieser Verordnung auch für außerhalb Österreichs wohnhafte Kinder zustehe und ob dem Kläger ggf. im Rahmen von Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/712 über die Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie ihre Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABlEG 1972 Nr. L 74/1), i.d.F. der VO Nr. 118/97 (ABlEG 1997 Nr. L 28/102) in Deutschland Unterschiedsbeträge zustehen. Die Entscheidung über diese Streitfragen obliege dem FG, das im Übrigen die Möglichkeit habe, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) nach Art. 234 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i.d.F. des Vertrages von Amsterdam vom —EGVtr— (ABlEG 1997 Nr. C 340/1; ABlEG 1999 Nr. L 114/56) einzuholen. Außerdem habe das österreichische Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen mit Schreiben vom erklärt, es habe seine Rechtsansicht in Bezug auf die europarechtliche Qualifikation des österreichischen Kinderabsetzbetrages geändert und u.a. auch im vorliegenden Verfahren werde für den Zeitraum ab Januar 2000 der Kinderabsetzbetrag nachgezahlt.
Das zuständige österreichische FA hat dem Kläger mit Bescheid vom für die Zeit von Januar 2000 bis Dezember 2002 Kinderabsetzbeträge für zwei Kinder gewährt.
Der Kläger hat daraufhin den Rechtsstreit teilweise, nämlich für die Zeit von Januar 2000 bis 2002, in der Hauptsache für erledigt erklärt und mitgeteilt, der Klageantrag werde für die Zeit von Februar 1999 bis einschließlich Dezember 1999 aufrechterhalten.
Der Beklagte hat erklärt, er sei nicht bereit, die Kosten zu tragen, da er mit seiner Rechtsauffassung obsiegt habe. Er sei jedoch mit einer Rücknahme der Klage einverstanden.
Die nach § 128 Abs. 1 FGO zulässige Beschwerde des Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Aussetzungsbeschlusses. Die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO liegen nicht vor.
1. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei. Ein solches Rechtsverhältnis liegt im Streitfall nicht vor. Dieser Auffassung steht Art. 11 des Sozialabkommens nicht entgegen.
Nach Art. 11 Abs. 1 des Sozialabkommens sollen Streitigkeiten zwischen den Vertragsstaaten über die Auslegung oder Anwendung dieses Abkommens, soweit möglich, durch die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten beigelegt und, wenn das nicht gelingt, nach Abs. 2 auf Verlangen eines Vertragsstaats einem Schiedsgericht unterbreitet werden.
a) Es ist bereits nicht ersichtlich, dass eine Streitigkeit ”zwischen den Vertragstaaten” selbst vorgelegen hat (vgl. zur Notwendigkeit eines Streites zwischen den Vertragsstaaten selbst das Urteil des Bundesozialgerichts —BSG— vom 12 RK 54/84, Betriebs-Berater —BB— 1986, 1440).
b) Aber auf jeden Fall hat der Beklagte zu Recht darauf hingewiesen, dass die Entscheidung darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf den Unterschiedsbetrag hat, nicht von einer Streitigkeit ”über die Auslegung oder Anwendung” des Sozialabkommens abhängt. Vielmehr ist für die Entscheidung über das Klagebegehren ausschlaggebend, ob der im streitigen Zeitraum in Deutschland wohnhafte und in Österreich nichtselbständig tätige Kläger einen Anspruch auf den österreichischen Kinderabsetzbetrag hat. Denn wird ein solcher Anspruch des Klägers auf den Kinderabsetzbetrag bejaht, sind —unstreitig— die insgesamt in Österreich gewährten Familienleistungen höher als das deutsche Kindergeld, so dass die Festsetzung eines Unterschiedsbetrages nicht in Betracht kommt.
