Strafvollstreckung: Sachliche und örtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer für Aussetzungswiderruf während der Organisationshaft
Gesetze: § 462a StPO
Gründe
I.
1Das Amtsgericht Osterode am Harz hat mit Urteil vom gegen den Verurteilten wegen versuchten Diebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung eine Freiheitsstrafe von neun Monaten verhängt, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzt hat. Mit Beschluss vom gleichen Tag hat es die Bewährungszeit auf vier Jahre festgesetzt.
2Am wurde der Angeklagte wegen neuer Straftaten in Untersuchungshaft genommen, die zunächst in der Justizvollzugsanstalt Braunschweig, später in der Justizvollzugsanstalt Rosdorf vollzogen wurde. Am ging beim Amtsgericht Osterode am Harz eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft Göttingen ein, durch die die erste von mehreren neuen Anklageschriften gegen den Verurteilten zum Landgericht Göttingen übermittelt wurde. Am verurteilte ihn das Landgericht Göttingen wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen schweren Bandendiebstahls, jeweils in mehreren Fällen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten. Ferner ordnete das Landgericht seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an. Von der Anordnung eines Vorwegvollzugs sah das Landgericht ab. Das Urteil ist seit dem rechtskräftig.
3Nachdem das Amtsgericht Osterode am Harz am eine Urteilsabschrift erhalten hatte, übersandte es am die Akten der Staatsanwaltschaft mit der Bitte um Antragstellung hinsichtlich eines Bewährungswiderrufs.
4Am wurde der Verurteilte zum Vollzug der Maßregel aus der Justizvollzugsanstalt Rosdorf in die Psychiatrische Klinik Lüneburg verlegt, nachdem er sich zuvor in der Zeit vom bis zum in Organisationshaft in der Justizvollzugsanstalt Rosdorf befunden hatte. Mit Verfügung vom , beim Landgericht Göttingen eingegangen am , beantragte die Staatsanwaltschaft Göttingen den Bewährungswiderruf. Nachdem die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen mit Verfügung vom ihre Zuständigkeit verneint hatte, wiederholte die Staatsanwaltschaft Göttingen ihren Antrag am gegenüber der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg.
5Mit Beschluss vom hat sich die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg für örtlich unzuständig erklärt, weil eine Befassung im Sinne des § 462a Abs. 1 StPO bereits dann vorliege, wenn Tatsachen aktenkundig seien, die eine Entscheidung notwendig machten. Dies sei am mit Eingang der Nachverurteilung beim Amtsgericht Osterode am Harz der Fall gewesen. Zu diesem Zeitpunkt habe sich der Verurteilte noch in der Justizvollzugsanstalt Rosdorf, also im Zuständigkeitsbereich des Landgerichts Göttingen befunden.
6Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen hält sich ebenfalls für unzuständig, weil sie erst mit Eingang des Widerrufsantrags vom und damit nach der Verlegung des Verurteilten nach Lüneburg konkret mit der Sache befasst gewesen sei. Sie hat die Sache mit Verfügung vom dem Bundesgerichtshof zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.
II.
71. Der Bundesgerichtshof ist entsprechend § 14 StPO als gemeinschaftliches oberes Gericht der Landgerichte Lüneburg und Göttingen für die Gerichtsstandsbestimmung zuständig.
82. Die nachträgliche Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung obliegt gemäß §§ 453, 462a Abs. 1 Satz 1 und 2, § 463 Abs. 1 StPO der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen.
9a) Die sachliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer war seit dem begründet, weil an diesem Tag aufgrund der Rechtskraft des die in der Justizvollzugsanstalt Rosdorf vollzogene Untersuchungshaft in Strafhaft überging (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschlüsse vom - 2 ARs 366/77, BGHSt 27, 302, 303; vom - 2 ARs 366/91, BGHSt 38, 63, 65; vom - 2 ARs 159/12, NStZ 2012, 652, 653; Meyer-Goßner/Schmitt; StPO, 60. Aufl., § 462a Rn. 6; SK-StPO/Paeffgen, 4. Aufl., § 462a Rn. 3).