Die Frage, ob dem Kläger ein Anspruch auf den österreichischen Kinderabsetzbetrag zusteht, hängt allein vom europäischen Gemeinschaftsrecht und nicht von den Regelungen des Sozialabkommens mit Österreich und damit nicht von der ”Auslegung oder Anwendung” dieses Sozialabkommens ab:
aa) Die vom Beklagten zitierten Vorschriften der VO Nr. 1408/71, aus denen sich ein Anspruch des Klägers entweder auf einen Unterschiedsbetrag oder auf den österreichischen Kinderabsetzbetrag ergibt, sind in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union unmittelbar geltendes Recht (vgl. Art. 249 Abs. 2 EGVtr). Ihre Gültigkeit ist nicht von (zusätzlichen) Vereinbarungen in zwischenstaatlichen Abkommen und damit auch nicht von der Auslegung des Sozialabkommens abhängig.
bb) Soweit die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 weiterhin Sozialabkommen miteinander schließen dürfen, hat dies ausdrücklich zur Voraussetzung, dass sie die Grundsätze und den Geist dieser Verordnung beachten. Dadurch, dass zwischenstaatliche Abkommen trotz der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts weiterhin zulässig sind, soll die Möglichkeit eröffnet werden, über die Verordnung hinausgehende Regelungen zu treffen, die aufgrund von Besonderheiten im Verhältnis zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten erforderlich sind (vgl. Steinmeyer in: Fuchs —Hrsg.—, Europäisches Sozialrecht, Art. 8 Rz. 1).
Im Streitfall hat kein Beteiligter geltend gemacht, dass sich ein Anspruch des Klägers auf den österreichischen Kinderabsetzbetrag nicht aus den Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts, sondern erst aus irgendwelchen darüber hinausgehenden Regelungen des Sozialabkommens ergebe. Dafür, dass Letzteres der Fall sein könnte, liegen auch keine Anhaltspunkte vor. Denn der Kläger fällt als in Deutschland wohnhafter und in Österreich beschäftigter Arbeitnehmer unstreitig in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung (vgl. Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 1408/71). Dass ausschließlich Streit über die Auslegung von Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts bestanden hat, folgt auch aus dem vom Beklagten vorgelegten Schreiben des österreichischen Bundesministeriums für Soziale Sicherheit und Generationen vom . Denn darin wird ausdrücklich erklärt, dass das federführend zuständige Bundesministerium für Finanzen in ”Bezug auf die europarechtliche Qualifikation des österreichischen Kinderabsetzbetrages” seine Rechtsansicht geändert habe.
cc) Darüber, ob eine bestimmte Leistung, die in einem Mitgliedstaat gewährt wird, eine Familienleistung i.S. des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h VO Nr. 1408/71 ist (vgl. dazu in den Rs. C-245/94 und C-312/94, EuGHE 1996, I-4895, Randnr. 17 und 18, m.w.N.; vom Rs. C-85/96, EuGHE 1998, I-2691 Randnr. 28) und der Gemeinschaftsbürger deshalb einen Rechtsanspruch auf sie hat, haben die zuständigen nationalen Gerichte, ggf. nach Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH gemäß Art. 234 EGVtr, zu entscheiden. Die beiden Vertragsstaaten des Sozialabkommens wären als Mitgliedstaaten der Europäischen Union weder berechtigt gewesen noch hat es in ihrer Absicht gelegen, für diese Fragen eine Zuständigkeit des in Art. 11 Abs. 2 des Sozialabkommens genannten Schiedsgerichts zu begründen und damit ggf. den EuGH als gesetzlichen Richter i.S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (vgl. dazu die Entscheidung des , BVerfGE 73, 339, 366) zu umgehen.
2. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen, da die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens in einem unselbständigen Zwischenverfahren ergeht (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs —BFH— vom VIII B 83/87, BFHE 154, 15, BStBl II 1988, 947; vom VII B 175/94, BFH/NV 1996, 180) und die Kosten eines solchen unselbständigen Nebenverfahrens eine Einheit mit den Kosten des Klageverfahrens bilden (vgl. , BFH/NV 1999, 1483, m.w.N.).
Auf die Möglichkeit, gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes von der Erhebung von Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren abzusehen, wird hingewiesen.
Fundstelle(n):
BFH/NV 2003 S. 497
BFH/NV 2003 S. 497 Nr. 4
DAAAA-71196