10Der sachlichen Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer steht nicht entgegen, dass gegen den Verurteilten ab Rechtskraft der Nachverurteilung bis zu seiner Verlegung in den Maßregelvollzug am Organisationshaft vollstreckt wurde (Senat, Beschluss vom - 2 ARs 141/15, juris Rn. 4; , NStZ 2010, 295, 296; KK-StPO/Appl, 7. Aufl., StPO § 462a Rn. 9; aA Radtke/ Hohmann/Baier § 462a Rn. 6; BeckOK Strafvollzug Bund/Slawik, StPO § 462a Rn. 3). Denn die Organisationshaft ist zunächst schlichte Strafhaft (Pohlmann/ Jabel/Wolf, Strafvollstreckungsordnung, 9. Aufl., 2016 § 462a Rn. 17c). Bei der Organisationshaft, deren Dauer regelmäßig zunächst nicht feststeht, handelt es sich auch nicht um eine kurzfristige vorübergehende Aufnahme, die als solche nicht zuständigkeitsbegründend wirken kann (vgl. Senat, Beschluss vom - 2 ARs 5/16, StraFo 2017, 86). Die anerkannten Beispiele einer kurzfristigen vorübergehenden Aufnahme wie etwa die Verschubung, die Wahrnehmung eines Gerichtstermins oder eine ärztliche Untersuchung sind mit der typischerweise mehrere Wochen dauernden und hinsichtlich ihres Endes zunächst nicht fixierten Organisationshaft nicht vergleichbar (OLG Hamm, aaO, S. 296). Zudem ist - für die vergleichbare Frage der örtlichen Zuständigkeit - anerkannt, dass eine geplante spätere Verlegung nach dem Vollstreckungsplan (vgl. Senat, Beschlüsse vom - 2 ARs 5/16, aaO; vom - 2 ARs 366/91, BGHSt 38, 63, 65) eine bereits begründete Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer nicht beseitigt.
11Die Organisationshaft wurde in der Justizvollzugsanstalt Rosdorf in der Zeit vom bis zum und damit nicht nur vorübergehend vollstreckt.
12b) Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen war auch örtlich zuständig.
13Die örtliche Zuständigkeit einer Strafvollstreckungskammer für den Widerruf einer Bewährung bestimmt sich gemäß § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO danach, in welchem Bezirk die Anstalt liegt, in der sich der Verurteilte zu dem Zeitpunkt befindet oder zuletzt befand, zu dem eine erstmalige Befassung mit der konkreten Angelegenheit gegeben war (Senat, Beschlüsse vom - 2 ARs 62/17, aaO; vom - 2 ARs 302/06, NStZ-RR 2007, 94; KK-StPO/Appl, 7. Aufl., § 462a Rn. 16). Eine mit der ersten Befassung begründete örtliche Zuständigkeit wird durch später eingetretene Umstände nicht berührt (Senat, Beschlüsse vom - 2 ARs 62/17, aaO; vom - 2 ARs 174/81, BGHSt 30, 189; Appl aaO Rn. 21).
14(a) Befasst im Sinne von § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO ist ein Gericht mit der Sache schon dann, wenn Tatsachen aktenkundig werden, die den Widerruf der Strafaussetzung rechtfertigen können (st. Rspr.; Senat, Beschlüsse vom - 2 ARs 296/75, BGHSt 26, 214, 216; vom - 2 ARs 164/12, NStZ-RR 2012, 358). Dies war spätestens mit Eintritt der Rechtskraft der Verurteilung des Landgerichts Göttingen am der Fall. Denn ab diesem Zeitpunkt waren die den Widerruf begründenden Umstände dem Landgericht Göttingen und damit auch der dortigen Strafvollstreckungskammer bekannt. Unerheblich ist dabei, dass die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen tatsächlich erst durch die Antragstellung der Staatsanwaltschaft am und damit nach der Verlegung des Verurteilten in die Psychiatrische Klinik Lüneburg von dem Sachverhalt erfahren hat.
15(b) Darüber hinaus begründet auch die Befassung des für den Bewährungswiderruf ursprünglich zuständigen Amtsgerichts Osterode am Harz noch vor dem die örtliche Zuständigkeit der seit dem sachlich zuständigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen. Insofern bewirkt nämlich die Befassung eines Gerichts, das allgemein für die Entscheidung zuständig sein kann, die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer, in deren Bezirk die Justizvollzugsanstalt liegt (st. Rspr.; Senat, Beschlüsse vom - 2 ARs 105/87, BGHR StPO § 462a Abs. 1 Befasstsein 3; vom - 2 ARs 382/03 bei Becker, NStZ-RR 2005, 65, 69).
16(c) Die Verlegung des Verurteilten in die Psychiatrische Klinik in Lüneburg änderte an der Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen nichts. Ein Zuständigkeitswechsel von einer Strafvollstreckungskammer zu einer anderen tritt nicht ein, solange erstere noch nicht abschließend über eine Frage befunden hat, mit der sie befasst war, bevor der Verurteilte in eine zum Bezirk der anderen Strafvollstreckungskammer gehörenden Justizvollzugsanstalt aufgenommen wurde (st. Rspr.; Senat, Beschluss vom - 2 ARs 5/16, StraFo 2017, 86). Eine Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung ist bisher jedoch nicht erfolgt.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2017:131217B2ARS541.17.0
Fundstelle(n):
JAAAG-85371